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HELENA TRACHSEL, Leiterin Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich, nimmt Stellung
DIVERSITÄT ALS NEUE REALITÄT?
Helena Trachsel, Leiterin Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich, über «Gender Shift».
Das Geschlecht verliert an Bedeutung und bestimmt immer weniger den Verlauf von Biografien. Veränderte Rollenmuster und aufbrechende Geschlechterstereotype sorgen für einen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft hin zu einer neuen Kultur des Pluralismus. Wunschdenken oder Realität? Helena Trachsel, Leiterin Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich, nimmt Stellung.
«Gender Shift», ein Megatrend unserer Gesellschaft, umfasst den Wunsch, Geschlechterstereotype aufzubrechen. Davon sind wir allerdings weit entfernt. Studien1 besagen, dass die Rollenbilder seit COVID-19 wieder traditioneller wurden. Wahlfreiheit punkto Rollenteilung spielt eher im Segment der Gutverdienenden und Gutausgebildeten. «Dazu tragen Fehlanreize im Rechtssystem bei, welche die klassische Rollenteilung festigen: ein Sozialversicherungsrecht, das auf einem 100%-Ernährerlohn aufbaut und Teilzeitarbeitende benachteiligt; ein Steuersystem, das verheiratete Paare gegenüber Konkubinatspaaren ungleich behandelt», sagt Helena Trachsel, Leiterin Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich.
Auch bei den Arbeitgebenden findet der gewünschte Aufbruch Richtung flexibles Arbeiten auf allen Hierarchiestufen noch zu wenig statt. Zu bedenken gilt es, dass sich im Niedriglohnbereich Männer wie Frauen Teilzeitarbeit nicht leisten können. Hinzu kommt, dass wir hierzulande zwar einen grossen Reichtum an Diversität erleben, diesem aber zahlreiche kulturelle Unterschiede innewohnen, welche die traditionelle Rolle der Frau noch stärker betonen, als wir es in der Schweiz ohnehin noch immer tun. Von der erträumten Zukunft mit Lebenspartnern, die stärker an der unbezahlten Betreuungsarbeit partizipieren oder in Teilzeit eine Karriere verfolgen können, sind wir weit entfernt.
Raus aus der Komfortzone, organisiert einen Männer-
streik. Trotz Namensrecht, Gleichstellungsgesetz und einem Zusatzgesetz für Lohnanalysen gibt es zu wenig Frauen, die sich für ihre Rechte wehren und kaum Männer, die sich für mehr als nur den einen klassischen Papitag einsetzen. «Es braucht die Anpassung der Rahmenbedingungen, und es braucht den Wandel bei jeder einzelnen Person. Eine breit engagierte und sichtbare Bewegung zur Einführung der Elternzeit würde uns alle weiterbringen», sagt Helena Trachsel. Der aktuelle Vaterschaftsurlaub ist nett, genügt aber bei Weitem nicht. Die Schweiz ist ein traditionelles, bürgerliches Land ‒ mit Vorteilen, Sicherheiten und Privilegien. Verbreitete Befürchtungen, etwas zu verlieren, machen uns blind für neue Möglichkeiten und Chancen. Der Bericht der Schweiz zum «Global Media Monitoring Project» (equality.ch) bestätigt, dass Frauen in den Medien noch immer vermehrt in klassischen Tätigkeiten dargestellt werden und nicht als Wissenschaftlerinnen oder CEOs. Solange Frauen in schlecht bezahlten Branchen arbeiten, können sie den höheren Lohn des Partners nicht wettmachen und verharren deshalb in der herkömmlichen Rolle. Aber natürlich: Agil bleiben, die Existenz sichern, eine Karriere verfolgen, Kinder bekommen, die Betreuung organisieren, Schuldgefühle bewältigen, dem auch medial transportierten Idealbild einer Frau und Mutter kritisch widerstehen können: Das alles braucht Mut und ein gesundes Selbstwertgefühl.

«Be loud», sagte Mona Vetsch am Swonet Business Network Day, bei dem sich Frauenorganisationen gegenseitig unterstützen (swonet.ch): «Fass dir ein Herz, stehe hin und stehe für dich ein.» Für die nachkommende Generation von Frauen ist eine Offenheit gegenüber Berufen, die gesucht sind und eine gute Laufbahn ermöglichen, entscheidend. Auch in handwerklichen Berufen müssen Frauen Führungspositionen ins Auge fassen, um in die Rolle der Gestaltenden zu gelangen. Neugierde, Wagemut, Experimentierfreude und Ermächtigungsstrategien sind dabei zentral.
Es geht um Menschen und um die Inklusion aller. Mit Blick in die Zukunft müssen wir die Binarität zwischen Mann und Frau schnell überwinden. Wir arbeiten heute gemeinsam an der Inklusion von LGBTIQ*-Personen. Dabei zeigen sich gerade junge Menschen als enorm fortschrittlich. «Wer bin ich, was ist meine Identität?» Wenn wir offen sind, stellen wir uns regelmässig diesen herausfordernden Identitätsfragen, unabhängig unserer herkömmlichen Rollen. Die angesprochene Diversität in unserem Land ist ein wichtiges Gut, wenn wir die Inklusion unterschiedlicher Menschen mit ihren Kompetenzen schaffen ‒ auf allen Ebenen: Wie leben wir Pluralismus? Wie partizipieren junge Menschen am gesellschaftlichen und politischen Leben? Wie nehmen ältere Menschen mit langjähriger Erfahrung länger am wirtschaftlichen Leben teil? Wie bringen wir die Inklusion der Nationalitäten voran? Wie verhindern wir Frauen-(Alters)armut? Wie vermeiden wir das Auseinanderdriften der bildungsfernen und gut ausgebildeten Bevölkerung? Diese Fragen gehen uns alle an. Als einzelne Individuen und als Gemeinschaft, die miteinander die Zukunft gestalten muss.
Aufgezeichnet von SABINA ERNI, Leiterin Beruf und Innovation, Kaufmännischer Verband Zürich
1 René Levy, emeritierter Professor für Soziologie, Universität Lausanne, Alt-68er, Studie «Wie sich Paare beim Elternwerden retraditionalisieren, und das gegen ihre eigenen Ideale».