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Eine gesunde Kultur schaffen

Willow-Serie, Teil 3: Executive Pastor Tim Stevens über die aktuellen Entwicklungen der Willow Creek Community Church

Im Jahr 2019 besuchte ich im Rahmen meiner Beratungstätigkeit jede Woche Gemeinden in den USA. Ich nahm an Teamsitzungen teil, traf mich mit den

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Hauptamtlichen und lernte die Kultur der jeweiligen Gemeinde gut kennen. Dabei traf ich innerhalb einer Woche auf zwei

Gemeinden, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Eine dieser Gemeinden war The Bridge Church in der Nähe von

Nashville. Jede Begegnung war inspirierend: Die Mitarbeitenden waren engagiert bei der Sache, man spürte ihnen ab, dass sie ihre Gemeinde lieben – und zwar nicht nur auf der Leitungsebene, sondern bei allen. Sie wussten, wofür sie da sind, hatten die Vision ihrer Gemeinde verstanden, lebten die vereinbarten Werte, die Chemie in den Teams war ansteckend ... Einige Tage später war ich in einer

Gemeinde in Südkalifornien. Schon beim

Betreten des Gemeindezentrums spürte ich den Unterschied: Es lag eine Spannung in der Luft. Nach nur wenigen Minuten hörte ich von Streit, Vorwürfen und Manipulation. Der Pastor ließ sich eine Viertelstunde über einen Mitarbeiter aus, dem er eine negative Arbeitseinstellung und mangelndes Engagement vorhielt. Hier stand nicht die Arbeit an einer gemeinsamen

Vision im Vordergrund, im Gegenteil: Jeder schaute auf sich und die eigenen Interessen.

Ich ging durch die Büros, und alle blickten verlegen nach unten – nach dem Motto:

Bloß nicht auffallen!

Die Beispiele machen deutlich, welche

Bedeutung die Gemeindekultur hat: Wenn die Kultur negativ oder gar toxisch ist, werden auch die talentiertesten Mitarbeitenden über kurz oder lang aufgeben.

Bemüht man sich aber um eine attraktive

Kultur, kann selbst ein mäßig begabtes

Team viel erreichen, wenn seine Mitglieder

Jesus und die Gemeinde lieben.

Was ist Kultur?

Die Autorin Jenni Catron sagt: »Kultur zeigt wer wir sind und wie wir an der Erfüllung unseres gemeinsamen Auftrags arbeiten.« Ich würde hinzufügen: »Eine gute Kultur zeichnet sich aus durch ein engagiertes Team, das sich auf gemeinsame Werte verständigt hat und diese lebt.« Das führt u.a. dazu, dass ...

◼ sich Spannungen im Miteinander verringern und keine unnötige Energie rauben ◼ Mitarbeitende Raum zur Entfaltung erhalten ◼ die Erfüllung des Auftrags einfacher und wirkungsvoller ist Auf blauen (für Gemeindemitglieder) und weißen Würfeln (für leitende Mitarbeitende) hat die Willow-Gemeinde ihre Werte formuliert. Ausführlich sind sie in diesem Artikel auf Seite 26 genannt.

◼ die Gemeinde wächst, wenn Mitarbeitende ihre Liebe zur Gemeinde explizit äußern

Meine Anfänge bei Willow

Als ich im April 2020 meinen Dienst in der Willow Creek-Gemeinde antrat, bat ich die leitenden Mitarbeitenden, mir die Kultur von Willow zu beschreiben. Sie fragten zurück: »Welche Kultur?« Ich dachte, dass sie die Frage vielleicht nicht richtig verstanden hätten, aber bald merkte ich, dass ihre Rückfrage durchaus berechtigt war. Willow hatte nicht die eine Kultur, sondern viele verschiedene. Nach der Leitungskrise 2018 waren die Teams an den verschiedenen Gemeindestandorten sehr isoliert. Einige hatten eine starke Kultur, bei anderen herrschten ungesunde Zustände, geprägt von Misstrauen und Einzelkämpfertum. Nur wenige verfolgten noch dem gemeinsamen Auftrag, einige hatten gar ihr eigenes Leitbild entwickelt. Wir waren eher ein loser Zusammenschluss von Gemeinden, als dass uns ein gemeinsames Vorangehen Kraft gegeben hätte. Im ersten Jahr unter der Führung von Dave Dummitt als neuem Leitenden Pastor lag der Schwerpunkt auf Teambuilding. Uns war klar, dass wir die Kultur wohl nicht von innen heraus verändern konnten. Also arbeiteten wir in diesem Prozess mit Leitungspersonen aus US-Gemeinden, die für ihre gesunde Kultur bekannt sind, und »importierten« deren gesunde Strukturen. Wir sprachen über Mechanismen gesunder Teams und sagten zu den Mitarbeitenden: Stellt euch einmal bildlich vor, wie unser Zusammenleben aussieht, wenn ...

◼ herausragende Mitarbeitende Schlange stehen, um bei Willow arbeiten zu können ◼ wir einander vertrauen und stets vom

Besten ausgehen ◼ wir hart arbeiten und dabei der Spaß nicht zu kurz kommt ◼ unsere Arbeitsplätze durch eine ansprechende Gestaltung unsere Kultur widerspiegeln

Das Kulturteam

Im März 2021 begannen wir, Auftrag und Vision der Gemeinde neu zu formulieren. Gleichzeitig arbeitete ein Team an den Werten für unsere Hauptamtlichen. Wir wollten Verhaltensweisen festlegen, die uns ausmachen. Wir nannten diese Gruppe das »Kulturteam«. Es bestand aus 14 Männern und Frauen aus allen Gemeindestandorten, aus jungen und alten Menschen, aus neuen und langjährigen Gemeindemitgliedern. Wir nahmen uns mehrere Monate Zeit, um unsere Werte zu entdecken und zu benennen.

Als Gemeinde geht es uns darum ...

◼ Jesus nachzufolgen: Völlige

Abhängigkeit von ihm ◼ Menschen zu lieben: Jeder Mensch ist Gott wichtig ◼ Nächste Schritte zu wagen: Ein lebenslanger Prozess ◼ Uns zu verjüngen: Die nächste

Generation mit hineinnehmen ◼ Authentisch zu sein: Wir bringen uns ganzes Selbst ein

Als Leitende ...

◼ Gehen wir vom Besten aus:

Vertrauen ist Standard ◼ Verpflichten wir uns zu Aufrichtigkeit: Freundlichkeit ist unsere Art ◼ Nehmen wir Herausforderungen an: Mut ist unser Kennzeichen ◼ Setzen wir einen guten Umgangston: Freude ist unsere Grundhaltung ◼ Entscheiden wir uns für Einheit:

Vielfalt ist unsere Stärke

Die ausführlichen Werte: www.willowcreek.de/werte

Einige Experten sagen, Werte sollten nicht ausdrücken, was man sein möchte, sondern widerspiegeln, was man ist. Ich würde entgegnen: Wenn du eine Kultur verändern möchtest, musst du die Werte benennen, nach denen du strebst. Zum Beispiel war damals einer unserer (gelebten) Werte: »Wir vertrauen einander nicht.« Grund dafür war die Erfahrung, dass einige Personen, denen wir vertraut hatten, uns enttäuscht haben. Wir brauchten also einen erstrebenswerten Wert: »Gehe immer vom Besten aus Vertrauen ist unsere Grundhaltung.« Wir mussten uns bewusst auf diesen neuen Wert verständigen und ihn über bestimmte Praktiken einüben, bis wir ihn verinnerlicht hatten.

Träumen wieder erlaubt

Wir fingen wieder an zu träumen. Dabei ging es nicht darum, wer wir sind, sondern darum, wer wir sein wollen. Wir baten Mitarbeitende und Teams, folgende Fragen zu beantworten:

◼ Was waren die schönsten Momente, die du als Mitarbeitender bei Willow erlebt hast? ◼ Wie müsste das Arbeitsumfeld bei Willow aussehen, damit du als Angestellter hier den Rest deines Arbeitslebens verbringen möchtest? Allmählich entstand das Bild eines positiven Arbeitsumfelds. Das war kein Prozess, bei der die Gemeindeleitung von oben herab den Angestellten und Ehrenamtlichen ihre Lieblingswerte aufdrückte. Lediglich ein Pastor war involviert. Wir wollten die Gedanken der Basis hören, um eine weitreichende Akzeptanz zu erreichen. Im vergangenen September hatten sich dann zehn Werte herauskristallisiert. Fünf davon bezogen sich auf die ganze Gemeinde: Was ist wichtig für den Umgang mit Gästen, aber auch mit langjährigen Mitgliedern und Mitarbeitenden? Die anderen fünf Werte beziehen sich auf leitende Mitarbeitende und beschreiben, was wir von jemandem erwarten, der bei Willow Menschen leitet.

Kein Zuckerschlecken

Werte definieren ist der erste Schritt. Danach kommt der schwierige Teil: sie in der Kultur zu verankern. Das wird den größten Teil dieses und des nächsten Jahres in Anspruch nehmen. Dazu gehört u.a.:

◼ Wir brauchen Bewertungsmethoden, die anzeigen, an welchen Werten wir weiterarbeiten müssen und bei welchen wir Fortschritte machen. ◼ Künftige Angestellte müssen die Werte bereits leben, bevor sie eingestellt werden. ◼ Die Werte müssen Grundlage jeder

Entscheidung sein. ◼ Wenn Mitarbeitende die Werte leben, gilt es dies immer wieder zu feiern.

Noch ist der Prozess nicht abgeschlossen. Es wird wohl etwa drei Jahre dauern, bis wir ehrlich sagen können, dass wir wieder gesunde Teams haben. Aber wir arbeiten weiter daran, wieder eine lebendige Gemeinde zu werden. Und sind überzeugt: Unsere beste Zeit kommt noch!

TIM STEVENS ist Executive Pastor of Campuses in der Willow Creek Community Church.

ÜBERSETZUNG: Antje Gerner

willowcreek.org