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ERWARTUNGEN, VON DER REALITÄT ÜBERTROFFEN
Aus den Erinnerungen des Komponisten
An einem Juli-Abend des Jahres 1888 blieb ich länger als sonst in der Philharmonie. Schließlich verließ ich das Haus für meinen gewohnten Spaziergang und ging zu meinem Barbier, der auch Zeitungen verkaufte. Das Blatt, das ich bevorzugte, war Corriere della Sera, aber aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, war es diesmal nicht erhältlich. »Heute Abend musst du dich mit dem Secolo zufriedengeben«, meinte mein ZeitungsBarbier – und mit dieser Zeitung in der Tasche ging ich nach Hause. Daheim angekommen schlug ich das Blatt auf: »Gütiger Himmel!«, entkam es mir. »Vielleicht hat sich das Schicksal diesmal entschlossen, uns zu helfen! Das Teatro Illustrato hat einen Wettbewerb für eine einaktige Oper ausgeschrieben und ich möchte mitmachen! Ich habe das Thema, Cavalleria rusticana, ich habe sogar Vergas Erlaubnis, den Stoff in Musik zu setzen.«
Im Jänner 1888 war ich in Neapel, um Puccini zu treffen, der Le Villi am Teatro San Carlo gab. Er meinte: »Denkst du immer noch an Ratcliff? [ein Opernprojekt Mascagnis, das er erst später abschloss] Hör mir zu: Das kann nie deine erste Oper werden; versuch dir zuerst ein bisschen einen Namen zu machen und opfere einen Teil deiner Ideale. Und später kannst du dich dann durchsetzen.« Folglich hatte der Gedanke, statt Ratcliff eine andere Oper zu schreiben, in mir Wurzeln geschlagen; aber ich wartete noch auf eine günstige Gelegenheit. Nun war sie da: der Wettbewerb von Sonzogno. Ich machte mich auf die Suche nach einem guten Librettisten, doch fand ich keinen; wobei: Ich fand so viele ich wollte, aber sie alle fragten nach Geld. Das hatte ich nicht und konnte es also nicht anbieten.
Da fuhr ich nach Livorno, um meinen Freund Giovanni Targioni-Tozzetti zu treffen, einen früheren Schulkollegen. Zu dieser Zeit wurde in Bologna am Teatro Comunale Tristan und Isolde unter Giuseppe Martucci gegeben. Also machte ich einen Zwischenstopp in Bologna, um die Aufführung, die mich sehr beeindruckte, zu erleben.
Sobald ich in Livorno ankam traf ich Targioni: »Kannst du mir ein Libretto schreiben?«
»Aber ich habe ja noch nie eines geschrieben!«
»Was macht das schon? Du bist ein Dichter und ich werde dir das Thema geben: Cavalleria rusticana!«
»Ah! Das wurde in Livorno gegeben. Ein großer Erfolg. Wunderbare Idee!«
»Ich sag’s dir gleich dass ich gerne sehr nahe am Original bleiben möchte … aber ich würde gerne ein paar lyrische Passagen hinzufügen, um ein bisschen Musik schreiben zu können, da das Drama alleingenommen keine Musik zulässt, einen Eingangschor, ein Trinklied anlässlich des Ostertages etc. Die anderen lyrischen Stellen kommen ganz von selbst, zum Beispiel, wenn der Tenor abgeht, um zu sterben, da kann man die Worte, die Verga verwendet hat, etwas erweitern …«
Ich wartete vergeblich auf das Libretto und schrieb oft an Targioni, um ihn zu erinnern. Während ich wartete, dachte ich mehr an das Finale als an etwas anderes. Ich hörte dieses »Hanno ammazzato compare Turiddu« in meinen Ohren, aber ich fand keine Phrase und abschließende orchestrale Harmonien, die einen starken Effekt machen würden. Doch dann passierte es, dass mir das Finale plötzlich einfiel, wie ein Blitz, eines Morgens auf der Hauptstraße von Canosa während ich unterwegs war, um eine Stunde zu geben. So begann ich meine Oper mit dem Ende.
Und dann kamen, auf Postkarten, die sehnlich erwarteten Verse an. Ich hatte kaum noch 50 Tage. Also! Als ich die Verse des Eröffnungschores bekam (an die Siciliana im Vorspiel dachte ich erst später), sagte ich zufrieden zu meiner Frau: »Heute müssen wir eine große Ausgabe machen.«
»Und zwar?«
»Einen Wecker.«
»Wofür?«
»Um morgen ganz früh mit der Kompositionen von Cavalleria rusticana zu beginnen.«
Ich stellte den Wecker bevor ich zu Bett ging, aber ich brauchte ihn diesmal nicht, da in der Nacht (es war der 3. Februar 1889), genau um drei Uhr, die zweite Mimì geboren wurde, mein kleiner Engel, das erste meiner Kinder. Nichtsdestotrotz blieb ich beim Versprechen, das ich mir gegeben hatte und begann am Morgen den Eröffnungschor der Cavalleria zu schreiben. Ich erhielt die Verse Stück für Stück, aber ich hatte die Situationen immer schon in meinem Kopf. Ich hatte mich so stark mit dem Drama identifiziert, dass ich es als Musik in mir spürte. Ich mochte die Verse und begann sie sofort zu vertonen; ohne Klavier, da ich damals keines hatte. Aber wenn ich Klavierstunden bei meinen Schülerinnen gab und auf die jungen Damen warten musste, probierte ich aus, was ich erdacht hatte.
Aber ich fand etwas im Libretto, das ich nicht mochte: ein stornello [ein improvisiertes Lied]. »Aber stornelli sind toskanisch, nicht sizilianisch!« Später fand ich den Grund für das stornello heraus: Turiddu war Soldat auf dem Kontinent, nicht auf der Insel. Zurück in Sizilien gab er vor allen Frauen an, eine Virginia rauchend und sich für etwas Besseres haltend, weil er in Mailand gewesen war. Daher war es auch möglich, dass er seiner Geliebten Lola dieses toskanische stornello beigebracht hatte. *
Schließlich kam der Tag der Uraufführung, der 17. Mai. Wer nicht im Teatro Costanzi gewesen ist, kann sich nicht vorstellen, was damals stattgefunden hat – ein unvergesslicher Abend im Leben eines Künstlers! Hier versagt mein Gedächtnis. Jede Erinnerung wird durch die Gefühle verwischt, die mich die ganze Aufführung lang nicht verließen. Ein paar verhangene Momente: Königin Margherita, diese besondere Seele, in ihrer Proszeniumsloge; Maestro Leopoldo Mugnone [der Dirigent der Uraufführung], dieses große antreibende Herz dieser wundersamen Aufführung; die angesehenen Musiker, die Cavalleria bewertet hatten; der donnernde Applaus beim Erklingen der Orgel im Intermezzo, diese Orgel, deren mächtiger Klang der wahre Grund für den großen Erfolg war. Sgambati sagte zu mir: »Die Königin wird erwartet. Das Vorspiel muss wiederholt werden, da wir unterbrechen müssen, wenn sie kommt« (zu dieser Zeit wurden Vorstellungen unterbrochen, sobald der König oder die Königin ankamen). Und so war es auch. Der arme Roberto Stagno [der Turiddu der Premiere] musste seine Siciliana unterbrechen und Mugnone musste noch einmal von ganz vorne anfangen. Ich erlebte meine Musik wie ich sie gehört hatte, als die Gottheit sie mir diktiert hatte, ohne zu wissen, ob ich noch am Leben war oder ob ich in einem Traum lebte, der jenen Traum realisierte, in dem die Musik aus meiner Seele kam – denn die Vorstellung, die ich hörte, war exakt der Ausdruck meiner Gefühle. Ich glaube mich erinnern zu können, dass ich die ganze Aufführung lang meine Hände auf meinen Kopf und mein Herz presste, aus Angst, sie könnten verloren gehen und auf meinen Lippen hatte ich ohne Unterbrechung ein Gebet zum Allmächtigen, mich nicht wahnsinnig werden zu lassen.
Niemand hätte einen solchen Erfolg erwartet. Das Publikum war wie verrückt. Alle meine Hoffnungen, alle meine Erwartungen wurden von der Realität übertroffen. Ich wurde sechzigmal vor den Vorhang gerufen. Als ich mich im Rampenlicht vor dem frenetischen Publikum zeigte, glaubte ich zu träumen. Ich kam und ging wie ein Automat; auf einmal löste sich der Knoten in meiner Kehle und ich begann wie ein Kind zu weinen. Ich fühlte all die Freude, dass ich nun meiner Frau, meinen Kindern und meinem Vater ein komfortables Leben bieten konnte … ich sah alles in einem neuen Licht … an all das dachte ich, während das Publikum applaudierte … applaudierte …