
6 minute read
Blickpunkt: György Ligeti
Er war ein Neuerer mit kritischem Blick auf die Avantgarde, ein Meister von Humor und Ironie, voll von wissenschaftlichem Interesse und kindlicher Entdeckerfreude: Das Wiener Konzerthaus feiert György Ligeti zum Hunderter.
VON WALTER WEIDRINGER
Wer es erlebt hat, wird es nie vergessen: das verschmitzte Grinsen des Komponisten, mit dem er, krank, gebrechlich und doch hellwach, vom Rollstuhl aus die Standing Ovations des Publikums entgegen nahm. Das war im Wiener Konzerthaus, bei Wien Modern 2003, als ihm zum Achtziger ein Schwerpunkt des Festivals gewidmet war. Zweieinhalb Jahre später, am 26. Juni 2006, 14 Tage nach György Ligetis Tod, musste man sich im Mozart-Saal zu einem Gedenkkonzert für das verstorbene Ehrenmitglied der Konzerthausgesellschaft einfinden. Auf dem Programm standen emblematische Werke dieses großen, im besten Sinne eigenwilligen Komponisten, die man schon mehrfach gehört hatte, halbwegs gut zu kennen glaubte – und die nun ganz plötzlich, konkret und ausdrücklich vor allem mit Abschied und Tod zu tun zu haben schienen. »Lux aeterna« mit dem Arnold Schoenberg Chor zum Beispiel: dieses 16-stimmige, mikropolyphone Stück, gebildet aus lauter diatonischen Kanons, die sich zu einem so dichten Gewebe verbinden, dass die Einzelstimmen in einem gemeinsamen Fließen und Schweben aufgehen. Außerdem einige der grandios-virtuosen Études für Klavier, gespielt von Pierre-Laurent Aimard, ohne den dieses pianistische Spätwerk niemals entstanden wäre: erstaunliche Musik, die das im 20. Jahrhundert bereits klanglich abgenutzte und deshalb durch Präparationen zugerichtete Instrument im Rahmen der Moderne zu einer Neuentdeckung werden ließ. Und schließlich das einzigartige »Poème symphonique« für 100 Metronome: eine fesselnde Erkundung des Zufalls, die von undurchdringlichem Knattern über wechselnde, immer weiter ausdünnende rhythmische Muster schließlich in einem einzigen Pulsieren kulminiert, das irgendwann verstummt.
Sein wacher Blick und sein scharfes Ohr kamen von außen: So konnte György Ligeti die langsam zum Selbstzweck verkommenden Prinzipien der Avantgarde neutral beobachten – um sie auszuhebeln und lustvoll durcheinanderzuwirbeln. Zeitgleich mit Friedrich Cerha hat er um 1960 die ausgetüftelten Ordnungsschemata der Neuen Musik über Bord geworfen und bis ins Kleinste belebte Klangflächen geschaffen. Auch später hat Ligeti immer wieder nach draußen gelauscht, hat sich dort neu inspirieren lassen, wo die anderen einfach nicht hingehört haben oder schlicht nicht wussten, dass es da etwas Famoses zu vernehmen gab: bei Conlon Nancarrow und seinen Selbstspielklavieren etwa, bei schwarzafrikanischer Musik und ihren rhythmischen Mustern aus einander überkreuzenden Stimmen, in der Teiltonreihe. Vor allem aber besaß Ligeti Humor: Der war schon für seine Biografie unerlässlich – als Überlebensstrategie. Geboren 1923 im siebenbürgischen Dicsőszentmárton (rumänisch Târnăveni, deutsch Sankt Martin) als Kind einer jüdischen Familie, empfand sich György Ligeti als Ungar – und als doppelt geschädigt: zuerst durch den Nationalsozialismus, denn Vater und Bruder wurden in KZs ermordet, dann durch den Kommunismus. Hinter dem Eisernen Vorhang war er zwar bald als Komponist, Lehrer und Volksmusikforscher tätig – nicht zuletzt durch das Erlebnis der Musik Bartóks.
Aber es war ihm offiziell nur in den engen Grenzen erlaubt, welche die Doktrin des »Sozialistischen Realismus« zuließ. Trotzdem brach sich Ligetis musikalische Kreativität unweigerlich Bahn. Schon um das Jahr 1950 habe er, wie er im Rückblick schrieb, »die ersten Vorstellungen einer statischen, in sich ruhenden Musik [gehegt], die keine Entwicklung und keine überlieferten rhythmischen Gestalten kennt«: Vorboten jener »Klangflächenmusik«, die er dann, wie schon erwähnt, zeitgleich mit Friedrich Cerha (»Spiegel«) um das Jahr 1960 entwickeln sollte. Doch erst der ungarische Volksaufstand 1956 brachte die entscheidende Wende: »Von einem Tag auf den anderen wurden Kontakte mit dem Ausland möglich; Noten, Schallplatten, Informationen über neue musikalische Ideen und Veränderungen kamen nach Ungarn«, erinnerte sich Ligeti: »Wie ungeheuer schnell das alles geschah, ist kaum zu schildern. Der Vorgang ähnelte dem Einströmen von Luft in ein plötzlich geöffnetes Vakuum.« Als die Rote Armee den Aufstand schon nach wenigen Wochen blutig niederwalzte, flohen der Komponist und seine (damals vorübergehend von ihm geschiedene) Frau, die spätere Psychoanalytikerin Vera Spitz, über die grüne Grenze nach Österreich – so wie 200.000 ihrer Landsleute auch. Im Westen kam Ligeti rasch in Kontakt mit den führenden Kollegen – und trat, »ein Außenseiter, ein Neuling, ein Emigrant«, wie die Musikwissenschaftlerin Monika Lichtenfeld pointiert feststellte, »mit soviel Selbstbewußtsein wie Entdeckerfreude und Risikobereitschaft (an), die etablierte Avantgarde das Staunen zu lehren«.
Dabei ist es zeit seines Lebens geblieben. Und zum Staunen wird auch das Publikum im Konzerthaus genügend Anlass finden, wenn György Ligetis abenteuerliche, verblüffende, faszinierende Musik in den nächsten Wochen und Monaten sich durch Zyklen und Säle ziehen wird. Der Bogen spannt sich von den großen Klangflächen-Klassikern wie »Atmosphères« und »Lontano«, die Regisseur Stanley Kubrick in verschiedenen Filmen eingesetzt hat, über das Cellokonzert bis hin zum »Hamburgischen Konzert« für Horn und Orchester; von der »Musica ricercata« bis zu den fünfzig Jahre später abgeschlossenen KlavierÉtudes; von Volksliedbearbeitungen für Chor bis hin zu »Lux aeterna«; vom volkstümlich-hintersinnigen »Concert românesc« bis zu »Volumina«, jenem Orgelstück, das die ehrwürdige »Königin der Instrumente« schon mit dem ersten Akkord in die Luft zu jagen versucht. Überall hat sich Ligeti eine kindliche Entdeckerfreude und zugleich eine musikalische Fabulierlust bewahrt, die hundert Jahre nach seiner Geburt nicht weniger Vergnügen bereitet und die Ohren öffnet als im Moment ihrer Entstehung.

György Ligeti
© Christof Krumpel
:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::
Fr, 14/04/23, 19.30 Uhr · Großer Saal: RSO Wien, Johannes Hinterholzer Horn, Markus Poschner Dirigent
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60080
Sa, 15/04/23, 19.30 Uhr & So, 16/04/23, 11.00 Uhr · Großer Saal: Wiener Symphoniker, Gabriela Montero Klavier, Pablo Heras-Casado Dirigent
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60082
Fr, 21/04/23, 19.30 Uhr · Berio-Saal: œnm . oesterreichisches ensemble fuer neue musik
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60104
Mi, 26/04/23, 19.30 Uhr · Großer Saal: Orchestre Philharmonique du Luxembourg, Martin Grubinger Multipercussion, Gustavo Gimeno Dirigent
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60114
So, 28/05/23, 11.00 Uhr & Mo, 29/05/23, 11.00 Uhr · Großer Saal: Wiener Philharmoniker, Lisa Batiashvili Violine, Philippe Jordan Dirigent
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60165
Mi, 31/05/23, 19.30 Uhr · Berio-Saal: PHACE »Nouvelles Aventures«, Lars Mlekusch Dirigent
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60170
Do, 01/06/23, 19.30 Uhr · Mozart-Saal: Kit Armstrong Klavier
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60174
Mo, 05/06/23, 19.30 Uhr · Schubert-Saal: Anton Gerzenberg Klavier
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60178
Mo, 12/06/23, 19.30 Uhr · Mozart-Saal: Company of Music, Albert Hosp Moderation, Johannes Hiemetsberger Leitung
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60186
Do, 15/06/23, 19.30 Uhr · Großer Saal: Iveta Apkalna Orgel
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60192
Fr, 16/06/23, 19.30 Uhr · Großer Saal: RSO Wien, Alisa Weilerstein Violoncello, Jakub Hrůša Dirigent
Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60193