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Jsabella Wyss: «Es wäre schön wenn's an jeder Ecke einen Kühlschrank hätte!»
Ein Kühlschrank des Projektes «Madame Frigo» beim Dorfhus: In ihrer Freizeit sorgt Jsabella Wyss dafür, dass der Kreislauf von Angebot und Nachfrage überschüssiger, aber einwandfreier Lebensmittel klappt.
Jsabella Wyss ist die «Madame Frigo» von Spiez: Für die gleichnamige Organisation gegen Foodwaste betreut sie einen Kühlschrank für überschüssige, aber intakte Lebensmittel.
Vom Bahnhof her spaziere ich an diesem heissen Junimorgen über die Niesenbrücke, die Hondrichstrasse hoch, um kurz nach der langgezogenen Rechtskurve links in den schmalen Leimernweg abzubiegen. Eine Baustelle für zwei Mehrfamilienhäuser auf einer bis vor kurzem leeren Parzelle beweist, dass Spiez sich baulich weiter nach innen entwickelt. An den Neubauten und einem verträumten Chalet vorbei erreiche ich über einen kurzen Feldweg ein idyllisch wirkendes, älteres Zweifamilienhaus. Kleine Rasenflächen, Blumen- und Gemüsebeete ringsum, Tomatenstauden an der Wand; ein roter Hauskater beäugt mich von der Brüstung eines mit Netzen umspannten Balkons im Hochparterre. Jsabella Wyss, eine kleine, munter wirkende Frau, öffnet die Haupttür, führt mich in ihre sonnige Wohnung. Kaum sitzen wir am Küchentisch, eilt der Kater vom Balkon herein – und setzt sich nach kurzem Schnuppergruss heftig schnurrend auf meine Knie. «Da kannst du dich aber ‹von› nennen, das macht er sonst nicht bei Fremden!», lacht Jsabella.
Jsabella Wyss, sprechen wir doch gleich von deinem Kater. Hast du ihn schon lange?
Seit sechs Jahren. Leo und seinen Bruder Enzo, der viel scheuer ist, habe ich in einem Tierheim geholt. Da beide an Katzenaids leiden, musste ich unterschreiben, dass ich sie nicht ins Freie lasse. Aber sie kennen nichts anderes.
Man könnte dich als «Madame Frigo» von Spiez bezeichnen. Du machst beim gleichnamigen schweizweiten Projekt mit, das Lebensmittelverschwendung vermeiden hilft. Hier in Spiez betreust du in deiner Freizeit den einzigen «Madame-Frigo»-Kühlschrank beim Dorfhus, hinter dem Lötschbergzentrum. Wie wurdest du auf das Problem Foodwaste aufmerksam?
So richtig aufmerksam wurde ich, als ich als Verkäuferin bei einem grossen Detailhändler arbeitete. Der Werbeslogan «Frisches Brot bis Ladenschluss» führte dazu, dass eine Stunde vor Ladenschluss 15 Brote aufgebacken und davon beispielsweise fünf, die man nicht verkaufen konnte, einfach
weggeschmissen wurden. Auch mit Gemüse geht es nach wie vor so: Wenn in einem Netzchen eine Tomate kaputt ist, wird das ganze Netzchen weggeworfen. Dabei ist der Rest des Gemüses noch gut! «Bireweich», finde ich! Ein Drittel aller Lebensmittel in der Schweiz werden weggeworfen, der grösste Teil übrigens von privaten Haushalten. Davon müssen wir unbedingt wegkommen.
Hast du eine Idee, wie man es in den Läden besser handhaben könnte?
Ja, später war ich im Bahnhof Bern in einem Bioladen tätig. Der verkaufte entsprechende Ware zuerst zum halben Preis und verschenkte sie später an die Angestellten. Eine andere Möglichkeit wäre, die Ware einzufrieren und sie den Angestellten ein paar Tage lang vergünstigt anzubieten. Oder eben die «Madame-Frigo»-Kühlschränke, sie bieten sowohl für Läden wie für private Haushalte eine Lösung. Hier in Spiez können wir bei einem Grossverteiler, der uns unterstützt, Gemüse und Früchte abholen. Aber insbesondere jetzt im Sommer liefern uns auch Private immer wieder frische Ware aus ihren Gärten. Nur Fleisch und Fisch, die ständig gekühlt werden müssen, dürfen wegen der Vorschriften der Lebensmittelhygiene nicht angeboten werden. Auch Alkohol, verpackte, aber bereits geöffnete sowie gekochte Produkte sind nicht erlaubt.
Angenommen, ich habe zu Hause zu viele Lebensmittel. Was darf ich in euren Kühlschrank legen?
Obst, Gemüse und auch Brot. Auch verpackte Lebensmittel, die höchstens das Mindesthaltbarkeitsdatum, nicht aber das Verbrauchsdatum erreicht haben.
Wie stiessest du eigentlich auf «Madame Frigo»?
Den ersten solchen Kühlschrank sah ich in Bern und fand ihn sofort «henne cool». Bern hatte immer mehr von diesen Kühlschränken, Thun ebenfalls. Da dachte ich, wenn das dort klappt, klappt es in Spiez auch. Mit einem Kollegen suchte ich hier Standorte. Schliesslich konnten wir damals zwei realisieren. Aber es war schwierig. Manche Grundbesitzer wollten nicht mitmachen wegen der Stromkosten, obwohl diese nur 35 bis 45 Franken pro Jahr ausmachen. Aber sie sind dafür verantwortlich, dass das Gerät richtig angeschlossen ist. Es darf weder Menschen noch Gebäude gefährden.

Du musst dich wohl täglich um den Kühlschrank in Spiez kümmern ...
Nein, nicht gerade täglich. Dadurch, dass wir keine abgelaufenen Lebensmittel anbieten, sind wir auf der sicheren Seite. Zudem habe ich mit Nadia Bütikofer aus Wimmis eine gute Helferin. Sie vertritt mich zwischendurch. Vor allem der Montag ist ein wichtiger Tag. Da können wir beim Detailhändler Ware holen, die nach dem Wochenende vielleicht nicht mehr so chic aussieht. Die ursprüngliche Absicht wäre zwar, dass vor allem Private Lebensmittel bringen. Damit hapert es aber noch etwas, vor allem im Winter. Wenn schon ein Laden uns Waren liefert, nehmen wir diese auch gerne an.
Hat denn dies alles Platz in diesem doch eher kleinen Kühlschrank beim Dorfhus?
Es handelt sich um einen ganz normalen Kühlschrank, wie ich ihn hier auch habe. Ich beschaffte ihn über Ricardo. Bei Platzmangel nehme ich Ware mit nach Frutigen, wo es ebenfalls einen Frigo hat. Dieser ist nämlich gleich neben der HPS, wo ich ja arbeite!
Was machst du genau in der HPS Frutigen?
Eigentlich alle Küchenarbeiten: Abwaschen, Geschirr versorgen, putzen – alles zusammen mit den Kids. Ich habe auch schon gekocht, etwa, wenn jemand krank ist.
Da achtest du sicher auch dort darauf, dass keine Lebensmittel verschwendet werden ...
Dies wird den Schülerinnen und Schülern dort sowieso mit auf den Weg gegeben: dass sie sorgfältig umgehen sollen mit Lebensmitteln. Wenn’s doch mal Resten gibt, sagen wir den Kindern und Angestellten: «Nehmt es mit, ihr könnt es auch morgen noch essen.»
Jsabella Wyss kocht täglich frisch – auch Gemüse aus dem Garten bei ihrer Mietwohnung. Die Tomaten düngt sie mit verdünntem Saft ihrer Kompostwürmer.

Ihren Kater Leo hat Jsabella Wyss vor Jahren aus dem Tierheim geholt, zusammen mit dessen Bruder Enzo. Die beiden Kater dürfen seit jeher nicht ins Freie, da sie an Katzen-Aids leiden.
Inwieweit hat dein Engagement damit zu tun, wie du aufgewachsen bist?
Ich bin einfach so erzogen worden, dass man Sorge trägt zu den Sachen. Mein Vater hat mich gelehrt, immer dreimal zu fragen, ob ich etwas wirklich brauche – sei es Schmuck, Kleider oder sonst etwas. Das Kochen war auch wichtig, die Mutter kochte täglich und immer frisch, das war und ist ihr Motto. Und auch meines: Ich koche so oft wie möglich für mich selbst. Meine Grosseltern mütterlicherseits hatten einen Bauernhof in Thörishaus. Da nahm man die Speisen natürlich aus dem Garten. Wir waren oft dort in den Ferien. Das trug dazu bei, dass ich heute Sorge trage zu den Lebensmitteln.
Du selbst wirfst nie Lebensmittel weg, nehme ich an.
Das kann schon auch mal passieren, dass ich etwas kompostieren muss, etwa bei Schimmelbefall. Ich habe hier übrigens Kompostwürmer (zeigt auf eine Kiste am Boden). Die fressen alles, was ich nicht brauche – Rüstabfälle beispielsweise. Sie produzieren Humus. So entsteht ein «Wurmsaft», den ich in verdünnter Form als Dünger verwende. Deshalb tragen meine Stauden schon Tomaten.
Du hast da einen grossen Verband am Ellenbogen. Darf ich fragen, weshalb?
Kein Problem – ich spreche offen darüber. Ich leide seit mehr als 20 Jahren an Morbus Crohn. Deshalb muss ich alle paar Wochen eine Infusion mit einem speziellen Medikament machen lassen. Es ist eine chronische Darmentzündung, eine Autoimmunerkrankung, die bei mir auf einen Gendefekt zurück geht. Der ganze Verdauungstrakt ist betroffen. Ich kann nicht alles verwerten. Mein Blutzuckerwert sinkt manchmal weit unter den Normalwert ab. Deshalb fehlt mir oft die Energie. Man kann die Krankheit mit Medikamenten mildern, aber nicht heilen. Ich informiere mich laufend über Morbus Crohn und leitete auch mal eine Selbsthilfegruppe dazu. Ich muss sehr darauf achten, was ich esse. Deshalb koche ich so oft wie möglich selbst.
Worauf achtest du denn beim Kochen?
Gezielt einkaufen, gezielt kochen, das ist wichtig. Vor allem achte ich darauf, was ich vertrage. Ausgewogen, Gemüse und Vollkornprodukte, aber auch ab und zu Fleisch, das ich im Hofladen in der Schlüsselmatte hole. Meist in BioQualität, möglichst ohne Chemie. Schon ein «falsches Chrüttli» kann Beschwerden auslösen. Es gibt Lebensmittel, die ich meide, da sie Entzündungen fördern.
Und wenn du mal nicht Zeit hast, selbst zu kochen?
Wenn ich weiss, dass ich am nächsten Tag unterwegs bin, koche ich etwas mehr und nehme dies dann mit zur Arbeit. Manchmal hole ich aber auch ein komplettes «Too good to go»-Menü oder ein Brotpäckli bei Spiezer Läden. Die stark
vergünstigten Menüs werden auf der App «Too good to go» ausgeschrieben. Ich erhalte sie gekühlt in einer Kartonschachtel und muss sie nur noch aufwärmen. So habe ich dieses Jahr bereits 21 Päckli «gerettet».
Woher nimmst du denn trotz deiner Einschränkungen die ganze Energie, dich in der Freizeit auch noch für «Madame Frigo» einzusetzen?
Das frage ich mich manchmal auch! (lacht) Ich bin schon sehr motiviert, den Leuten eine Alternative zum «Ghüderchübu» anzubieten. So kann ich den Leuten eine Freude machen. Und notfalls geht meine Helferin Nadia auch «frigölen», wenn ich gesundheitlich mal sehr schlecht drauf bin.
Vor zwei Jahren gab es noch zwei Kühlschränke von «Madame Frigo» in Spiez. Nun nur noch einen. Weshalb?
Früher war Reto Allemann noch im Projekt, er brachte das Ganze nach Spiez. Er stellte den Kühlschrank am Bühlstutz auf, aber leider zog er weg, und wir fanden keinen neuen Standort. Aber es wäre natürlich schön, wennʼs an jeder Ecke einen Kühlschrank hätte. Interessierte können sich gerne über die Homepage von «Madame Frigo» melden!
Auch in der Brocki Einigen der Heilsarmee, wo du ebenfalls arbeitest, geht’s ums Weiterverwenden von Gegenständen. Hast du hier in der Wohnung auch gebrauchte Dinge?
Fast nur! Genauer gesagt: Occasion gekauft. Die Stühle, die Kaffeemaschine, das Sofa, das ich von meinem Vater übernommen habe, auch das Bett, mein Auto und das Velo, mit dem ich oftmals in die Brocki fahre, sind Occasionen. Einzig dieser Tisch hier ist neu, weil der alte keinen Platz hatte.
Was machst du in deiner Freizeit, wenn du dich nicht um «Madame Frigo» kümmerst?
Ich lese sehr gerne, vor allem Krimis: Je «strüber» desto besser, zum Beispiel Stephen King! Manchmal konnte ich fast nicht mehr schlafen. Heute lese ich abgeschwächtere Versionen von Krimis, auch Romane oder Sachbücher, natürlich über Foodwaste. Und Biografien.
Biografien?
Die über Michelle Obama beispielsweise, als Hörbuch. Sie ist in ganz einfachen Verhältnissen aufgewachsen und schlussendlich Anwältin geworden. Dennoch ist sie nicht abgehoben, sie blieb auf dem Boden und war stets für ihre Familie da. Sie kennt ihre Wurzeln, sie beeindruckt mich.
Nun kommen wir zu unserer ersten Standardfrage: Was gefällt dir besonders an Spiez?
Alles! Wir sind hier zentral, wir haben die Berge, den See, man ist rasch in Bern oder in den Bergen. Was will man mehr! Spiez ist recht ländlich und bietet doch sehr viel.
Und was würdest du ändern in Spiez, wenn du wünschen dürftest?
Es sollte mehr Angebote geben für die Jungen, vor allem kleine Konzerte. Und ich wünsche mir mehr Toleranz gegenüber den Jungen. Anwohner sollten nicht wegen jedem kleinen Lärm reklamieren.
Interview und Fotos: Jürg Alder
«Madame Frigo» wohnte fast immer in Spiez
Jsabella Wyss, 36, hilft in Spiez «Foodwaste», also Lebensmittelverschwendung, zu vermeiden, indem sie einen von schweizweit über 100 öffentlichen Kühlschränken des Projektes «Madame Frigo» beim Dorfhus an der Spiezbergstrasse 3 betreut. Hier können überschüssige, noch essbare Lebensmittel – mit Ausnahmen – abgegeben und auch abgeholt werden (s. www.madamefrigo.ch). Jsabella Wyss wuchs in Spiez mit ihrer jüngeren Schwester hauptsächlich im Neumattequartier auf. Der Vater arbeitete bis zu seiner Pensionierung vor ein paar Jahren im Bahnhof Spiez als Leiter des Handgepäck-Depots, danach als Leiter des «Clean-Teams» der BLS. Die Mutter ist bei der Gemeinde für die Reinigung aller öffentlichen Toilettenanlagen verantwortlich. Als Jsabella sechsjährig war, liessen sich die Eltern scheiden. Jsabella wohnte einige Jahre bei der Mutter, später beim Vater. Nach dem Besuch der Primar- und der Realschule im Spiezmoos- und im Längensteinschulhaus und einer Lehre als Detailhandelsassistentin in der damaligen «Biothek» arbeitete sie als Verkäuferin in Spiez, Adelboden, Bern und Interlaken. Heute arbeitet sie Teilzeit bei der Heilpädagogischen Schule Frutigen in der Küche und beim Mittagstisch sowie im Heilsarmee-Brockenhaus Einigen in der Bedienung, der Warenannahme und der Warenpräsentation. Bis auf vier Jahre, als sie in Thun wohnte, lebte sie immer in Spiez, heute im Leimernquartier in einer Mietwohnung.
Jsabella Wyss leidet seit langem – und sagt es ganz offen – an Morbus Crohn, einer entzündlichen AutoimmunDarmkrankheit. Daher achtet sie sehr darauf, dass sie sich gesund ernährt. Wenn möglich kocht sie selbst. In ihrer Freizeit geniesst sie neben dem Kochen auch Gartenarbeiten, das Lesen von Krimis und das Bemalen von Steinen, die sie in der Region versteckt und dann auf einer Facebook-Gruppe nachschaut, ob und wohin die Steine mitgenommen wurden.