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Tote Dichter

Tote Dichter

13. Februar 1990

Was hat sich eigentlich in den letzten Jahren alles abgespielt? Als ich vor fünf Jahren als Nachwuchskraft in die Firma eintrat, hatte ich mir zum Ziel gesetzt, es noch vor meinem Vierzigsten so weit nach oben zu schaffen wie möglich. Schon bald wurde ich Mitglied des Talent-Pools. Nicht so sehr, weil ich besser war als andere, sondern über einen scheinbar unbegrenzten Leistungswillen verfügte. Mein Chef heisst Lamprecht und ist Teil der alten Garde, die den Nachwuchs in homöopathischen Dosen fördert. Ein Spiel, das vor allem Lamprecht meisterlich beherrscht: der warme Händedruck, das demonstrative Wohlwollen und die schlüssigen Erklärungen, dass der richtige Zeitpunkt zum nächsten Karriereschritt gerade jetzt noch nicht gekommen ist, aber wenig fehlt. Lamprecht schreibt und unterschreibt mit Füllfederhalter, und für uns Hoffnungsvolle zeichnet er gerne mit Stiften auf dem Flipchart virtuos ein paar stämmige Eichen in Braun mit wachsendem Jungholz in Grün dazwischen. Die Schösslinge, so Lamprecht, sollen im Schutze der ausgewachsenen Stämme wachsen können, Jahresring um Jahresring. Was sie aber nicht können, weil ihnen die «Stämmigen» vor der Sonne stehen. Während die Hoffnung des Jungholzes am Leben erhalten wird, füllt sich die alte Garde die Taschen so reichlich, dass sie nicht mehr laufen kann, um das Futter zu suchen.

20. Februar 1990

Die ganze Industrie hat einen unheimlichen Lauf. Wir sind Figuren in einer entkoppelten Welt. Zu meiner und Annes

Überraschung wurde in meinem ersten Jahr bei der Firma ein Sommerbatzen ausbezahlt. Der Chef der alten Garde wandte sich vor den Ferien schriftlich an die Belegschaft. Der Geschäftsgang sei erfreulich, und jeder Mitarbeitende, ungeachtet dessen Rang und Alter, erhalte zusätzlich tausend Franken. Er wünschte schöne Ferien. Ich war darüber begeistert, wie sehr sich Anne freute, woraufhin wir am Abend im Restaurant Frohsinn, gleich um die Ecke, feierten. Ein Jahr später schrieb der Chef wieder. Es laufe noch besser als letztes Jahr, und der Sommerbatzen erhöhe sich dadurch auf zweitausend Franken. Ich glaube, ich telefonierte danach mit Anne. Wir freuten uns, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir am Abend wieder ins «Frohsinn» gingen. Als es im dritten Jahr auf die Sommerferien zuging, rätselten wir bereits, wie hoch der Sommerbatzen dieses Jahr ausfalle. An einem Anlass, zu dem alle Mitarbeitenden eingeladen waren, hielt der Chef eine Ansprache. Er hielt uns lange hin, bis er endlich sagte, dass es im gleichen Rhythmus weitergehe und nun zusätzlich ein halber Monatslohn ausbezahlt werde. Ich sagte es Anne beiläufig am nächsten Morgen im Badezimmer, als ich mich rasierte. Wir freuten uns, sprachen aber nicht darüber, was damit geschehen sollte. Wir begannen, uns daran zu gewöhnen. Im vierten Jahr war es ein ganzer Monatslohn und im fünften Jahr, ich war mittlerweile zweimal befördert worden und die Firma dafür bekannt, eine riskante, aber erfolgreiche Strategie zu verfolgen, erhielt ich ein Mehrfaches meines Monatslohnes. In der Nacht, die auf diesen Geldregen folgte, träumte ich vom Märchen «Der Fischer und seine Frau». Die beiden können sich vom Butt, dem der Fischer das Leben rettete, indem er ihn wieder ans Meer zurückgab, immer mehr wünschen und werden unersättlich in ihrer Mass-

losigkeit, bis sie am Schluss wieder in derselben armseligen Hütte leben: «Mantje, Mantje, Timpe Te, Buttje, Buttje inne See.» Der Sommerbatzen hiess immer noch Sommerbatzen, und ich fragte mich, ob uns diese Münze nicht irgendeinmal sauer aufstossen würde und ich wirklich verdiente, was mir bezahlt wurde? Und nahm es doch.

13. März 1991

Die Blase ist geplatzt. Die Krise fegte wie ein Orkan über die Industrie und über all diejenigen, die sich mit Haut und Haaren auf die Spekulationen eingelassen hatten. Die Firma hatte es so hart getroffen, dass der Senior und Eigentümer den Notstand ausrief. Ich bin Teil einer Mannschaft, die der Markt hochgespült hatte. Jetzt stehen wir ohne Badehose da. Die Hälfte der alten Garde musste inzwischen abdanken. Lamprecht konnte sich gerade noch retten. Die Verluste sind massiv, und Entlassungen sind die Folge. Es wird abgeschrieben und Kosten gesenkt. Der Reputationsverlust ist immens und die Schadenfreude der Konkurrenten gross.

17. April 1993

Auch die andere Hälfte der alten Garde, und mit ihr Lamprecht, muss gehen. Heute wird er an einem Apéro verabschiedet, zu dem alle seine Mitarbeitenden eingeladen sind. Schindler, der neue Gesamtleiter der Firma, würdigt am Apéro Lamprechts Verdienste in salbungsvoll einstudierter Rhetorik und übergibt ihm vor versammelter Belegschaft Kochschürze, Kochbuch und Kochkellen, da er jetzt mehr Zeit für Familie und Küche habe, als ob diese darauf gewartet hätten. Am Ende der Würdigung enthüllt Schindler auf dem Gabentisch ein paar Flaschen teuren Wein und eine Kiste Zigarren, die unter

einem weissen Tischtuch auf ihren Einsatz gewartet hatten. Danach reicht er Lamprecht die Hand. Applaus, obwohl alle Anwesenden wissen, dass sich die beiden nicht ausstehen können. Dann macht Lamprecht die Runde und sagt auch denen, die es nicht hören wollen, dass er sich schon immer habe weiterentwickeln wollen und dass wir, die Zurückgebliebenen, noch lange an den Fehlleistungen der letzten Jahre zu beissen hätten. Fehlleistungen, die er wohlverstanden mitverschuldet hat. Niemand sagt zu dieser Maskerade ein Wort. Auch ich nicht. Ich spiele das falsche Spiel mit, weil ich die Chance witterte, mein Ziel zu erreichen. Wer mich füttert, hat viele Rechte. Ich bin ein aufzugswilliger Tanzbär geworden.

25. April 1993

Ich habe mein Ziel erreicht und werde Lamprechts Nachfolger. Vor seinem Abgang lässt er es noch einmal richtig krachen. Gemäss Quittung hat er das «Kunstwerk» in der Galerie um die Ecke gekauft, die sich auf ausgefallene Tierskulpturen spezialisiert. An seinem letzten Arbeitstag muss er so lange gewartet haben, bis niemand mehr im Büro war, um sie aufzustellen. So begrüsste uns Mitarbeitenden heute Morgen beim Personaleingang eine überdimensionierte, mannshoch aufgerichtete Kobraskulptur in Bronze. Sie zeigt das Tier im Moment der Bedrohung, mit gespreiztem Nackenschild, weit geöffnetem, die Giftzähne freilegendem Mund und nach vorne gebeugten Rückenwirbeln, bereit zum tödlichen Biss. «So zerstreuen sich denn meine Schafe, weil kein Hirte da war. Ezechiel, Kap. 34:5», steht in dicken Lettern auf einem gerahmten Blatt neben der Kobra. Ich bitte den Hausdienst, die Kobra zu verpacken und ins Depot zu verschieben. Die letzten sichtbaren Spuren Lamprechts sind verschwunden.

27. Juni 1994

Seit über einem Jahr habe ich Gelegenheit, es besser zu machen als mein Vorgänger. Ich bin eines der jüngsten Mitglieder der Bereichsleitung. Immer wieder heisst es Kosten sparen. Wirklich? Obwohl mein Lohn weit unter dem von Lamprecht liegt und es keine Sommerbatzen mehr gibt, sind die Unterschiede in der Belegschaft immer noch sehr hoch. Vor einem Jahr war ich fest davon überzeugt, das System ändern zu können. In der Zwischenzeit bin ich mir nicht mehr so sicher.

1. Juli 1994

Am Anfang waren meine Motivation und Überzeugung, die Firma, mein Team und mich durch einen anderen Führungsstil zum Erfolg zu bringen, grenzenlos. Ich blühte auf, übernahm meine neue Rolle mit grossem Enthusiasmus, arbeitete fast pausenlos, übernahm drei Marktgebiete, war fast jeden Monat auf einem Transatlantikflug, betreute Kunden und setzte die neue Marketingstrategie fest. Aber ich wollte nicht nur im Beruf erfolgreich sein, sondern auch ein fürsorglicher Vater, ein guter Ehemann, ein leidenschaftlicher Liebhaber, ein Sportler und guter Freund. Und nun: grosse Ernüchterung! Zum Kampf mit den Konkurrenten im Markt kommt das Feilschen um interne Ressourcen und das Schmieden von Allianzen. Die neue Bereichsleitung, zu der ich auch gehöre, ist eher ein bunt zusammengewürfelter Haufen als ein Team. Die Eigeninteressen haben Priorität, und ich beginne, an meiner Funktion zu zweifeln. Bin ich nicht bereits seit Langem Teil dieses Systems, und fängt es an, mich kaputtzumachen?

Julia konnte sich erinnern, dass ihr Vater viel auf Auslandsreisen gewesen war. Er war viele Wochentage im Jahr nicht

zu Hause, und obwohl die beiden Töchter mit ihrer Mutter viel über ihn sprachen und er auf diese Art präsent war: Er war selten Bestandteil ihres Alltages. Jonas versuchte zwar, alles Geschäftliche um die wichtigen Daten wie Geburtstage, Familienfeste, Einschulungen, Elternabende, sportliche Wettkämpfe oder Theatervorführungen herum zu organisieren und vor allem immer an den Wochenenden für seine Familie da zu sein. Aber es gab auch Abstimmungsprobleme, und Jonas machte sich Vorwürfe, wenn er seiner Familie nicht gerecht werden konnte. Julia realisierte, dass Anne ihm für so vieles den Rücken freigehalten hatte. Julia wusste von ihren Eltern, dass sie vor der Hochzeit miteinander übereingekommen waren, dass vor allem Jonas für den Erwerb zuständig sein würde; doch es war ihrer Mutter nicht leichtgefallen, ihre beruflichen Ambitionen zurückzustecken. Und Jonas, aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, meinte, seiner Frau aus gutem Hause etwas bieten zu müssen. Dafür zu sorgen, dass das Leben für seine Familie reiche Früchte tragen würde. Mit «reichen Früchten» meinte er neben all der Liebe für seine Familie materielle Absicherung und Grosszügigkeit, etwas, was er selbst nie gekannt hatte.

Innerhalb einer Generation hatte sich für die Geschlechter viel verändert. Für Julia wäre nie infrage gekommen, aus familiären Gründen ihre beruflichen Ambitionen zurückzustecken, und sie war froh, in Philipp einen Seelenverwandten gefunden zu haben.

8. Juli 1994

Auch wenn mir meine Stellung Einfluss verschafft, habe ich mich unterzuordnen. Der Lohn ist auch Preis für diese unangenehme Sandwich-Position, die ich mir aber auch

selbst ausgesucht habe. Es geht also nicht darum, ein unternehmerischer und motivationsstarker Chef zu sein, sondern sich möglichst lange in der Position zu halten: Verhindern, dass mir Konkurrenten meinen Job wegnehmen. Mich nach oben orientieren und nach unten treten. Nach oben heisst Ziegler, er hat den Vorsitz unserer Bereichsleitung. Er stiess von einem anderen Unternehmen zur Firma. Zu Beginn verstanden wir uns gut. Als eine seiner ersten Amtshandlungen rekrutierte er neue Mitarbeiter, die er von seiner früheren Tätigkeit her kannte, und half mir damit, mein Team auszubauen. Das dachte ich zumindest zuerst und merkte später, dass er mich damit auch überwachte. Gestern Abend waren Anne und ich bei ihm zu Hause eingeladen. Wir wurden von seiner Frau und den Kindern empfangen. Das Abendessen verlief gemütlich, ich wurde aber das Gefühl nicht los, dass uns seine Frau beobachtete. Beim Nachtisch sagte Ziegler zu seiner Frau:

«Wir haben es gut miteinander, nicht wahr, mein Schatz?», worauf er demonstrativ ihre Hand tätschelte und ihr zunickte. Seine Frau nickte zurück. Anne und ich wussten nicht, was wir dazu sagen sollten.

«Wer möchte gerne einen Kaffee oder Tee?», rettete Zieglers Frau die Situation.

«Gerne einen Kaffee», sagten wir beide fast gleichzeitig und erleichtert.

25. August 1994

Eben zurück von einer Geschäftsreise. Seit Monaten werden strategische Alternativen geprüft. Es geht darum, neue Marktgebiete zu analysieren. Dafür wurde ein Team zusammengestellt, das diese bereisen sollte, um sich ein Bild davon

zu machen. Ziegler, drei der neuen Mitarbeiter und ich. Die Reise dauerte acht Tage. Wir besuchten die drei wichtigsten Handels- und Wirtschaftszentren des Landes und am Wochenende ein luxuriöses Ferienresort. Es sei ein Schnäppchen, sagte Ziegler, da ein paar Monate zuvor ein Tsunami über diesen Teil hinweggefegt war, Tausenden das Leben gekostet sowie den Strand verkürzt hatte und nun Touristen davon abhielt, in die Region zu reisen. Ist des einen Tragik des anderen Glück?

Alle Kosten wurden der Geschäftskarte belastet. Ob das im Sinne des Eigentümers der Firma ist? Am Ende des zweiten Reisetages gingen wir aus. Nach dem Nachtessen landeten wir in einer Bar und wurden von einer Gruppe Frauen empfangen. Ich dachte, es sei ein Spiel, ein Spass, eine Spur Leichtigkeit in der Geschäftswelt. Wir setzten uns auf drehbare Hocker an der Bar. Eine der Frauen drehte sich zu Ziegler und setzte sich auf seinen Schoss. Ihre Kolleginnen taten es ihr nach, und so sass plötzlich eine Frau mit tief ausgeschnittenem, kurzem Cocktailkleid auf mir und wollte einen Drink. Ich zahlte und dachte an Anne und meine Töchter. Als der Kollege neben mir seiner Gespielin Geld zuschob und mit ihr zu knutschen begann, wandte ich mich ab und hoffte, dass das Ganze rasch vorbeigehen würde.

Nach einer Stunde verliessen wir das Lokal. Meine Kollegen sprachen von einem anderen Club, in dem die Post abgehe. Sie riefen ein Taxi, ich blieb stehen. Ziegler kam zu mir und fragte, was los sei.

«Ich bin müde und gehe ins Hotel zurück.»

«Das kannst du nicht machen. Wir sind ein Team.» Ziegler sah mich lange an.

«Ja, wir sind ein Team, das zusammen arbeitet und das

Privatleben nicht mit dem Geschäftsleben vermischt.»

«Du solltest mit uns kommen», wiederholte Ziegler. Die anderen waren bereits in das wartende Taxi eingestiegen und schauten zu uns hoch. Sie verstanden nicht, um was es ging.

Ich rief ein anderes Taxi und ging ins Hotel zurück.

23. November 1994

Die Geschäftsreise der strategischen Alternativen eröffnete nicht nur Chancen für neue Marktgebiete, sie offenbarte auch, wer zur Crew gehörte, die diese zu erschliessen hatte. Weder wusste ich damals, was sich in dieser Nacht im zweiten Club abspielte, noch dass mich die anderen durch mein Verhalten eben aus ihrer Allianz ausgestossen hatten. Wenn ich hier nicht mitmachte, würden sie mir auch im Geschäft nicht vertrauen können.

Gesellschaftlich wird der Schein der funktionierenden, harmonischen Ehe und Familie hochgehalten. Man lässt ins private Reich bitten, in dem die Ehefrau die perfekte Gastgeberin spielt und die Kinder reizend performen, um dann im Ausland über Prostituierte herzufallen. Die Aussenwelt wird zum Schutzmantel des inneren Chaos. Sie trennt das Denken vom Fühlen, und in diesem Chaos wird Sex zum Ventil, zum Beweis der Manneskraft, und dient dazu, sich der eigenen Existenz zu versichern. Unmittelbar nach dem Vollzug steht endlich einmal die Zeit still. Man fühlt sich ganz und unsterblich. Eine sedative Droge mit schlafanstossender Wirkung, die nach enthaltsamen Tagen wieder zugeführt werden muss. Akzeptiert die Lebenspartnerin des Machtmenschen diese Lebensform, oder ist sie sich selbst so fremd geworden, wie es ihr Mann schon lange ist?

17. April 1995

Anne und ich werden nicht mehr von Ziegler eingeladen. Für wichtige Geschäftsentscheidungen entzieht er mir immer mehr die Unterstützung. Ich muss seine Erwartung an Loyalität untergraben haben. Immer noch versuche ich, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, versinke aber in der heillosen Politik der Firma. Erfolg wird kalt, wenn die Arbeit nicht mehr wärmt. Wie lange halte ich das noch aus?

31. Januar 1996

Der Honigtopf gibt mir den Rest. Zum Jahresanfang wird an der ersten Bereichsleitungssitzung der Bonus für das letzte Jahr ausgeschüttet. Jeder Geschäftszweig erhält einen bestimmten Betrag zur Verteilung. Zuerst bedient sich die oberste Leitung, dann die Bereichsleitung und somit auch ich. Danach geht es in der Hierarchie nach nach unten, bis nichts mehr übrig bleibt. Die Differenz zwischen mir und meinen Mitarbeitenden ist so gross, dass sie meinen propagierten Teamansatz «Einer für alle, alle für einen» ad absurdum führt. Ich habe mich meilenweit von mir entfernt.

4. April 1996

Ich sollte im Rahmen einer Umstrukturierung eines meiner Marktgebiete abtreten und nehme es als Anlass, zu kündigen. Zur grossen Enttäuschung des Eigentümers der Firma, der mich lange gefördert hat. Es fehlt mir an Mut, zu erklären, wieso ich das tue. Das letzte Gespräch mit ihm ist frostig. Er hat mich bereits abgeschrieben. Obwohl ich den Entscheid mit Anne abgesprochen habe, macht ihr die Ungewissheit darüber, was auf uns zukommen wird, Angst.

28. April 1996

An meinem letzten Arbeitstag vor ein paar Tagen waren Anne und ich von meinem Nachfolger und dessen Frau in ein teures Restaurant in Zürich eingeladen. Als wir vor dem reservierten Tisch standen, nahm er seiner Frau den Mantel ab, hielt ihr den Stuhl hin, bevor sie sich setzte, übergab den Mantel einem Kellner und winkte einem Gast an einem anderen Tisch kurz zu, bevor er sich setzte. Anne trug eine kurze Jacke, die sie anbehielt. Ihr war kalt. Wir sahen die Speisekarte durch und bestellten. Mein Nachfolger suchte den Wein aus. Er eröffnete die Runde, indem er sagte, dass er es sehr bedaure, dass ich die Firma verlasse. Meinen Job habe er nur vorübergehend übernommen, «ad interim», worauf ihn seine Frau bewundernd von der Seite ansah. Es sei sehr schwer, mich zu ersetzen. Er sprach in den höchsten Tönen von mir. Ich sei in vielem ein Vorbild für ihn, und er habe die Zusammenarbeit mit mir sehr geschätzt. Es wiederholte sich, was sich bei Lamprechts Verabschiedung vor über drei Jahren zugetragen hatte: in Worthülsen verpackte Lügen, verklausuliert, ein austauschbares Arbeitszeugnis: «Zur vollsten Zufriedenheit.» Die Frau meines Nachfolgers überragte Anne körperlich in vielem und sprach viel von ihren Kindern. Ab und zu kam es zu einem Spässchen. Anne und ich lächelten höflich. Es war alles, was wir tun konnten, da wir mit dieser Situation heillos überfordert waren.

Endlich verlangte mein Nachfolger die Rechnung. Ich warf einen Blick darauf, als er die Brieftasche hervorholte. Es war teuer, und der Wein, von dem auch noch eine zweite Flasche bestellt wurde, die wir dann aber halb voll stehen liessen, kostete ein Vermögen. Er zahlte mit der Geschäftskarte und fügte ein grosszügiges Trinkgeld hinzu. Wir erhoben uns.

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