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Zweite Hinterrheinbrücke in Reichenau

Belastungsversuche zur Verifikation des Tragverhaltens Zweite Hinterrheinbrücke in Reichenau

von Andreas Galmarini, Lorenz Schmid, Matthias Ludin, Andreas Wieser

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Neue Zweite vor historischer Erster Hinterrheinbrücke © WaltGalmarini AG

Im Rahmen des Neubaus der Zweiten Hinterrheinbrücke in ReichenauTamins wurden vor der Eröffnung der einspurigen Bahnbrücke der Rhätischen Bahn (RhB) umfangreiche Belastungsversuche zur Verifikation des Tragverhaltens der Konstruktion und als Referenz für die Überwachung des Bauwerkverhaltens über die Lebensdauer durchgeführt. Die Versuche mit statischer und quasi-statischer Last zeigen eine gute Korrelation zwischen dem Finite-Elemente-(FE-)Berechnungsmodell und der Realität. Die Versuche wurden außerdem genutzt, um die Möglichkeiten von terrestrischem Laserscanning zu untersuchen und den traditionellen geodätischen Messmethoden gegenüberzustellen. Die Laserscanner lieferten Daten mit einer Genauigkeit wie die herkömmlichen Messmethoden und eröffnen durch die flächenhafte oder die temporalen Profilmessungen mit hoher zeitlicher Auflösung ein weites Feld an Anwendungsmöglichkeiten. 1 Die Brücke Die Zweite Hinterrheinbrücke ist eine Bahnbrücke, welche ein Schmalspurgleis über den Hinterrhein und die Autobahn A 13 trägt. Sie befindet sich unmittelbar flussaufwärts der historischen, ebenfalls einspurigen Hinterrheinbrücke. Die Streckenkapazität wird mit der neuen Brücke verdoppelt und beseitigt einen betrieblichen Flaschenhals auf dem RhB-Netz. Zudem ermöglicht sie während eines Jahres, die bestehende Spur zu schließen, um die erste Hinterrheinbrücke zu sanieren. Das im November 2018 in Betrieb genommene Projekt geht auf einen offenen Entwurfswettbewerb aus dem Jahr 2015 zurück, den die Ingenieurgemeinschaft Cowi-WaltGalmarini mit den Architekten Dissing+Weitling und Hager Partner gewinnen konnte. Die generellen Aspekte des Entwurfs sind in [1] diskutiert. Die neue Stahlbrücke weist einen Trogquerschnitt mit beidseitig dickwandigen, luftdicht verschweißten Hohlkästen und einer halbversenkten orthotropen Fahrbahnplatte auf, welche Schotterbett, Gleis und Kabelkanäle trägt. Über den Flusspfeilern verkürzen vierstielige Quadropods die Spannweite des Trägers. Die Brücke quert die Nationalstraße A 13 im östlichen Endfeld unter einem Winkel von 27°. Eine V-Stütze parallel zur Straße begrenzt die Spannweite des Endfeldes und ermöglicht so einen über die ganze Brückenlänge konstanten Querschnitt.

Das östliche Widerlager verfügt neben den zwei Brückenlagern am rechtwinkligen Fahrbahnende über ein zusätzliches vorderes Brückenlager. Dadurch wird unter anderem die für die Bahn kritische Längsverwindung der Fahrbahn begrenzt und ein Verwindungssprung beim Fahrbahnübergang vermieden (Bild 2, 3). Durch die statisch unbestimmte Lagerung können die Lagerkräfte aus ständigen Lasten eingestellt werden. Sie wurden so gewählt, dass unter Gebrauchslasten keine Zugkräfte entstehen. Aus (Betriebs-)Sicherheitsüberlegungen wurden die Lager trotzdem mit einer Abhebesicherung ausgestattet. Zudem sind alle drei Lager mit einem Drucksensor ausgerüstet, so dass die Lagerkräfte kontrolliert und gegebenenfalls nachjustiert werden können. Flusspfeiler, V-Stützenfundament und die Widerlager sind aus Stahlbeton und mittels schwim mender Pfähle gegründet. Die Brücke ist am westlichen Ende in Längsrichtung gehalten. Die Flusspfeiler wurden genug weich ausgebildet, um Zwängungen aus Temperaturänderungen klein zu halten, aber dennoch steif genug, um die Durchbiegungen im Hauptfeld im zulässigen Rahmen zu halten.

Aufgrund der Bedeutung der Brücke im RhB-Netz und der ungewöhnlichen Lagerungssituation wurde entschieden, einen Belastungsversuch durchzuführen, um das Verhalten der Konstruktion, insbesondere das Kräftespiel in den Lagern, mittels Kraft- und Verformungsmessungen zu verifizieren. Damit wird auch eine solide Basis für die spätere Überwachung des Bauwerksverhaltens sowie für allfällige erforderliche Eingriffe bei unerwarteten Ereignissen geschaffen. Zusätzlich wurden dynamische Versuche zur Bestimmung der Eigenfrequenzen durchgeführt. Auf diese wird im Folgenden nicht weiter eingegangen.

2 Der Versuch 2.1 Statische Versuche Mit zwei aneinandergekoppelten Lokomotiven GE4/4 Typ II (50 t) wurden drei statische Versuche in drei verschiedenen Laststellungen durchgeführt. Dadurch konnte das Verhalten der Brücke im jeweils belasteten Feld, aber auch in benachbarten Feldern erfasst werden.

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Lagersituation östliches Brückenende: Widerlager S 1 und V-Stütze S 2 © WaltGalmarini AG

2.2 Quasi-statische Versuche Mit mehreren Überfahrten einer einzelnen Lokomotive konnte der Verlauf der Durchbiegungen im Überbau mit dem FE-Modell verglichen werden. Durch die sehr langsame Überfahrt (v < 1 m/s) ist die Messfrequenz der kontinuierlichen Kraft- und Verformungsmessung genügend groß, und der Einfluss dynamischer Effekte der Tragstruktur lässt sich vernachlässigen.

Drei statische Laststellungen (v.l.n.r.): Lokomotiven im End-, im Seiten- und im Hauptfeld © Jürg Huber

3 Die Messtechnik 3.1 Einleitung Das Messkonzept der Ingenieurgemeinschaft Cowi-WaltGalmarini basierte auf Nivellement, Totalstation und Drucksensoren sowie einer Temperaturmessung. Das Institut für Geodäsie und Photogrammetrie (IGP) der ETH Zürich nutzte die Gelegenheit, um die Möglichkeiten von terrestrischem Laserscanning zu untersuchen und den traditionellen geodätischen Messmethoden, durchgeführt von Schneider Ingenieure, gegenüberzustellen. 3.2 Nivellement Nivellementmessungen wurden verwendet, um für die drei statischen Laststellungen die vertikalen Verformungen an insgesamt 18 Messpunkten entlang dem Träger zu ermitteln. Diese Messungen sollen insbesondere als Vergleich zum FE-Modell, aber auch dem terrestrischen Laserscanner dienen.

3.3 Totalstationen Mit zwei Totalstationen und aufgeklebten Prismen wurden die horizontalen Auslenkungen oben an den beiden Betonpfeilern am Fluss (Pfeiler S 3 und S 4) für alle drei statischen Laststellungen gemessen. Während des quasi-statischen Versuchs haben die beiden Totalstationen die vertikalen Deformationen von je einem Punkt in Feldmitte (1 x südlicher, 1 x nördlicher Kastenträger) des Endfeldes über der A 13 kontinuierlich gemessen. Daraus wurden die Einflusslinien dieser beiden Punkte bestimmt. 3.4 Druckmessungen in Brückenlagern Die drei Topflager am östlichen Widerlager sind mit integrierten Drucksensoren ausgerüstet. Diese wurden sowohl für die statischen als auch die quasi-statischen Versuche ausgelesen.

3.5 Temperaturmessung Temperaturänderungen des Brückenquerschnittes haben Verformungen zur Folge. Mit der Messung der Umgebungstemperatur konnten die temperaturabhängigen Effekte in den Verformungsresultaten zumindest teilweise herausgefiltert werden.

Auswertung und Vergleich der Nivellementmessungen mit FE-Modell für statische Versuche © WaltGalmarini AG

3.6 Terrestrische Laserscanner Die statischen Versuche ließen genügend Zeit, um mit drei terrestrischen Laserscannern unterhalb von den drei belasteten Feldern eine flächenhafte Vermessung durchzuführen. Diese erfassten inkrementell die Oberfläche durch dreidimenionale Distanzmessung und generierten sogenannte Punktwolken. Durch paarweise Vergleiche der Punktwolken können die Deformationen mit wenigen Milimetern Genauigkeit bestimmt werden. Aufgrund der flächenhaften Information ist es möglich, neben der klassischen vertikalen Deformation des Trägers auch Trägerverwindung, Defektanalysen und Deformationen von Pfeilern, Stützen, Querträgern etc. abzuleiten. Für den quasi-statischen Versuch wurde lediglich ein Längsschnitt vermessen. In diesem Modus hat der Laser nicht flächenhaft, sondern Punkte in einer vertikalen Ebene vermessen. Dadurch liefert er Daten mit hoher zeitlicher Auflösung, was eine wertvolle Ergänzung für die Diskussion des Strukturverhaltens darstellt. Wesentlich ist dabei, die Scannerstandpunkte so zu wählen, dass sich eine günstige Messgeometrie ergibt.

4 Die Resultate 4.1 Vorbemerkung Nachfolgend werden nur die Änderungen gegenüber den Nullmessungen unter ständigen Lasten (ohne Bahnverkehrslasten) diskutiert. Die FE-Resultate stammen aus dem globalen Tragwerksmodell, welches aus einem Trägerrostmodell mit integrierter horizontaler Scheibe für die Tragwirkung der Fahrbahnplatte besteht. Im Rahmen der vorliegenden Publikation wird nicht weiter auf das FE-Modell eingegangen.

4.2 Statische Versuche Die Abbildungen 7 und 8 zeigen die graphische Auswertung der Nivellementmessungen. Die durchgezogenen Linien entsprechen den gemessenen Verformungen für den südlichen Träger und die strichlierten Linien den Verformungen des nördlichen Trägers. An den jeweiligen Messpunkten zeigen die diamantförmi gen Punkte die erwarteten Verformungen aus dem FE-Modell. Abbildung 9 zeigt die Auswertung aus den flächenhaften Messungen des terrestrischen Laserscanners. Die Abweichungen gegenüber den nur punktuell verfügbaren Nivellementmessungen lagen im Rahmen der Messgenauigkeit der Scans (ca. ± 1 mm). Generell wurden die Verformungen im FE-Modell um ca. 7–20 % überschätzt. Dabei sind die Abweichungen direkt unter der Last am geringsten, während die Verformungen in den lastfernen Bereichen im Bauwerk schneller abklingen als im Modell. Während der statischen Versuche wurde die Pfeilerauslenkung am Kopf der Betonpfeiler gemessen. Für die Laststellung S3/S4 wurden signifikante Auslenkungen ≤ 9 mm erwartet und gemessen. Die Messresultate der Totalstationen und terrestrischen Laserscanner stimmen sehr gut überein und liegen ca. 15 % tiefer als im FE-Modell. Die gemessenen Lagerdrücke in den drei Topflagern am östlichen Brückenwiderlager bestätigten die gute Übereinstim mung des Berechnungsmodells und der Realität. Insbesondere für die Laststellung S1/S2 liegen die gemessenen Drücke sehr nahe an den erwarteten Werten aus dem FE-Modell: Totallast identisch, Abweichung in der Lastverteilung zwischen den drei Lagern < ± 7 %. Für die Laststellungen mit den Lokomotiven in den weiter entfernten Feldern nimmt die Genauigkeit leicht ab. Folgende Einflüsse könnten zu Abwei chungen der Messresultate und den Erwartungen aus dem FE-Modell geführt haben: – Steifigkeit der Betonpfeiler und deren Gründung, Modellungenauigkeit; – Steifigkeit der Brückenträger in Längsrichtung, Modellungenauigkeit; – versteifender Einfluss des Schotters auf die Brückenträger; – Temperaturgradient über den Querschnitt, nicht erfasste Größe während der Versuche; – Vereinfachung der Lasteingabe im Modell; – die FE-Methode weist in der Regel ein zu weiches Verhalten aus.

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Auswertung des terrestrischen Laserscanners für statische Laststellungen © IGP/ETH Zürich

4.3 Quasi-statische Versuche Die Abbildungen 10 und 11 zeigen exemplarisch die Auswertung der kontinuierlich gemessenen Durchbiegungen des südlichen Trägers in der Mitte des Endfeldes und der kontinuierlich gemessenen Lagerkräfte im vorderen der drei Brückenlager – siehe auch Abbildungen 2 und 3 – des Widerlagers für acht Lokomotivüberfahrten. Für beide Messgrößen sind auch die entsprechenden Werte aus dem FE-Modell dargestellt. Die Graphen entsprechen der Einflusslinie der gemessenen Punkte beziehungsweise der Brückenlager. Die Überfahrten sind in den Graphiken zeitlich normiert (Überfahrt Fahrbahn übergang zu Überfahrt Fahrbahnübergang), da die Lokomotive für verschiedene Überfahrten unterschiedliche Fahrtgeschwindigkeiten aufwies. Sie wurde manuell gesteuert und variiert deshalb auch innerhalb der Strecke leicht. Dieser Einfluss wurde in den Graphiken nicht berücksichtigt, und die einzelnen Einflusslinien sind abschnittsweise horizontal unterschiedlich verzerrt. So können die übergeordnete Form, die absoluten maximalen und minimalen Werte abschnittsweise verglichen werden.

10 11 Durchbiegungen in Feldmitte des südlichen Kastenträgers im Endfeld und Kraft im vorderen Lager für acht Überfahrten einer Lokomotive © WaltGalmarini AG

Da die mit größerer Unsicherheit behaftete horizontale Steifigkeit der Flusspfeiler einen kleineren Einfluss auf das Endfeld hat, durfte eine gute Korrelierung zwischen dem FE-Modell und den Messresultaten erwartet werden. Während einer Zugsüberfahrt haben sich die Umweltbedingungen ebenfalls nicht markant verändert. Das in Realität gegenüber dem Modell leicht steifere Verhalten ist konsistent mit den statischen Versuchen. In Abbildung 10 ist ein einziger Querträger aus den Daten des terrestrischen Laserscanners ausgewertet. Die Daten lassen aber auch die Bestimmung der Einflusslinie jeglicher anderer Querträger innerhalb des Messbereichs zu (Bild 12).

12 Auswertung diverser Einflusslinien entlang der Untersicht zwischen S 2 und S 3 für eine Überfahrt © IGP/ETH Zürich

5 Das Fazit und ein Ausblick Aus den von der Ingenieurgemeinschaft Cowi-WaltGalmarini geplanten Versuchen konnten umfassende und zuverlässige Verformungs- und Kraftmessungen für statische Laststellungen und quasi-stati sche Lokomotivüberfahrten gewonnen werden. Die Messresultate korrelieren qualitativ und quantitativ gut mit dem FE-Modell, wobei dieses ein leicht weicheres Verhalten abbildet. Die bemessungsrelevanten Auswirkungen weichen maximal um ca. 10 % ab. Das Tragwerksmodell bildet sowohl das Verhalten im Bereich über der A13 mit asymmetrischer Lagerung als auch das symmetrische Verhalten über den Quadropods gut ab. Neben den konventionellen Messmethoden kann der Testeinsatz des terrestrischen Laserscanners der ETH Zürich als sehr erfolgreich beurteilt werden. Die Genauigkeit der Messmethode ist mit ± 1 mm mit dem Feinnivellement vergleichbar. Diese neue Methode eröffnet unzählige Möglichkeiten für die Vermessung von künftigen und bestehenden Brückenbauten und stellt somit eine vielversprechende Ergänzung bzw. Alternative zu herkömmlichen Messmethoden dar, zum Beispiel: – Aus flächenhaften Messungen können verschiedene differentielle Verformun gen innerhalb der vermessenen Flächen und folglich Zusatzinformationen abgeleitet werden wie Fahrbahnverwindung, Verformungsprofil der Untersicht und somit daraus zum Beispiel der Einspanngrad der Querträger in den Längsträger. – Die temporalen Profilmessungen können zum Beispiel verwendet werden, um für Zugüberfahrten Einflusslinien von etlichen Punkten an der Untersicht zu erhalten. Dies kann bei Untersu chungen zur Ermüdungssicherheit von bestehenden Eisenbahnbrücken sehr interessant sein. – Nächtlicher Einsatz, um den Bahnbetrieb während des Tages nicht zu beeinträchtigen.

Autoren: Dr. sc ETH Andreas Galmarini MSc. ETH Bau-Ing. Matthias Ludin WaltGalmarini AG Zürich, Schweiz Prof. Dr. Andreas Wieser MSc. ETH Geomatik-Ing. Lorenz Schmid Institut für Geodäsie und Photogrammetrie (IGP) ETH Zürich, Zürich, Schweiz Literatur [1] Trojaborg, S., Schenk, M., Galmarini, A., Firth, I.: Zweite Hinterrheinbrücke in Reichenau. Ein Bauwerk im Dialog; in: Brückenbau, 11. Jg., H. 1/2, 2019, S. 78–82. Bauherr Rhätische Bahn (RhB) AG, Chur, Schweiz

Architekten Dissing+Weitling architecture, Kopenhagen, Dänemark (Architektur) Hager Partner AG, Zürich, Schweiz (Landschaftsarchitektur)

Ingenieure Cowi UK, London, England WaltGalmarini AG, Zürich, Schweiz

Vermessung Schneider Ingenieure AG, Chur, Schweiz (Versuch) Institut für Geodäsie und Photogrammetrie (IGP), ETH Zürich, Schweiz (Versuch) Donatsch + Partner AG, Landquart, Schweiz (Bauwerk)

Dynamische Messungen ZC Ziegler Consultants AG, Zürich, Schweiz

Prüfingenieur Prof. Dr. Peter Marti, Winkel, Schweiz

Bauausführung Arbeitsgemeinschaft: Schneider Stahlbau AG, Jona, Schweiz (Stahlbau) Jörimann Stahl AG, Bonaduz, Schweiz (Stahlbau) Toscano Stahlbau AG, Realta, Schweiz (Stahlbau) Hebag AG, Winterthur, Schweiz (Lager) Erni Bau AG, Flims, Schweiz (Baumeister)

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