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Was ist / sind Spirit(s)?
Im ersten Teil der vorliegenden Skizze möchte ich die verschiedenen Bedeutungen beleuchten, die der Begriff Spirit beinhaltet. House of Spirits - Ein Haus in dem die Spirits wohnen? Was oder wer ist das, der da einen Raum hat, dort zu Hause ist?
Spirit ist ein aus dem Englischen stammendes Wort kommt ursprünglich aus dem Lateinischen spiritus, was so viel wie Atem oder Hauch bedeutet. Es hat vielfache Bedeutungen: Spirit ist der Geist, die Psyche und die Seele, das Bewusstsein. Spirits können als Geister oder Götter oder auch als mythologische Figuren, Helden, Krafttiere und Dämonen aufgefasst werden. Im Volksglauben ist der Geist das Lebensprinzip oder die belebende Kraft in allen Lebewesen. In der Psychologie verstehe ich unter Spirits auch Archetypen oder Persönlichkeitsanteile, die als Schwingung, Stimmungen, bestimmte Energien und Bewegungen wahrgenommen werden.Spirit steht auch für Enthusiasmus, Elan & Mut. In der jugendlichen Sprache ist der Begriff Vibe auch recht verwandt. Spirit wird auch verstanden als eine besondere Haltung oder Gemütsverfassung, ein vorherrschender Ton oder Tendenz, auch eine Gruppe oder eine Epoche kann einen bestimmten Spirit haben (Teamspirit, Zeitgeist). Es kann auch als als eine Lebenskraft und Ressource gedeutet werden, als etwas Sinnhaftes. Oft wird es als das Bild des bewussten Lebens; das vitale Prinzip im Menschen, das den Körper belebt oder zwischen Körper und Seele vermittelt verstanden.
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Im folgenden werde ich einige der Bedeutungen für Spirit(s) etwas genauer beleuchten.
Der Seelenvogel, u.a. inspiriert von korinthischen Darstellungen und Ägyptischer Mythologie
Spirit als der Geist
Eine geläufige Bedeutung des Wortes Spirit ist der Geist (altgriechisch pneuma, nous und auch psyche, lateinisch spiritus, mens, animus bzw. anima, hebräisch ruach und arabisch ruh, englisch mind, spirit, französisch esprit), ein uneinheitlich verwendeter Begriff in Philosophie, Theologie, Psychologie und Alltagssprache. Im Zusammenhang mit Bewusstsein kann man grob zwischen zwei Bedeutungskomponenten des Begriffs „Geist“ unterscheiden:
1. Bezogen auf die allgemeinsprachlich „geistig“ genannten kognitiven Fähigkeiten des Menschen bezeichnet „Geist“ zum Einen das Wahrnehmen und Lernen ebenso wie das Erinnern und Vorstellen sowie Phantasieren und sämtliche Formen des Denkens (des „Verstands“ oder der „Vernunft“) wie Überlegen, Auswählen, Entscheiden, Beabsichtigen und Planen, Strategien verfolgen, Vorher- oder Voraussehen, Einschätzen, Gewichten, Bewerten, Kontrollieren, Beobachten und Überwachen, die dabei nötige Wachsamkeit und Achtsamkeit, sowie Konzentration aller Grade bis hin zu hypnotischen und sonstigen tranceartigen Zuständen auf der einen und solchen von Überwachheit und höchster Geistesgegenwärtigkeit auf der anderen Seite.
2. Mit religiösen Vorstellungen von einer Seele bis hin zu Jenseitserwartungen verknüpft, umfasst „Geist“ die oft als spirituell bezeichneten Annahmen einer nicht an den leiblichen Körper gebundenen, nur auf ihn einwirkenden reinen oder absoluten, transpersonalen oder gar transzendenten Geistigkeit, die oft als von Gott geschaffen oder ihm gleich oder wesensgleich gedacht wird.
Spirit als die Psyche
Zudem wird der Begriff des Geistes oft synonym mit der Psyche verwendet, um sich auf die kognitive und emotionale Existenz eines Lebewesens zu beziehen. Die Psyche bezeichnet die Gesamtheit aller geistigen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale eines Individuums oder speziell eines Menschen. Sie beinhaltet Fühlen, Denken und sämtliche individuelle geistige Fähigkeiten, also somit auch unter anderem Denkvermögen, Lernfähigkeit, Emotionen, Wahrnehmung, Empfindung, Empathie, Wissen, Intuition oder Motivation. Darüber hinaus sind auch Träume mit der Psyche in Verbindung zu bringen.
Spirit als Seele / Bewusstsein
Der Ausdruck Seele hat vielfältige Bedeutungen, je nach den unterschiedlichen mythischen, religiösen, philosophischen oder psychologischen Traditionen und Lehren, in denen er vorkommt. Im heutigen Sprachgebrauch ist oft die Gesamtheit aller Gefühlsregungen und geistigen Vorgänge beim Menschen gemeint. In diesem Sinne ist „Seele“ weitgehend gleichbedeutend mit „Psyche“.
„Seele“ kann aber auch ein Prinzip bezeichnen, von dem angenommen wird, dass es diesen Regungen und Vorgängen zugrunde liegt, sie ordnet und auch körperliche Vorgänge herbeiführt oder beeinflusst.
Darüber hinaus gibt es religiöse und philosophische Konzepte, in denen sich „Seele“ auf ein immaterielles Prinzip bezieht, das als Träger des Lebens eines Individuums und seiner durch die Zeit hindurch beständigen Identität aufgefasst wird. Oft ist damit die Annahme verbunden, die Seele sei hinsichtlich ihrer Existenz vom Körper und damit auch dem physischen Tod unabhängig und mithin unsterblich. Der Tod wird dann als Vorgang der Trennung von Seele und Körper gedeutet. In manchen Traditionen wird gelehrt, die Seele existiere bereits vor der Zeugung, sie bewohne und lenke den Körper nur vorübergehend. In einer Vielzahl von Lehren wird angenommen, dass eine Seelenwanderung (Reinkarnation) stattfinde, das heißt, dass die Seele nacheinander in verschiedenen Körpern eine Heimstatt habe. In vielen indigenen Kulturen besteht eine Fülle von Vorstellungen und Begriffen, die sich ungefähr auf das beziehen, was Europäer traditionell unter Seele (im metaphysisch-religiösen Sinn) verstehen, oder zumindest auf etwas in bestimmter Hinsicht damit Vergleichbares. Aus religionswissenschaftlicher Sicht umfasst „Seele“ alles das, was sich „dem religiösen Menschen (an ihm selber und an anderen) als Mächtigkeit physischen und hyperphysischen (paraphysischen, parapsychischen, psychischgeistigen und postmortalen) Lebens offenbart“.3
Spirit als der Sinn
Spirit kann auch übersetzt werden mit Sinn. Die Frage nach dem Sinn ist elementar und ist eng verbunden mit den Fragestellungen „Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum sind wir hier auf Erden?“ und: „Wie sollen wir leben, um unseren Daseinszweck zu erfüllen?“ Dazu gehört auch die Entwicklung oder Annahme von sinngebenden Werten, Beziehungen und Haltungen. Von diesen Wertevorstellungen gibt es viele, jede Kultur, jede Gesellschaft und auch jeder einzelne Mensch entwickelt Antworten oder keine Antworten darauf. Die Diversität der verschiedenen Vorstellungen zeigen sich in verschiedensten Ansätzen.
So bestand der Sinn des Lebens in der Philosophie der Antike in der Hauptsache in der Erlangung der Glückseligkeit (eudaimonía). Im Hinduismus hingegen bedeutet für viele ein sinnvolles Leben nach den traditionellen „vier Lebenszielen“, nämlich Artha (Wohlstand), Kama (Begierde), Dharma (Pflicht, Moral) und schließlich als letztes Ziel Moksha, die Erlösung.
Im Ringen um Erlösung erreichte Buddha die oft ungenau als Erleuchtung bezeichnete Einsicht (Bodhi „Erwachen“) in die Ursache des Leidens und deren Aufhebung.
Der Sinn des Lebens im alten Buddhismus ist es, dem Kreislauf der Reinkarnationen im Samsara durch das Eingehen in das Nirvana zu entkommen, in das völlige Verlöschen4– was das Verlöschen der Sinnfrage logisch einschließt. In der Lehre der Buddhisten wird alles Leben und Tun als schließlich zum Leiden führend entlarvt.
Der Sinn des Lebens im Islam besteht darin, Allah zu dienen und sein Wohlgefallen zu erreichen. Dies wird im Koran in der Sure 51, Vers 56 so beschrieben: „Und die Menschen und die Dschinn habe ich erschaffen, nur damit sie mir dienen.“5 Im späten Mittelalter verlagerte sich der Schwerpunkt von der eher kollektiven auf eine individuellere Form des Lebenssinns, der in der persönlichen Nachfolge Christi und der mystischen Vereinigung mit Gott schon zu Lebzeiten gesucht wurde. Stark verkürzt kann man aus Sicht des Mittelalters als den Sinn des Lebens das darauf ausgerichtete Streben nach dem ewigen Leben, also die ewige und maximal mögliche Gemeinschaft mit Gott, angeben.
Auch zu Beginn der Neuzeit orientierten sich die meisten Menschen noch an der christlichen Lehre. Erst die Aufklärung begann die auf Frömmigkeit und Traditionen vertrauende, autoritätsgläubige Geisteshaltung kritisch zu hinterfragen. Der Mensch sollte sich wieder seines eigenen Verstandes bedienen (sapere aude) und die Verantwortung für sein eigenes Leben selbst übernehmen, statt sich auf weltliche oder kirchliche Institutionen zu verlassen.
Einen radikalen Ansatz vertrat Friedrich Nietzsche. Nach seiner Analyse lebte er in einer Zeit, die er als zerrissen betrachtete, geprägt vom inneren Verfall. Gott war für den Menschen kein Leitbild mehr (Gott ist tot). „Das verehrende Herz zerbrechen, als man am festesten gebunden ist. Der freie Geist. Unabhängigkeit, Zeit der Wüste. Kritik alles Verehrten.“6 Diese Haltung ist kennzeichnend für den Nihilismus, die Zeit der absoluten Wert- und Sinnlosigkeit.
Hermann Hesse formulierte hierzu: „Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe: das heißt: je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller wird unser Leben.“7 Der moderne Hedonismus widerum betont das Erleben und Erstreben von sinnlicher Lust.
Das Stellen der Frage nach dem Sinn des Lebens muss also allerdings nicht zwingend eine positive bestimmte Antwort nach sich ziehen. Es gibt ähnlich wie bei Friedrich Nietzsche vor allem im Existentialismus die Auffassung, das Leben habe keinen Sinn an sich. Wie Albert Camus in „Der Mythos des Sisyphos“8 ausführt, widerspreche diese Vorstellung allerdings nicht notwendigerweise der Bejahung des Lebens und dem Glück des Menschen, das gerade in den nie endenden Anstrengungen gegen eine absurde Welt gefunden werden könne.
4 Gautama Buddha (überliefert): Dígha Nikáya (DN 16), Maháparinibbána Sutta
5 Der Koran. Arabisch: Qurʼān. Übersetzt von Rudi Paret Kohlhammer, Stuttgart 2010
6 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer–Herbst 1884 (26 | 47)
7 Hesse, Hermann in einem Brief vom 16. Juni 1956 an Marianne Wedel, abgedruckt in: Hermann Hesse: Lieben, das ist Glück. Gedanken aus seinen Werken und Briefen. Liebe, Glück, Humor und Musik Zusammengestellt von Volker Michels, Suhrkamp, Frankfurt 2008
8 Camus, Albert: Das Absurde entsteht aus dieser Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die ver nunftwidrig schweigt. In: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Rowohlt 1959
Verschiedenen psychologischen Ansätzen nach wählen viele Menschen den Weg der Verdrängung. Sie weichen einer Auseinandersetzung mit der Sinnfrage und letztlich auch mit sich selbst aus. So „funktionieren“ sie zwar im Alltag unauffällig weiter, doch haben sie, im Wortlaut der Existenzphilosophie, eine Existenzform der Uneigentlichkeit (Martin Heidegger)9, d.h. eine nicht authentische Lebensweise gewählt. Eine andere Reaktion ist der Zynismus. Davon spricht man, wenn Menschen zwar eine große Sinnleere in ihrem Leben empfinden, das Leiden daran jedoch unterdrücken.
Ihr Leben wird dann nur noch von Sachzwängen und dem Selbsterhaltungstrieb vorangetrieben.10 Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebenssinn kann jedoch auch zu positiven Antworten führen. Nach Viktor Frankl kann der Mensch seinem Leben prinzipiell in jeder Situation Sinn abgewinnen oder geben, solange er bei Bewusstsein ist. Der ehemalige KZ-Häftling zog aus den persönlichen Erfahrungen des Holocaust die Erkenntnis: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“11 Dies gilt selbst für Extremsituationen. „Was ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was er ist.“12
Aus der Fülle und Diversität der hier angerissenen Vorstellungen möchte ich sehr verkürzt herausstellen: Dieses WARUM kann also auch als ein Spirit aufgefasst werden, mit und nach dem man lebt, schwingt, den man bei sich im Herzen trägt, nach dem man fühlt und handelt, nach dem das Mind-Set oder auch ein philosophischer bzw. religiöser Lebenswandel orientiert ist.
Spirit als die Stimmung / die Schwingung und Resonanz
„Resonanz ist das Versprechen der Moderne – Entfremdung ist ihre Realität.“13
Spirit kann auch als eine Schwingung oder Stimmung aufgefasst werden. Ein good Vibe oder Bad Vibe sind Spirits, die wahrgenommen werden. Die wechselseitige Aufnahme und Abgabe von emotionalen Schwingungen wird als Resonanz bezeichnet. Resonanz (von lateinisch resonare: wiederhallen) bezeichnet in der Physik und Musik die Beziehung zwischen zwei schwingungsfähigen Körpern, wobei der eine den anderen zum Mitschwingen in dessen Eigenfrequenz anregt. Entspricht die anregende Frequenz der Eigenfrequenz des angeregten Körpers, dann kann dieses um ein Vielfaches stärker schwingen als bei anderen Frequenzen.
9 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. (Erste Hälfte.) In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band 8, 1927, S. 1–438
10 Sloterdijk, Peter: „In dem Augenblick, in dem unser Bewusstsein reif wird, die Idee des Guten als eines Zieles fallenzu lassen und sich dem, was schon da ist, hinzugeben, wird eine Entspannung möglich, in der das Aufürmen von Mitteln zu Gunsten imaginärer, immerferner Ziele sich von selbst erübrigt. Nur vom Zynismus her läßt sich der Zynismus ein dämmen, nicht von der Moral aus.“ In:Kritik der zynischen Vernunft Band 1, Suhrkamp, Frankfurt 1983, S. 367
11 Frankl, Viktor: Psychotherapie für den Laien. Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde. 4. Auflage. Freiburg 1973, S. 67
12 Ebd.
13 Hartmut Rosa Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung Suhrkamp, 2016
Spiegelneuronen, inspiriert vom Buchcover „Der Teil und das Ganze“

In seinem Buch „Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehung“14 beschreibt der Jenaer Professor für allgemeine und theoretische Soziologe Hartmut Rosa Resonanz und Entfremdung als allgemeine Formen der Weltbeziehung. Den Begriff Resonanz verwendet Rosa als physikalische Metapher zur Beschreibung einer spezifischen Art und Weise, wie ein Mensch mit der Welt in Beziehung steht bzw. sich mit ihr in Beziehung setzt. Nach Rosa gibt es Resonanzprozesse sowohl zwischen Menschen, als auch zwischen Psyche und Körper, Geist und Leib, als auch zwischen dem Menschen und seiner sozialen, ökologischen, ästhetischen usw. Umwelt.
Wenn wir anderen Menschen begegnen, löst das eine Resonanz in uns aus. Auf einer sehr direkten und einfachen Ebene entsteht Gefühlsansteckung wahrscheinlich allein schon dadurch, dass wir permanent und ganz automatisch die Mimik, Stimme, die Gesten und die Körperhaltung unseres Gegenübers nachahmen. Indem wir mitschwingen, beispielsweise den wütenden Gesichtsausdruck des anderen imitieren und selbst die entsprechenden Muskeln aktivieren, entsteht auch in uns ein ähnliches Gefühl, wenn auch in abgeschwächter Form. Neurowissenschaftlich kennen wir das Phänomen von Spiegelneuronen15, die im Gehirn von Primaten beim Betrachten eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster zeigt wie bei dessen eigener Ausführung. Wer ein trauriges Gesicht sieht, aktiviert demnach typische Hirnregionen, die an der Verarbeitung von negativen Emotionen beteiligt sind. Das Mitempfinden von Schmerz oder Angst ist evolutionsbiologisch sinnvoll – zum Beispiel für eine schnelle Fluchtreaktion aber auch zur Gemeinschaftsbildung. Der Bindungsforscher Winfried Bion beschreibt den primären Vorgang der Spiegelung und Resonanz der Empfindung des Babys durch die Aussenwelt (Mutter) als Containing.16 (Bei fehlender Resonanz der Mutter können Bindungsstörungen entstehen.)
Unsere Fähigkeit, zu spiegeln, Empathie für jemand anderes zu entwickeln, einen Vibe aufzunehmen, in Resonanz zu gehen, bedeutet den gleichen Spirit zu teilen. Ein gutes Beispiel ist hier auch der bekannte Teamspirit, wo eine Gruppe von Menschen zusammen schwingt. Bei Ritualen kreieren z.B. die Teilnehmer einen gemeinsamen Spirit, indem sie in Resonanz gehen, der einer Sache dient, gelebt und erfahren wird.
Spirits als (Lebens)- Kräfte / Ressourcen
Oftmals verstehen Menschen unter dem Begriff Spirit auch eine Art Lebensenergie, eine Kraft. Diese Kraft wird in meinen Augen gut verbildlicht in der Vorstellung von Krafttieren - ein Begriff für ein Geistwesen in Tiergestalt, das in der Esoterik und im (Neo) - Schamanismus verwendet wird. Sie gelten als Hüter eines Menschen, geben diesem Kraft und begleiten ihn auf seinen Wegen. Ein Krafttier kann auch in schwierigen Situationen oder Lebensphasen auftreten und seinen Schützling in dieser Zeit unterstützen, beraten und stärken.
Transformations-Maske, geöffnet und geschlossen, inspiriert von Nuxalk-Indianern
Tanz, begleitet durch Trommeln, ist eine der häufigsten Methoden, sich in den Tierspirit zu verwandeln. Der Spirit des Tänzers findet seinen dramatisierten Ausdruck in Tanzschritten, Bewegungen, Tempo, Mienen, Lauten und Gebärden: im schleichenden Schritt, dann in fliegenden Sprüngen des wild brüllenden Kriegers, oder im schaukelnden Gang der Bärenmutter, in den gummiähnlichen, reptil-artigen Windungen der Schlange. Oft trugen die Schamanen besondere Masken und Kostüme, um die Vereinigung mit ihrem Krafttier zu verstärken. Der Besitzer eines Schutztieres verfügt über die Kraft dessen ganzer Art oder Gruppe, obwohl er tatsächlich nur durch die individualisierte Manifestation damit verbunden ist.17
Krafttiere sind uns allen geläufig, finden sich wieder als Wappentiere wie Adler, Steinböcke, Enten, Schwäne, Bären und Löwen in der Heraldik. Der Hengst im Logo von Ferrari symbolisiert Stärke und Männlichkeit, ebenso Marken- und Produktnamen wie Jaguar, Mustang und Puma. Es herrschen sprachliche Stereotypen von der eitlen Gans, der blöden Kuh, der falschen Schlange, dem verrückten Huhn, dem sturen Esel, dem Schlaufuchs, dem feigen Hund, dem Angsthasen, Ameisenhirnen und Pistensäuen.
Auch in Märchen finden sich Krafttiere häufig wieder und erzählen häufig von Menschen, die sich in Tiere verwandeln. Ein paar Beispiele sind hier der gestiefelte Kater, Jorinde und Joringel, die sieben Raben, der Bär in Schneeweißchen und Rosenrot, oder auch der Froschkönig.
In der systemischen Psychologie entspricht die Vorstellung von Krafttieren den Ressourcen, die ein Mensch hat, Kräfte, die mobilisiert werden können, ihm zu eigene Stärken. Das Spielen, Tanzen, Performen und auch die nötigen Accessoires dazu wie Kleidung oder Requisiten sind Hilfsmittel, um dem Spirit Raum zu geben, ihn zu malen, erblühen und erstarken zu lassen. Ich selbst habe dies sowohl beim Theaterspielen, bei Performance, in der kommunikations-basierten Bewegungstherapie und auch im Psychodrama schon erlebt.
Spirits als Götter, Archetypen, Symbole
(auch: Persönlichkeitsanteile)
Spirits können ähnlich der Krafttiere als als Götter, als Archetypen – kurz als Symbol aufgefasst werden. Symbole sind bildliche Darstellungen einer Idee oder eines Prinzips – oder hier: eines Spirits. „Das Symbol ist ein ,Bild‘, dem unser Geist Sinn zuschreibt“18, so definieren auch die Psychoanalytiker Benedetti und Rauchfleisch ein Symbol. Die bilderproduzierende Psyche „setzt uns ins Bild‘‘ über innere Zustände, Motive und Vorgänge, erweitert so über das Symbolerleben die Selbsterfahrung des Menschen und gibt Hinweise für das Selbst- und Weltverständnis.
Symbole wirken auf das Denken und Fühlen, auf Wahrnehmung, Phantasie und Intuition, sie verbinden Bewusstes und Unbewusstes. Menschliche Bewusstwerdung vollzog und vollzieht sich durch das Medium der Symbolik.
Wenn ein Zeichen, ein Objekt, eine Handlung einen inneren Sinn- und Bedeutungsgehalt hat, wird es zum Symbol. So wurde ein Ortsname wie Auschwitz zu einem hochkomplexen Symbol für den Holocaust. In Ritualen wird und wurde exzessiv von Symbolen Gebrauch gemacht. Die Adlerfeder symbolisiert den grossen Geist, die Hostie den Leib Christi. Die Verbindung von Symbolen und Symbolisiertem wird hier oft als sehr konkret aufgefasst.
Ein Symbol entsteht also, indem ein äußeres Objekt mit einem geistigen Inhalt, einem Sinn und einer Bedeutung zu einer Ganzheit zusammengebracht wird. Diese Fähigkeit, der Welt und ihren Dingen Sinn zu verleihen, ist die spezifisch menschliche Fähigkeit der Symbolisierung. Sie ist eine der höheren Ich-Leistungen, die sich im Prozess der menschlichen Bewusstseinsentwicklung herausgebildet hat. Es ist uns „angeboren‘‘, Innen und Außen zusammenzubringen, die Welt in inneren Bildern zu erleben. Schon die frühen Höhlenmalereien und die archäologischen Funde aus der prähistorischen Zeit zeugen davon. Ehe die Menschen begannen, in Begriffen zu denken, erlebten und dachten sie ihre Welt in Bildern. Bildhaftes Denken ist aber nicht nur eine frühe Entwicklungsstufe des menschlichen Bewusstseins, sondern die bildliche Repräsentationsfähigkeit ist ein Kodierungssystem des Gehirns, das mit anderen Systemen in Wechselwirkung steht. Innere Bilder sind hochkomplexe neuronale Verschaltungsmuster zwischen den Nervenzellen im Gehirn. „Immer dann, wenn eine solche Verschaltung aktiviert wird, entsteht ein bestimmtes Erregungsmuster, das sich auf andere Bereiche ausbreiten und auf diese Weise das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen in eine bestimmte Richtung lenken kann‘‘19, so beschreibt Gerald Hüther die inneren Bilder.
Archetypen sind symbolhaft für Spirits. Der Begriff der Archetypen wurde entwickelt von C.G. Jung, Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie. Das Konzept des kollektiven Unbewussten ist bei Jung nicht trennbar von seiner Theorie der Archetypen: „Der Begriff des Archetypus, der ein unumgängliches Korrelat zur Idee des kollektiven Unbewußten bildet, deutet das Vorhandensein bestimmter Formen in der Psyche an, die allgegenwärtig und überall verbreitet sind.“20
Archetypen seien uns allen eingegrabene, bleibende Muster in der menschlichen Psyche, die über Zeiten mächtig und präsent bleiben. Archetypische psychische Muster bewirken nach Jung Grundmotive menschlicher Vorstellungen, die aus den kollektiven Bereichen (Kollektives Unbewusstes) der Psyche heraus auf die individuelle Psyche einwirkten. Sie entwickelten eine bedeutende, unwillkürliche emotionale Kraft (Numinosum)21, eine vom Religionswissenschaftler Rudolf Otto als unbegreifliche und Faszination und zugleich Schauder erweckende beschriebene Kraft, die oft stärker sei als der bewusste Wille des Menschen.
Marken und ihre Archetypen nach Gutjahr
Sie können monotheistisch auch gesehen werden als verschiedene Facetten eines Gottes, eine numinose Realität. Eine andere Sichtweise wäre, Archetypen als Paradigmen und Metapher, als das Muster im Kopf, wie man die Welt betrachtet, zu sehen. Archetypen können auch als verschiedene Persönlichkeitsanteile interpretiert werden. Auch als Vergleich mit einem Hologramm ist die Idee von Archetypen denkbar: Genauso wie die Archetypen innerhalb (als Persönlichkeitsanteile) und ausserhalb von uns sind (in der Begegnung bei anderen Menschen sichtbar) ist ein ganzes Hologramm in jedem seiner Teile enthalten.
Dem Bewusstsein erscheinen die Archetypen als typische, häufig zu beobachtende Verhaltensmotive und symbolische Vorstellungen, die sich in der Gesellschaft auch als kulturelle Narrative, Bilder, Gegenstände oder Ritualen manifestieren. Sie finden wir bei Göttern, in Märchen, Mythen und Sagen oder heute in Film, Fernsehen, Serien die uns tief, ergreifend, universell und zuweilen sogar erschreckend erscheinen. Wir sehen sie auch, wenn wir unser Leben und unserer Freunde Leben betrachten. Zuweilen sind sie bereits an der Körpersprache erkennbar.
Ging C.G. Jung noch davon aus, dass Archetypen vererbbar sind, so weiß man heute, dass sie erlernt werden, also ein eher sozialpsychologisches oder kultur-anthropologisches Phänomen sind. Nach wie vor werden Archetypen in der Psychotherapie angewandt, z.B. um Ressourcen aufzuspüren, Träume von Patienten zu deuten und Traumata zu therapieren. Auch die Wirtschaft und hier insbesondere die Markenführung und die Organisationspsychologie machen sich das Archetypenkonzept zunutze.
In der Markenführung werden Archetypen herangezogen, um Kunden emotional anzusprechen, und sie dadurch kundenrelevanter zu positionieren. Die Marke soll einen ganz bestimmten Spirit ausstrahlen, wie zB. Dove etwas Reines, Unschuldiges (Archetyp der Unschuldige) oder zB. Axe Deodorant, das etwas Rebellisches (der Abenteurer) umweht. Die Organisationspsychologie analysiert Unternehmenskulturen, aber auch einzelne Mitarbeiter nach dem Archetypenkonzept und leitet daraus Personalentwicklungs- und Organisationsentwicklungsmaßnahmen ab.
Die Vorstellung von Archetypen ist nie ganz rein übersetzbar. In der Psychologie spricht man daher von Persönlichkeitsanteilen, also verschiedene Archetypen, die anteilig in einer Person vorhanden sind, bzw. auch je nach Rolle und Umfeld sich verändern, stärker oder schwächer zum Vorschein treten können.
Eine praktische Form der Begegnung mit Archetypen stellt die Heldenreise dar. Der Mythologe Joseph Campbell22 erforschte Grundmuster von weltweiten Heldenerzählungen, wovon Paul Rebilliott eine innere Reise mit einer archetypischen Grundstruktur entwickelte. Damit verbunden ist meist ein psychologisches Ziel, eine Erkenntnis oder ein Reifeprozess.
Spirit als Persönlichkeit
Spirit kann auch als das individuelle Bewusstsein einer Person und deren Persönlichkeit bezeichnet werden - Der Geist einer Person. Die Persönlichkeitspsychologie (Persönlichkeitsforschung) hat in der Charakterkunde (Charakterologie) und biographischen Psychologie eine lange Vorgeschichte. Seit alters her gibt es Versuche, den Charakter, das Temperament und die Begabung eines Menschen insgesamt zu erfassen, zu erklären und zu verstehen. In fast allen Kulturen sind Einteilungen in bestimmte Persönlichkeits-Typologien bekannt, die spirituelle oder medizinische Zusammenhänge haben, wie zb. das Medizinrad bei den Nordamerikanischen Indianern, die tantrische Lehre von den Chakras, die ayurvedischen Doshas, die mittelalterliche 4 Säfte-Lehre oder auch die Bedeutung der Elemente in der traditionellen chinesischen Medizin anklingen lassen.
Im 20ten Jahrhundert entwickelten sich verschiedene Persönlichkeitsmodelle, die in Typologien, in Psychodynamische Modelle und Faktorenanalytische Modelle unterteilt werden. Die Persönlichkeitstypologien wurden inzwischen durch statistischfaktorenanalytisch begründete mehrdimensionale Persönlichkeitsmodelle abgelöst und spielen heute nur noch eine historische Rolle. Gutjahr beschreibt vier Grundstrebungen des Menschen, die unterschiedliche archetypische Verhaltensmuster verdeutlichen. Er stellt dabei Ordnung/Sicherheit und Dominanz/Macht gegenüber, sowie Solidarität/Zugehörigkeit und Freiheit/Unabhängigkeit. 23 Vergleichbar ist dieser Ansatz mit dem Riemann-Thomann-Modell aus der Psychologie. Auch hier werden die typischen menschlichen Verhaltensweisen durch Ausprägungen an zwei Achsen gegenübergestellt. Das Streben nach Nähe steht dem Streben nach Distanz gegenüber und das Streben nach Dauer dem Streben nach Wechsel. Riemann beschrieb dies zuerst in Grundformen der Angst, aber auch die Fähigkeiten dazu. So zb. bedeutet eine depressive Ausrichtung auch die Fähigkeit zu großer Nähe zu anderen Menschen und Hingabe24. Mark und Pearson wählen einen sehr ähnlichen Ansatz und ordnen jeweils drei der zwölf Archetypen den menschlichen Grundhaltungen Stability, Mastery, Belonging oder Independence zu. 25 Etabliert ist das Big Five Modell26. Es gilt heute als das universelle Standardmodell in der Persönlichkeitsforschung. Die Big Five ist ein Ansatz zur umfassenden Beschreibung der menschlichen Persönlichkeit. Die fünf Faktoren gelten als die empirisch mit am besten nachgewiesenen Persönlichkeitsmerkmale (Differentielle Psychologie). Demnach läßt sich die Persönlichkeit eines Menschen beschreiben durch sein Maß an Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus.
In der heutigen Persönlichkeitspsychologie wird über die Beschreibung einzelner Merkmale und Persönlichkeitseigenschaften hinaus nach dem Muster und dem inneren Zusammenhang, nach der Struktur und Dynamik sowie den Entwicklungsprinzipien der gesamten Persönlichkeit gefragt.
23 Gutjahr, Gert: Markenpsychologie, Springer Gabler, 2013
24 Riemann, Fritz: Grundformen der Angst, Ernst-Reinhardt-Verlag, 1961
25 Pearson, Carol S. & Mark, M.: Building extra-ordinary Brands through the power of Archtypes, McGraw Hill Book Co, 2001
26 auch OCEAN-Modell genannt: Openness, Conscientiousness, Extraversion, Agreeableness, Neuroticism oder auch Fünf-Faktoren-Modell, FFM
Die Persönlichkeitspsychologie verlangt teilweise auch eine andere methodische Einstellung, d. h. nicht nur beschreibende, experimentelle und statistische Methoden, sondern auch psychologische Interpretation und biographische Methodik, um den Lebens- und Entwicklungszusammenhang einer Persönlichkeit zu begreifen.
Kommen wir zurück zum Spirit. Der Spirit einer Person kann also aus mehreren anteiligen Spirits bestehen. Das ist auch nicht verwunderlich, da wir multifaktoriell geprägt sind, durch transgenerationale, biologische, soziale und viele weitere Einflüsse. Das was ich bin, bin ich selbst (mein Spirit), aber ich bin bestehend aus vielen Spirits. Dieses scheinbare nicht klar abgrenzbare Paradox – ich bin alle und alle sind ich – ist besonders spürbar z.B. bei Gruppentherapien, im Psychodrama, bei Stellvertreterarbeit. Bei der therapeutischen Arbeit ist es das Phänomen von Übertragung und Gegenübertragung – welches Bild, welches Symbol, welche Resonanz wird im Kontakt erweckt? In diesem Moment ist es ein Anteil, eine Erfahrung, ein Spirit, der klingt, und vielleicht ein Gefühl oder eine Erinnerung hervorruft und es möglich macht, diesen Anteil des anderen in sich zu spüren.
Ein anderes Bild für die Gleichzeitigkeit von einem Spirit und mehreren Spirits, aus denen alles besteht, ist eine Herde und das einzelne Tier. Das systemische Denken und das biopsychosoziale Modell kennen dieses Zusammentreffen auch, ein System kann wiederum aus verschiedenen Untersystemen bestehen, wie z.B. ein Organ aus Zellen. Diese Vorstellung kann also theoretisch bis ins (unendlich) Kleinste und Größte gedacht werden, was heisst, dass wir Menschen stets nur einen Ausschnitt der Realität fassen können und auch, dass es gleichzeitig ein unfassbar unheimliches und geborgenes Gefühl gibt. Gleichzeitig nur ein kleiner Teil zu sein, eine Welle im Ozean, und aber ein eigenständiges Königreich. Das bedeutet in meinen Augen Verantwortlichkeit, Vertrauen und Demut.
Spirit als Mut und Elan
„The orchestra performed The Rite of Spring with great spirit.“ Spirit kann auch ganz einfach als Mut, Elan und Motivation aufgefasst werden. Wer kennt es nicht: Wenn jemand beherzt und mutig ist, dann ist er von einem Spirit durchdrungen, wie ein Held, der einer Aufgabe folgt, beseelt ist, alle Hürden und Hindernisse nimmt, sich den Kämpfen stellt. Er hat etwas in sich, was ihn treibt.
Im Sport kennen wir es auch als den olympischen Spirit. Der Archetyp des Kriegers ist das Symbol für den Spirit des Mutes, seine Wangen glühen, er geht an Grenzen, beschützt sie aber auch. Mutig heisst sich Aufgaben stellen, Verantwortung zu übernehmen.
Spirit als Geister
Spirits werden auch als Geister verstanden, oder Gespenster. In fast allen schriftlosen Kulturen herrschte traditionell ein kollektiver Geisterglaube, es gab traditionell besondere Spezialisten der Geisterbeschwörung, die heute zumeist vereinheitlichend als Schamanen bezeichnet werden. Häufig gibt es die Vorstellung von Ahnengeistern und Totengeistern sowie von Schutzgeistern und Naturgeistern. 27
Naturgeister gibt es in Märchen und Mythen (zb. der Eisenhans, der grüne Mann, Nymphen) Werden Objekte der Natur – Tiere (bisweilen auch ganze Tiergruppen), Pflanzen, Quellen, Felsen, Berge uvm. – als beseelt betrachtet, so spricht man im ethno-religiösen Fachjargon von animistischen Auffassungen. Animisten betrachten jeden noch so kleinen Teil der Welt, der von ihnen als beseelt aufgefasst wird, als einen Ehrfurcht gebietenden Kosmos. Für sie gibt es keinen Unterschied zwischen spiritueller Welt und materieller Welt. In Reinform sind solche Ideen vor allem bei Jäger-Sammler-Kulturen verbreitet. Auch der Shintoismus28 ist eine animistische Vorstellung. Animismus bezeichnet nach Jean Piaget und Hans Zulliger29 in der Psychologie das Phänomen, bei dem Personen annehmen, dass unbelebte Dinge wesenhaft sind und ihnen Eigenschaften zuschreiben. Kinder erleben diese Denkweise im sogenannten präoperationalen Stadium, das sich vom zweiten bis zum siebten Lebensjahr erstreckt.
Exkurs: New Materialism
Erwähnen möchte ich hier noch eine zeitgeistige philosophische Strömung, den sog. New Materialism, Neo Materialism oder Neuer Materialismus. Die Begriffe bezeichnen eine interdisziplinäre und heterogene theoretische Strömung, die sich mit den Beziehungen des Menschen zu Technologie, Natur und Umwelt befasst. Der Begriff Neuer Materialismus wurde in den 90er Jahren geprägt und kann als Reaktion auf die durch ökologische Krisen veränderte Umwelt und den rapiden technischen Fortschritt betrachtet werden. Gemeinsamkeiten mit alten Materialismen sind die Vorstellungen, dass Subjekte keine essenziellen Eigenschaften haben und, dass das „menschliche (...) Bewusstsein (...) nicht unabhängig von der Wahrnehmung und Interaktion mit der Welt“ existiert30, sondern sich im Wechselverhältnis befindet.
28
(Illstr.): Dtv-Atlas Ethnologie 2. Auflage. dtv, München 2010. S. 241
In Japan gibt es die Religion und Kultur des Shintōismus. Das Wort shintō entstammt dem Chinesischen, wo es shéndào ausgesprochen wird. Dabei hat shen hier die Bedeutung von „Geist, Gott bzw. Gottheit“, während dao hier vereinfacht mit „Weg oder Pfad“ übersetzt werden kann. Die vieldeutige, polytheistische Natur der einheimischen Göt ter (kami) macht es schwer, einen gemeinsamen religiösen Kern im Shintō zu finden. Kamis werden meist als Geistwe sen bezeichnet, weil sie oft unsichtbar sind. Zu den Kamis gehören Baumgeister, Gottheiten, verstorbene Seelen und Naturphänomene. Auch der Buddha oder die Bodhisattvas, werden als Kami bezeichnet. Die Kamis können sich in die Lage der Menschen hineinversetzen und können auch menschliche Emotionen zeigen. Im Animé-Film„Prinzessin Mononoke“ zb. wird ein uralter, mystischer Wald wird von Geistern bevölkert. Die alten Bäume gelten als Geister-Müt ter, die den Wald gesund halten.
29 Amann, Wipplinger, erschienen 2008 bei Braumüller; Martin Püttschneider: Die Rolle des Animusmus bei der Vermittl ung chemischer Sachverhalte: eine Interventionsstudie am teutolab der Universität Bielefeld. Cuvillier Verlag; 2005. Abenteuer Psyche, S. 106
30 Garske, Pia: What’s the „matter“? Der Materialitätsbegriff des „New Materialism“ und dessen Konsequenzen für femi nistisch-politische Handlungsfähigkeit. In: PROKLA. Nr.174, Jg. 44/Nr. 1, 2014
Im Unterschied zu älteren Formen des Materialismus beansprucht der neue Materialismus, Materie nicht als passiv, inaktiv, und einheitlich, sondern als aktiv, wirkmächtig und plural zu begreifen. Statt stumme Verfügungsmasse und einfaches Objekt menschlichen Zugriffs zu sein, zeichne sie sich durch Eigensinn und Handlungsmacht aus, die auf menschliche Akteure und deren Interaktionsformen und Selbstverständnis zurückwirke31. Dh: Wenn ich in Interaktion mit einem Material gehe, dann reagiert nicht nur das Material auf mich, sondern auch ich werde mit der Energie des Materials in Kontakt gehen und beeinflusst werden. Der Fokus des neuen Materialismus liegt auf dem lebendigem Austausch von Materie, Energien und Dingen. Jane Bennett, eine weitere einflussreiche Vertreterin des Neuen Materialismus, schreibt Dingen (non-humans) thing-power zu. Dieses Konzept beschreibt, dass Dinge nicht nur widerständig auf Äußeres reagieren, sondern eine aktive, vitale, positive Agency besitzen (Handlungsmacht). Diese neue Ontologie oder (u. a. nach Donna Haraway32 bezeichnete) flat ontology, betont die Verwobenheit bzw. „Intraaktion“ von Natur und Kultur. Dinge haben also die Fähigkeit, Sachen passieren zu lassen, Effekte zu produzieren, zu handeln, lebendig zu werden, denn sie sind lebendige Einheiten. Der New Materialism erweitert die animistische Vorstellung darauf, dass ALLES in Schwingung und Austausch steht, und damit einen Spirit hat.
Ähnlich wird dies auch z.B. durch die Heisenbergsche Unschärferelation erfasst: es ist nicht differenzierbar, ob ein Elektron sich in einem Orbit befindet oder eine Welle ist. Die Wirklichkeit ist keine objektive beobachtbare Wirklichkeit – vielmehr sind wir als Beobachter immer Teil der beobachteten Wirklichkeit. 33Die Bahnen der Elektronen entstehen dadurch, dass wir sie beobachten. Atome sind keine Einzeldinge. Bedeutung gewinnt ein einzelnes Teilchen immer nur in Verbindung mit dem Ganzen. Heisenberg beschreibt dieses Verständnis in seinem Buch „Der Teil und das Ganze.“34
„Das Außen ist keine erstarrte Grenze, sondern eine bewegliche Materie, belebt von peristaltischen Bewegungen, von Falten und Faltungen, die ein Innen bilden: nicht etwas anderes als das Außen, sondern genau das Innen des Außen.“35
Diese Vorstellung einer ALL EINEN (hier: Deleuze) Verbundenheit und permanenten gegenseitigen Resonanz der Welt, die nicht mehr unterteilt wird in unbelebt oder belebt, spiegelt sich auch in Vorstellungen von Gilles Deleuze vom Rhizom36, von einem Zusammenhang der Dinge und Energien, der netzartig, dynamisch und grenzenlos ist und ein hohes Mass an kreativem Potenzial besitzt.
31 Bennett 2004; Colebrook 2008; Coole / Frost 2010b; Barad 2012a
32 Haraway, Donna: Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Campus Verlag, 2018
33 Die Heisenbergsche Unschärferelation oder Unbestimmtheitsrelation (seltener auch Unschärfeprinzip) ist die Aussa ge der Quantenphysik, dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau be stimmbar sind. Das bekannteste Beispiel für ein Paar solcher Eigenschaften sind Ort und Impuls.
Die Unschärferelation ist nicht die Folge technisch behebbarer Unzulänglichkeiten eines entsprechenden Messinstru mentes, sondern prinzipieller Natur. Sie wurde 1927 von Werner Heisenberg im Rahmen der Quantenmechanik formu liert. Die Heisenbergsche Unschärferelation kann als Ausdruck des Wellencharakters der Materie betrachtet werden.
34 Heisenberg, Werner: Das Teil und das Ganze, Piper, 1969
35 Deleuze, Gilles, 1987
36 Vogel, Joseph über den Rhizom-Begriff: https://www.dctp.tv/filme/prime-time-30-09-2007?thema=joseph-vogl
Die Vorstellung von einer Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung von Prozessen finden sich ebenfalls in den Begriffen der Mimesis und Synchronizität37 wieder.
Dark Spirits: Dämonen und Schatten
„...die Spezialisten für das Unsichtbare (...) bestanden einhellig darauf, die Geister seien ambivalente Wesen und damit nicht klar abgegrenzten, gegensätzlichen Kategorien zuzuordnen. Man kann die Welt nicht Schwarz-Weiss malen. (...) Alles Leben besteht auf der Verbindung dieser beiden Kräfte.“38
Es gibt auch unheimliche oder grauenhafte Spirits, ich nenne sie hier Dämonen oder auch Schatten. Über den inneren Kriegsschauplätzen und Schlachtfeldern schweben die Dämonen. Sie ernähren sich von den aufsteigenden Ausdünstungen des Leids. Die meisten Menschen meiden sie, gelten als unheilvoll. Dabei weisen sie uns eindeutig darauf hin: Schau hier her! Hier ist der Schmerz, das Leid. Das griechische Wort daimon bezeichnet urspünglich in der griechischen Mythologie und Philosophie ein Geistwesen. Die daimones vermitteln zwischen Göttern und Menschen.39
Als Dämon wird in verschiedenen Mythologien, Religionen und mystischen Lehren zunächst ein Geist oder auch eine Schicksalsmacht als warnende oder mahnende Stimme (des Gewissens) und Verhängnis verstanden.
Unter christlichem Einfluss wandelte sich die Bedeutung dann bis zu einem Handlanger des „Teufels“, und somit wird heute als Dämon entgegen dem neutralen bis eher positiven Sinn des Ursprungswortes für die gemeinten Geisteserscheinungen oder Geisteswesen häufig ein solches Wesen bezeichnet, das nach allgemeiner Vorstellung Menschen erschreckt, bedroht oder ihnen Schaden zufügt, also als böses Geistwesen erscheint. In der schamanischen Kosmologie sind Dämonen so etwas wie Krankheitsgeister.
37 Als Synchronizität (altgriechisch syn, deutsch: mit, gemeinsam und chronos: Zeit) bezeichnete C.G. Jung zeitlich korrelierende Ereignisse, die nicht über eine Kausalbeziehung verknüpft sind (die also akausal sind), jedoch als miteinander verbunden, aufeinander bezogen wahrgenommen und gedeutet werden. Es handelt sich bei der Synchronizität um ein inneres Ereignis (eine lebhafte, aufrührende Idee, einen Traum, eine Vision oder Emotion) und ein äußeres, physisches Ereignis, welches eine (körperlich) manifestierte Spiegelung des inneren (seelischen) Zustandes bzw. dessen Entsprechung darstellt. Das heisst, die innere Matrix – Gedanken, Gefühle, Muster und Prägungen, Erlebnisse – korrespondiert in wechselseitiger Beziehung mit der äußeren Welt. Die Spiegelung von innen und aussen nennt Jung „sinnvolles Zusammentreffen“. Auf einer bestimmten Ebene – die Jung das kollektive Unbe wusste nannte, sei alles miteinander verbunden. Das Prinzip der Analogie (Entsprechung): die äußeren Verhältnisse spiegeln sich im Menschen und umgekehrt: Unser Sein ist eine Projektion unseres Bewusstseins und unser Bewusstsein wird bestimmt durch unser Sein. Es wird in der Hermetik auch Spiegelgesetz genannt.
38 Hell, Betrand: Das Tohuwabohu der Grenzgänger aus Narren Künstler Heilige Bundeskunsthalle, Nicolai, 2012
39 „... Dieses Wort stammt vom griechischen daimon ab, womit Geister bezeichnet werden, die in der Hierarchie unter den olympischen Gottheiten stehen (und) (...) wurde (…) als Bezeichnung für den Schutzgeist des Menschen ver wendet. Erst das Christentum liess aus dem „Daimon“ den „Dämon“, den Teufel werden. Die griechischen Daimo nes waren nicht böse: sie waren gut und böse zugleich, wie die Natur, in der sie lebten. Freuds Unbewusstes ist ein „daimonischer“ Bereich. Tagsüber sind wir gesellschaftliche Wesen, aber nachts steigen wir in die Traum welt hinab, in der die Natur regiert, und das heisst: Sexualität, Grausamkeit, Wandel der Gestalten. Die dämonische Nacht dringt auch in den Tag selbst ein. Jeden Augenblick flackert die Nacht in unserer Phantasie, in unseren eroti schen Regungen auf, unterminiert sie unser Streben nach Moralität und Ordnung und verleiht Gegenständen und Personen jene Aura von Unheimlichkeit, die uns durch die Künstler entdeckt wird.“ aus Paglia, Camille: Sexualität und Gewalt oder: Natur und Kunst, dtv, 1998
Als Beispiel für einen Dämon wähle ich Gmork. In der unendlichen Geschichte gibt es das Nichts. Es befällt das Land und verschluckt einfach alles. So wie sterben, abschneiden, verfaulen, in die Leere und in das Vergessene, in die Demenz gehen. Gmork, der Werwolf ist der Diener des Nichts, der Gegenspieler von Atreju, dem auserwählten Krieger für Phantasien. Er jagt Atreju, lauert ihm auf, Atreju spürt den heissen Atem in seinem Nacken. Gmork ist der Dämon, dem sich Atreju gegenüberstellen muss.
Dämonen sind auch Ängste. Oder Kränkungen, Verletzungen, aus denen innere Ungeheuer werden können. Das genaue Hinsehen ist ein Weg. Man kann viele Wege finden, mit Ihnen umzugehen. Die psychischen Abwehrmechanismen funktionieren als Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Projektion, Introjektion, Wendung gegen die eigene Person, Verkehrung ins Gegenteil, Sublimierung, Identifikaton mit dem Angreifer, altruistische Abtretung (Altruismus), Intellektualisierung um dem Schatten bzw. den Dämonen nicht entgegentreten zu müssen.
Der Schatten nach C.G. Jung enthält all die un- oder teilbewussten Persönlichkeitsanteile, die häufig verdrängt oder verleugnet werden, im Dunklen liegen, und wird von Verena Kast als „subversive Lebenskraft“ bezeichnet.40 Alchemistisch ist es das Nigredo, jenes Stadium, in dem das Ego mit dem Gewicht seiner irdischen Existenz und seinen nicht gelebten Möglichkeiten konfrontiert wird, was auch seine Fähigkeit zum Bösen beinhaltet. Manchmal nennt man es auch den blinden Fleck, die Stelle, wo kein Licht hinkommt. Symbole des Schattens sind zum Beispiel dunkle Gegenspieler des Helden, so wie hier im Beispiel Gmork und Atreju. Schattenprojektionen auf jeweils andere Menschen sind typische Elemente persönlicher wie auch kollektiver Konflikte. Die Bewusstmachung dieser Projektionen kann die Möglichkeiten einer Konfliktlösung massiv verbessern. Dem Schatten oder den inneren Ungeheuern zu begegnen, heisst zunächst Ihre Existenz anzuerkennen. Welche Wunden sie lecken, beschützen, welche Mechanismen sie haben, um zu agieren.
Oftmals ist es die bedrohliche Dunkelheit aus der sie kommen. Die einfachste Definition von Dunkelheit ist die Abwesenheit des Lichts. Während Licht schnell ist, vorwärtstreibend und transparent, ist Dunkelheit unbewegt, abwartend und undurchdringlich. Dunkelheit löscht aus, verdeckt, schluckt. Dunkelheit ist Tunnel, Schlund, Abgrund, das verschleierte Gesicht und der verdeckte Körper. Das furchterregende Hadesreich, die chtonische Kraft des Gebärens und Verschlingens der weiblichen Höhle, das nächtliche Nichts, the dark side of the moon. Als ein Fehlen provoziert Dunkelheit menschliche Vorstellungen von Moral oder geistiger Unzulänglichkeit, die oft mit Begriffen, die Sündiges oder Böses bezeichnen, wiedergegeben werden. Das „Herz der Finsternis“41 von Joseph Konrad erzählt von abscheulichen Leidenschaften und niederen Instinkten, die „ungesetzliche Seele“ geht über die entscheidenden Grenzen menschlicher Moral hinaus.
Der Geist von Oiwa (japanischer Holzschnitt nach Shunkosai Hokushu), ein suchender Dämon
Doch das, was nur Abwesenheit, Leere und Undeutlichkeit zu sein scheint, kann tatsächlich auch auf eine Spiritualität, auf eine Fülle und Mut, Potenziale, geheime Kräfte verweisen. Zuallererst jedoch ist Dunkelheit das Gefilde der Initiation. Im tiefen Wald, in der dunklen Höhle, im tiefschwarzen Teich, im modrig-schwarzen Sumpf, im Bauch des Walfischs, wird man mit dem stillen und fürchterlichen Taumel des Todes und der Ängsten und der Geburt konfrontiert. Aber tritt man beherzt in die Dunkelheit ein, lernt man zu sehen, wird sie ihre verborgenden Geheimnisse und Geschenke offenbaren. Ist sie letztendlich nicht doch lebendig und aufwühlend? Die, aus der alles geboren wird?
Schattenspirits können auch symbolisch für Ängste und Abhängigkeiten stehen. Das allmähliche Abgleiten in Süchte und Zwänge überdeckt den jedoch eigentlichen Schmerz. Sucht heisst den Schmerz verdrängen, einen sicheren Hafen suchen. Auch bei wissentlicher eigener und Fremd-Schädigung. Den Schmerz – den Schattenspirit willkommen heissen aber heisst hinsehen. An der äußersten Grenze angelangt, ist dies der Nährboden für alles Neue.
Es gibt auch den Begriff des Schattenkindes nach Stefanie Stahl42 . Das Schattenkind beherbergt alle negativen Glaubenssätze, die wir als Kind gelernt und erfahren haben. Genau wie alle Sorgen, Ängste und Zweifel. Die Existenz des Schattens liegt also auch im Mangel, in der Unsicherheit, in existenziell erfahrenen Kränkungen und Abwertungen. In diesem Licht betrachtet ist jeder Dämon oder jeder Schatten zu umarmen, und seine eigentlichen (kindlichen) Bedürfnisse anzuerkennen und sich zu kümmern. Die Fragen sind also: wie man in Frieden mit Ihnen leben kann, sie zu etwas wachsen lassen oder sie transformieren, ins Licht stellen und Ihnen Liebe und Aufmerksamkeit geben kann, wie bedürftige Kinder. Das Licht – die besonnene Betrachtung - zeigt, welche Wünsche, welche Bedürfnisse, welche Aufgaben ein Dämon verbildlicht - oder eventuell auch als versteckte, kleingehaltene, furchtsame Energien betrachtet und als Ressourcen verwandelt werden kann.
Zusammenfassung:
Die hier aufgeführten Aspekte des Begriffs Spirit(s) zeigen, dass es ein grosser Raum ist, der damit eröffnet wird. Als Künstlerin und Kunsttherapeutin sehe ich dies alles als innere Bilder an, die sich bieten, um einem Zustand, einer Beschreibung nahe zu kommen. Ob zB. die Depression als Dämon, oder als Archetyp des Verwaisten, oder im Sinne von Fritz Riemann als Angst vor der Selbstwerdung, als traurige, melancholische Schwingung, als dumpfer Klang oder tristen Farben oder systemisch gesehen als ein „Bedürfnis zu lieben und im Einklang mit der Umwelt zu leben“43 - als Herausforderung wieder in Bewegung und Vitalität zu kommen gesehen wird, ist letztendlich die Sicht, wie man etwas betrachtet, und sich nähert. Der Spirit, der darin steckt, wird sozusagen auf verschiedene Art und Weise wahrgenommen, verbildlicht, beschrieben.
Ausdrücklich möchte ich hier mich vom esoterischem Milieu abgrenzen, wohl aber die vielen verschiedenen Bilder für Spirits in allen Kulturen der Menschen als grossen Reichtum und Bibliothek und immer neue Ausformung des Seins betrachten.
Zusatz: Spirits als Bilder
Meiner Vorstellung von Spirits als Bilder des Menschen möchte ich noch einen kleinen Ausflug in die Bildtheorie anhängen. Der Bildbegriff ist eine eigene Theorie, die in unserer zeitgenössischen westlichen Kultur eine immense Bedeutung hat und Fragen untersucht über die Entstehung, Zugang, Perzeption und Wirkung, stehen wir doch tagtäglich in unserer Informations- und Kommunikationsgesellschaft einer Flut von Bildern gegenüber. Christoph Wulf, Professor für Anthropologie und Erziehung an der Freien Universität Berlin beschreibt in seinem Buch „Bilder des Menschen“ die Fähigkeit zur Imagination als eine conditio humana. Dabei spielt vor allem der Vorgang der Mimesis (Nachahmung) eine wichtige Rolle. Der mimetische Prozess ist ein Brückenprozess, der einerseits Außenwelt in Innenwelt verwandelt und andererseits Innenwelt in Außenwelt überführt. In mimetischen Prozessen wird man nicht wie der/das Andere, doch braucht man den/das Andere, um sich in der Relation zu ihm entwickeln zu können.44
Mimetische Prozesse werden durch Imagination ermöglicht. Die Imagination erzeugt Bilder. „Die Bilder des Menschen werden durch soziale und kulturelle Praktiken des alltäglichen Lebens und durch die Künste erzeugt. (...) welche Bilder wir sehen und wie wir Bilder sehen, wird durch komplexe historische und kulturelle Prozesse bestimmt“45
W.T.J. Mitchell schreibt über die Weite des Begriffs als „mentale Bildlichkeit, verbale oder literarische Bildlichkeit und der Vorstellung vom Menschen als Bild und Macher von Bildern.“46 Hier wird schon angedeutet, dass die Bilder in einem Wechselverhältnis mit uns stehen, wir nehmen Bilder auf und erzeugen durch unsere Imagination Bilder, die wiederum neue Bilder hervorrufen, die uns emotional, sozial und kulturell verbinden. Hieraus folgen Fragen wie: Welche Rolle spielen die inneren Bilder für die Wahrnehmung? Wie bestimmt die Prägung, Erfahrung, Erinnerung, Konditionierung die Perzeption und Produktion von neuen Bildern?
Es gibt Bilder mit einem Spirit von Schwermut und Melancholie, andere Bilder hingegen erfüllen uns mit Glück oder Freude. Christoph Wulf beschreibt die Wirkung der Bilder als innere Regulation: „Bilder regeln unseren emotionalen Haushalt, ohne das wir wissen wie dies geschieht.“47 und: „Mit Hilfe der Imagination entstehen mentale bzw. „innere“ Bildwelten, in denen sich Emotionen kristallisieren. Die Dynamik der Imagination verbindet Menschen und erzeugt Gemeinschaft.“48 Hier kann man wieder gut zu Hartmut Rosa überleiten, der diesen Prozess des Sich-Verbindens und in Kontakt gehen wiederum als Resonanzprozess beschreiben würde.
44 Die Gleichzeitigkeit von inneren und äußeren Bildern findet Wulf in Psychotischen Zuständen:„Unter psychotischen Bedingungen ist die Situation noch eindeutiger, hier haben die Kranken keine Möglichkeit, die Grenzen zwischen ihrer mentalen Bilderwelt und der Aussenwelt zu überschreiten. Die Kranken sind endgültig Gefangene der Bilderwelt des Wahns. Diese Bilderwelten bestimmen, was sie erleben und wie sie von Ihren Gefühlen beherrscht werden. Ab handen gekommen ist die Kontrolle des Ichs, seine Möglichkeit, eine Ordnung im Taumel und Strudel der Bilder zu schaffen“ in Wulf, Christoph: Bilder des Menschen Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur transcript Verlag Bielefeld, 2014, S.24
45 ebd, S.10
46 Mitchell, W.T.J.: Bildtheorie, Suhrkamp, 2008, S.10
47 Wulf, Christoph: Bilder des Menschen Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur transcript Verlag Bielefeld, 2014, S.78
48 ebd., S.12
Wie W.T.J. Mitchell „die Bilder als eine weit-verzweigte Familie vorstellt“49 und unterteilt in sprachliche (Metaphern), optische, perzeptuelle (über Sinne wahrnehmbare), graphische, und geistige Bilder (Träume, Erinnerungen, Ideen, Vorstellungen), so würde ich diese Familie unter Betrachtung des Bildcharakters von Spirits erweitern um projektive (zukünftige), performative und auch technische virtuelle Bilder. Eine weitere Sichtweise ist die Unterscheidung von materiellen und immateriellen Bildern.
Die Kraft der inneren Bilder ist wissenschaftlich zwar beschreibbar, aber trotzdem gibt es eine Schwierigkeit, wenn sie nicht selbst erfahren wird: „Man erforscht die Geister nicht, man folgt Ihnen.“50 wie es Paul Stoller formuliert. Das akademische Wissenschaftsverständnis kommt hier deutlich an seine Grenzen, wenn nur versucht wird, objektiv von aussen zu beschreiben, aber nicht selbst subjektiv erfahren wird. Inzwischen ist besonders in der Ethnologie daher die Methode der „teilnehmenden Beobachtung“51 als geschätzte Forschungspraxis anerkannt. Wobei die Sichtweise in Bildern auch eine typisch westliche Sichtweise ist. Die Kategorisierung in Bilder, Frames, Rahmen, Schubladen ist wiederum eine Einteilung, die unser westliches spätkapitalistisches System (mit zB. Hashtags, Markenbildung und Brandings) perfektioniert hat. In Annäherung an eine wieder ganzheitliche Sichtweise unserer Existenz möchte ich ich daher abschliessend noch ein Zitat von Christoph Wulf als Gedanke anstellen:
„Nach wie vor fällt es schwer zu begreifen, dass unsere Art, die Welt als Bild und in Bildern zu sehen, historisch und kulturell bedingt ist. Diesen Sachverhalt sah bereits Heidegger, als er betonte, dass die Wahrnehmung der Welt als Bild das Ergebnis der historischen Entwicklungen ist, die wir als Neuzeit bezeichnen. Während sich der Mensch der Antike als Teil der Physis, als Teil der Natur, und der mittelalterliche Mensch sich als Teil der von Gott geschaffenen Welt begreift, tritt der moderne Mensch aus dieser Einbettung heraus. Damit tritt ihm die Welt als Objekt entgegen und wird ihm zum Bild.“52