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Abdichten und Ausdenken

TEXT GIULIANO MUSIO

Kurt stolperte über ein Gänseblümchen, das zwischen den Pflastersteinen herausragte. Über ein Gänseblümchen kann man nicht stolpern, das war ihm auch klar. Er hatte es nur zu spät entdeckt und wollte nicht mit ihm in Kontakt kommen, weshalb er ungeschickt auftrat. Er taumelte und versuchte den Sturz abzuwenden, indem er, schon beinahe in der Horizontalen, die Füsse noch zwei-, dreimal voreinandersetzte.

Das geschah auf dem Marktplatz einer Kleinstadt, ganz hinten in einem Tal voller Fabriken und Werkhallen, eingeschlossen zwischen hohen Felswänden, die bereits am frühen Nachmittag die Sonne verdeckten. Am Stadtrand führte ein kurviger Weg bergab. Wer ihn nahm, glaubte nach ein paar Minuten, zuunterst angekommen zu sein, doch dann war da wieder eine Abzweigung, die weitere zwanzig Meter hinabging. In dieser Senke stand ein Zaun, und hinter dem Zaun war eine Hecke, und hinter der Hecke befand sich Kurts kleines Haus. Die Sonnenstrahlen erreichten es nicht länger als ein paar Minuten pro Tag, weshalb von Kurts Sommersprossen nur noch ein paar blassgraue Flecken übrig waren, die sich von der bleichen Haut kaum abhoben.

In seinem Keller hatte Kurt einen Bastelraum eingerichtet, in dem er sich seit drei Jahren jeden Abend nach der Arbeit aufhielt. Hier hoffte er, eines Tages ein Rätsel zu lösen, das die Menschheit seit über hundert Jahren beschäftigte: den perfekten Verschluss für den Getränkekarton zu finden.

Die Geschichte der Getränkekartons war eine Aneinanderreihung von Fehlschlägen: In den Anfängen hatte man einfach den Giebel des Kartons abgeschnitten. Aber da man nicht immer eine Schere dabeihatte, perforierte man die Ecke, sodass sie sich abreissen liess. Doch weil dabei die Milch immer überschwappte, führte man jene Kartons ein, die man öffnete, indem man die Laschen auffaltete. Die Handhabung war aber zu umständlich, deshalb entwickelte man einen Verschluss mit einem Plastikring, den man mit dem Finger wegriss. Aber wer empfindliche Haut oder Gelenkprobleme hatte, bekam den Karton gar nicht erst auf. Und so kreierte man die Kunststoffzungen zum Eindrücken. Nun spritzte die Milch aber wieder raus, und zudem war der Deckel undicht. Deshalb wurden dann die Schraubverschlüsse erfunden. Ihr Drehmechanismus, mit dem sich eine Innenkappe löste, kostete aber ältere Menschen zu viel Kraft. Zudem war die Verpackung teurer, die Milch schwappte unkontrolliert hinaus, und die Schachteln liessen sich nicht mehr stapeln. Und somit war es nur schlimmer geworden.

Kurt wollte derjenige sein, der dieses Problem, mit dem sich Millionen von Menschen seit Jahrzehnten täglich herumschlugen, endgültig löste. Er wollte den Verschluss erfinden, der jeden weiteren Versuch unnötig machte. Abend für Abend zeichnete er Entwürfe, arbeitete an Prototypen, faltete, schnitt und klebte, testete Trichter oder Dosierpumpen und grübelte bis zur Erschöpfung. Er kam der Lösung nicht näher, aber er gab auch nicht auf.

Schon als Kind hatte er sich mit Verschlüssen beschäftigt. Je dichter ein Verschluss war, umso grösser war Kurts Faszination gewesen. Er hatte ein Spielzeugflugzeug besessen und immer wieder dessen Tür auf- und zugeklappt. Er konnte sich nichts vorstellen, was dichter war als eine Flugzeugtür, und dieser Gedanke beruhigte ihn.

Er war noch nicht einmal alle Milchzähne los, als er schon komplexe Schachteln bastelte und sich mit Falzmechanismen, Luftpolsterfolien und Füllmaterialien wie Schaumstoffperlen auseinandersetzte. Er sammelte Korkzapfen, Schraubdeckel, Steckschnallen von Rucksäcken, kaufte sich von seinem Taschengeld Klett am Meter, um zu erforschen, wie sich die Widerhaken der einen Seite in die Schlaufen der anderen fügten. Er konnte Schlüsselzylinder durch blindes Betasten den Herstellern zuordnen und wusste bald so viel über Schlösser, dass aus ihm ein professioneller Einbrecher geworden wäre, hätte er nur ansatzweise eine kriminelle Veranlagung gehabt.

Kurts Vater hatte die meiste Zeit zu Hause verbracht, entweder arbeitslos oder krankgeschrieben, während die Mutter für ein Bestattungsunternehmen tätig gewesen war. Sie blieb oft auch abends weg, manchmal die ganze Nacht. Kurts Vater sah sich von Überfällen, Verschwörungen, Intrigen und Überwachungssystemen bedroht. Stets warnte er den Sohn vor Einbrechern. Kurt musste jeden Abend überprüfen, ob die Fenster des Kinderzimmers gut verriegelt waren. Aber selbst wenn sie es seien, so hatte ihm sein Vater vor dem Lichterlöschen erklärt, könnte jederzeit nachts ein Mann mit einer Axt neben Kurts Bett stehen.

Der Vater seinerseits bekam immer mehr Angst vor der Mutter und verdächtigte sie sogar krimineller Praktiken. Er verrannte sich in die Idee, sie betreibe Organhandel. In ihrer Gegenwart liess er sich nichts anmerken, aber sobald sie aus dem Haus war, schloss er die Tür ab, verdunkelte die Wohnung und warnte Kurt panisch davor, dass die Mutter sie beide umbringen wolle. Sie habe absichtlich nicht rutschfeste Teppiche gekauft, damit sie hinfielen und sich verletzten. Und leicht verderbliche Lebensmittel, um sie langsam zu vergiften.

Der Vater nahm sich vor, Kurt abzuhärten, um ihn auf gefährliche Situationen vorzubereiten, und diesen Vorsatz nahm er sehr ernst. An Silvester liess er Kurt glauben, es sei Krieg ausgebrochen. Oder er stürmte nachts mit Schutzanzug und Gasmaske in Kurts Zimmer und rief, diesmal

ANZEIGE sei es ernst, diesmal sei es keine Übung. Mal kam er als Clown verkleidet durch das Fenster geklettert, mal brachte er unter der Kommode Lautsprecher an, aus denen in der Dunkelheit Stimmen ertönten. Er sagte Kurt, das Bett bestehe aus abgetrennten Gliedmassen. Tief in der Matratze schlage noch ein Herz, das man sogar hören könne, wenn man sein Ohr nur fest genug an sie drücke. Und eines Morgens erwachte Kurt neben einem ausgestopften Marderhund, den sein Vater ihm unter die Decke gelegt hatte. Es war der Tag, an dem die Mutter verhaftet wurde. Sie hatte tatsächlich mit Organen gehandelt.

Zu seinem vierzehnten Geburtstag bekam Kurt von seiner Grosstante einen Vakuumierer geschenkt. Er setzte sich intensiv mit der Mechanik auseinander, las nach, wie die Pumpe im Inneren dem Beutel Sauerstoff entzieht, wie der Saugmechanismus aktiviert wird, der Druck sich erhöht, der Schweissprozess einsetzt. Nach der Schulzeit studierte Kurt Verpackungstechnologie. Das Handbuch für Verpackungstechnik las er mehrmals von der ersten bis zur letzten Seite durch. Anschliessend begann er bei einer Pflaster- und Kompressenfirma zu arbeiten, für die er Behälter entwickelte. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen redete er nur, wenn es nötig war. Er wollte nicht allzu freundlich sein, sonst riskierte er, dass sich in der Kantine jemand zu ihm setzte. Obwohl er nun schon über zehn Jahre für das Unternehmen tätig war, wusste er von den meisten nicht, wie sie hiessen. Das war aber auch nicht nötig. Er hatte inzwischen eigene Namen gefunden. Den Mitarbeiter vom Verkauf, der sich immer anschlich, wenn er Kurt etwas fragen wollte, nannte er den Schleicher. Derjenige von der Personalabteilung, der sich von niemandem provozieren liess, sondern immer das konstruktive Gespräch suchte, war der Seelsorger. Die vom Kundendienst, die in ihren Zweiteilern aussah, als würde sie Werbung für Frischkäse machen, war die Crème fraîche. Und der mit dem Tomatenkopf war der Tomatenkopf.

Dass er nun, auf dem Heimweg von der Arbeit, im Begriff war, wegen eines Gänseblümchens zu stürzen, war selbst für Kurt ungewöhnlich. Es gab ja viel Schlimmeres. Zum Beispiel Springkraut. Er hasste die Kapseln, die schon zerplatzten, wenn man sie kaum berührte, hasste es, wenn sie ihre Samen meterweit herumschleuderten, während sich die Hülle wie unter Schmerzen verkrümmte. Am unheimlichsten waren ihm aber die Blumen, die in Arbeitsbereiche und Wohnräume eindrangen: Tulpen in Vasen zum Beispiel, deren Blüten sich öffneten, sich streckten und spannten und spreizten, obwohl ihre Stängel längst durchtrennt waren.

Eigentlich beunruhigte ihn ja fast alles, was sich öffnete oder öffnen liess oder auch nur eine Öffnung hatte, aus der etwas herauskommen konnte: Spieldosen, Springbrunnen, Garagentore, aufgeschlagene Eier oder noch schlimmer solche, aus denen sich etwas Lebendiges hervorkämpfte, Geburtstagsgeschenke, dazu die beleidigten Reaktionen, wenn er sich weigerte, die Schnur zu lösen und das Papier aufzureissen, Chöre mit ihren synchron aufgerissenen Mündern. Sowieso: Münder und Zungen.

Weil er niemanden küssen wollte, hatte er lange befürchtet, jungfräulich zu sterben wie seine Grosstante, die als Siebenundneunzigjährige im Altersheim immer noch darauf bestanden hatte, mit «Fräulein» angesprochen zu werden, und deren wichtigste Hinterlassenschaft zwölf Schachteln mit Stickbildern von Schäferhunden, Eulen und Bauernhäusern im Wechsel der Jahreszeiten waren –mehr wahrscheinlich, als von Kurts Leben übrigbleiben würde.

Eines Tages traf er aber tatsächlich eine Frau, die ihm gefiel, und da fand er das Küssen wenn auch nicht angenehm, so doch immerhin erträglich. Seine Partnerin war eine Pyromanin. Sie schäme sich so, erklärte sie Kurt unter Tränen, sie wolle sich ändern. In der nächsten Nacht stand sie bereits wieder vor brennenden Vorhängen und lachte wie Satan. Jahre später liess er sich mal noch von einer Frau zum Essen einladen. Aber weil er fürchtete, sie könnte ihn vergiften, bestand er darauf, dass sie einen Bissen von seinem Teller nahm, bevor er selber davon ass. Damit war auch dieser Versuch gescheitert, und Kurt schloss mit den Frauen ab. www.fiz-info.ch

Es gelang ihm nun, sich einen vorhersehbaren Alltag aufzubauen. Er konnte einem Beruf mit klaren Abläufen und regelmässigen Arbeitszeiten nachgehen. Er traf sich stets mit denselben wenigen Leuten, von denen ihm niemand zu nahe kam. Er hortete einen Vorrat an gleichen Kleidern, hatte sich als Haustier eine Schildkröte ausgesucht, die vermutlich nie ersetzt werden musste, weil sie ihn überleben würde, und verzichtete auf Reisen. Wenn er Urlaub hatte, sortierte er seine Dokumente oder den Gewürzkasten. Es gab so gut wie keine Entscheidungen mehr zu treffen.

Selten überkam ihn die Angst, dass er eines Tages wegen etwas sehr Dummem sterben könnte, zum Beispiel weil er einen Zahnstocher verschluckte. Und dass er in den paar Sekunden vor dem Tod noch dachte: Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen. Dann kam es ihm vor, als sässe er nur noch die Zeit bis zu dieser Dummheit ab. Denn er hatte ja aufgeräumt, alle Störfaktoren beseitigt oder auf ein Minimum reduziert. Er konnte sich nicht vorstellen, was jetzt noch kommen sollte.

Bis er eines Tages erkannte, wofür er bestimmt war: Er musste die Getränkekartons aus ihrer Geschichte des Versagens befreien. Drei Jahre beschäftigte er sich inzwischen mit dieser Aufgabe, und allmählich gingen ihm die Ideen aus. Er fragte sich, ob er immer noch zu konventionell dachte, und versuchte, über Umwege ans Ziel zu kommen, neue Perspektiven einzunehmen, auch Methoden auszuprobieren, die auf den ersten Blick absurd schienen.

Er experimentierte mit Druckknöpfen, Korkzapfen, Schnellbindern, mit Steck- und Reissverschlüssen, schliesslich mit Kombinationen mehrerer Vorrichtungen, etwa mit Klettverschlüssen, die einen Falzmechanismus auslösten und sich mithilfe von Magneten allein wieder verschlossen. Kurts Modelle durchliefen in drei Jahren dieselbe Entwicklung wie die bereits patentierten Exemplare innerhalb eines Jahrhunderts: Je weiter er dachte, desto grauenvoller wurden die Ergebnisse. Eines Abends gab er sich endlich der Verzweiflung hin. Er verschränkte die Arme auf der Arbeitsfläche, legte den Kopf darauf und heulte lange.

Der Sturz auf dem Marktplatz ereignete sich am nächsten Tag. In den zweieinhalb Sekunden, in denen sich Kurt noch zu retten versuchte, fiel ihm plötzlich die Lösung ein: Das Problem war nie der Verschluss gewesen, sondern der Karton selbst. Man musste nichts anderes tun, als diesen abzuschaffen. Wie hatte man überhaupt mal annehmen können, es sei eine gute Idee, Flüssigkeit in Karton zu verpacken?

Mit dieser Erkenntnis schlug sein Kopf heftig an einen Blumentopf aus Faserbeton. Kurt blieb liegen. Gleich würde er das Bewusstsein verlieren. Und es war ihm ein Trost, dass er vor seinem Tod noch eine Antwort gefunden hatte.

Natürlich stirbt man nicht, nur weil man sich den Kopf an einem Blumentopf stösst. Kurt aber glaubte genau das. Und wie man es beim Sterben wohl so macht, dachte er an den Anfang seines Lebens. Nicht an die Geburt, denn die Vorstellung, dass sein Körper aus einem anderen Körper herausgekommen war wie bei einer riesigen Babuschka, machte ihn nervös, und nervös wollte er sein Leben nicht beenden. Nein, er dachte an den tatsächlichen Anfang, als er geteilt gewesen war in ein Spermium und eine Eizelle, getrieben von zwei sich ergänzenden Instinkten: verpackt zu werden und zu verpacken.

GIULIANO MUSIO wurde 1977 geboren, ist schweizerisch-italienischer Herkunft und hat Germanistik und Anglistik studiert. In seinen Romanen «Scheinwerfen» (2015) und «Wirbellos» (2019) verbindet er genaue Recherche und Faktentreue mit surrealen Elementen. Für «Wirbellos» wurde er mit dem Literaturpreis des Kantons Bern und dem Kurt-Marti-Preis ausgezeichnet. Mit der Kolumnensammlung «Keinzigartiges Lexikon» (2018) und einem neuen Text zu Beethovens «Egmont» (2019) hat er sich auch kürzeren literarischen Formen zugewandt. Neben dem Schreiben ist Musio als Korrektor bei der Neuen Zürcher Zeitung tätig.

Der Platz ist überall ... vielleicht ist er, wo eine Mutter oder eine Frau mit einem Kind sein soll. Ich erzähle sie, sie ist eine Frau, sie ist wie eine Geschichte ... Ich will erzählen, was sie mir verraten hat. Wir kannten einander nicht, aber die Situation war sehr vertraut. Ich war ein Kind ... Ich bin ein Kind, ich habe Fragen, ich suche Antworten überall, in Büchern, in Geschichten, an Orten … Manchmal sind Bücher Orte. Ich weiss nicht wo, aber wir standen an einem Fenster. «Öffne die Flasche für mich», sagte ich. Sie: «Bitte.» Ich: «Öffne die Flasche für mich.» Sie: «Am Anfang oder am Ende eines Satzes sagt man ‹bitte›.» Ich: «Es spielt keine Rolle, wenn du mir einfach helfen würdest.» Sie: «Das stimmt ... Aber ich habe vor kurzem in der Sprachschule gelernt, ‹bitte› ist etwas Wichtiges.»

Ich: «Ja, das sagt man so, aber ich bin einfach ein Kind … unbelastet.»

Sie: «Was bringt dich dazu, dir so sicher zu sein, dass ich dir helfen werde?»

Ich: «Ich bin mir bewusst, dass ich ein Kind bin.»

Sie: «Die Leichtigkeit gehört nur den Kindern.»

Ich: «Leichtigkeit in der Seele meinst du? Oder beim Gewicht?»

Sie: «Die Kinder sind die Leichtigkeit in Bezug auf das Gewicht, sie sind die Seele nach dem Warten … Manchmal sind sie das Gewicht selbst.»

Ich: «Kinder sind unerträgliche Leichtigkeit … aber oft sind sie leicht.»

Sie: «Willst du weiterspielen oder malen?»

Ich: «‹Würdest du gerne?› Es ist richtiger, wenn du die Frage so stellst. Ich weiss nicht, warum die Erwachsenen Spielen und Malen mit Kindern in Verbindung bringen. Die Kinder haben Fragen. Wir tragen immer die Frage ‹warum?› mit uns.»

Sie: «Wir fragen immer ‹warum?›, warum bleibt der Mensch hier von Geburt bis Tod?»

Ich: «Kannst du die Fragen beantworten?»

Sie: «Ja! Ich versuche die Fragen immer wieder zu beantworten.»

Ich: «Die Erwachsenen haben die Macht zu antworten.»

Sie: «Sie haben Wissen.»

Ich: «Denkst du?» Sie: «Sie … Denken Sie?»

Ich: «Haben Sie das auch vor kurzem in der