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Die Vervielfältigung der eigenen Erfahrung

Kino Im März laufen zwei Filme über Schwarze Frauen an: der französische Spielfilm «Saint Omer» und der Schweizer Dokumentarfilm «Je suis Noires». Beide betten sie persönliche Geschichten in strukturelle Hintergründe ein.

TEXT DIANA FREI

In dem einen Film geht es um Alltagsrassismus, wie ihn Schwarze Schweizerinnen erleben. Im anderen um den Gerichtsfall einer jungen Schwarzen Mutter, die ihr Kleinkind im Meer ertränkt hat: «Saint Omer», ein Spielfilm, ist die Fiktionalisierung einer wahren Geschichte. Die Arbeit am Dokumentarfilm «Je suis Noires» begann mit der Auseinandersetzung der Filmautorin und Co-Regisseurin Rachel M’Bon mit ihrem eigenen Schwarzsein in der Schweiz. Beide Werke sind diskursive Beiträge in einem wichtigen gesellschaftlichen Prozess, in dem eingeübte Rollen und rassistische Muster langsam aufbrechen und in dem zunehmend ein Bewusstsein dafür entsteht, wie gesellschaftliche Strukturen und historische Vergangenheit auf das Leben Einzelner einwirken. Es ist dabei bemerkenswert, dass Alice Diop, die Regisseurin von «Saint Omer», im Presseheft ausdrücklich auch auf Anna Karenina und Madame Bovary hinweist – auf fiktionale weisse Frauen aus dem 19. Jahrhundert, die sich aus dem Korsett der Ehe befreien. Ja, es geht um weiss und Schwarz. Es geht dabei aber auch ganz spezifisch um die gesellschaftlichen Mechanismen, die einen zu dem machen, was man ist.

Der Schweizer Dokumentarfilm heisst «Je suis Noires», und was dabei ins Auge fällt, ist «noires» im Plural. «Ich bin Schwarz», genauso Schwarz wie viele andere Frauen auch. Obwohl der Film auch eine persönliche Suche der Filmautorin Rachel M’Bon ist, beginnt er mit einer Umfrage auf der Strasse. Er reiht kurze Begegnungen mit Schwarzen Frauen aneinander; die Gesichter wechseln, die Erzählungen bleiben dieselben: Benachteiligungen, Übersehenwerden, Unterstellungen und intellektuelle Unterschätzung, Kriminalisierung, Exotisierung, auch Beschimpfungen. Der Film folgt dann sechs Protagonistinnen in Gesprächen. Zusammen mit ihrer Co-Regisseurin Juliana Fanjul sucht Filmautorin M’Bon sucht ihre eigene Geschichte in den Erfahrungen anderer. Sie vervielfältigt sich sozusagen im Schwarzsein, um die strukturellen Komponenten ihrer Erlebnisse offenzulegen.

Alice Diop macht in ihrem Spielfilm «Saint Omer» etwas Ähnliches, indem sie Laurence Coly (Guslagie Malanda), die Kindsmörderin auf der Anklagebank, in der Figur der Autorin und Professorin Rama (Kayije Kamage) spiegelt, die den Verhandlungen über mehrere Tage hinweg folgt, um ein Buch zu schreiben. Auch hier teilt sich das Schwarzsein auf zwei Frauen auf, aber auf zwei einander fremde, die jedoch zusätzlich die Mutterschaft verbindet, in der immer auch die Frage nach dem Erbe steckt – dem familiären, aber auch dem gesellschaftlichen. Laurence hat ihr Kind umgebracht, und je weiter sich der Film entspinnt, desto stärker wird dieser Tod zur fast logischen Folge einer gesellschaftlichen Auslöschung der Mutter. Rama trägt ein Kind in sich. Die Frage, was aus ihm werden wird in einer Gesellschaft, an der diese andere Schwarze Mutter zerbrochen ist, steht unbeantwortet im Raum. Es gibt diesen einen Moment, in dem Laurence Rama in den Zuschauerrängen wahrzunehmen scheint. Ein Blick, ein leises Lächeln ihrerseits, während Rama weint. Sie scheinen sich gegenseitig zu erkennen in dem, was sie sind, was sie ausmacht, was sie prägt.

Interessant ist, dass die Mutterschaft auch in «Je suis Noires» vorkommt, als Vererbung der eigenen Rolle in der Gesellschaft. Gegen Schluss sehen wir die Protagonistin Armelle Saunier, Bankkader mit Eltern aus Kamerun, mit ihrer kleinen Tochter die Strasse entlanglaufen, während sie über die Erfahrungen spricht, vor denen sie das Kind bewahren möchte – und letztlich vielleicht nicht kann.

Gefangen in Projektionen

«Saint Omer» rollt Laurences Geschichte in der Frage-Antwort-Situation vor Gericht auf. Ein Mosaiksteinchen fügt sich so ans andere: Die Angeklagte wird von ihrem Partner Luc gesellschaftlich verleugnet, sie existiert nicht für sein Umfeld und zieht sich, als sie schwanger ist, ihrerseits zurück. Sie verlässt das Atelier, das sie bewohnen, nicht mehr – und dort gebärt sie auch das Kind, als ihr Partner auf Reisen ist, alleine. Es ist nicht registriert, nie hat jemand die Mutter schwanger gesehen. Es ist, als habe dieses Kind nie existiert.

Angestossen wurde die Dynamik der Entwicklungen offensichtlich von grundlegenden Missverständnissen, genährt durch Projektionen, stereotype Vorstellungen, Machtgefälle, Altersunterschiede. Hier ein alter weisser Mann, der punktuell aus seiner konformen Lebensplanung ausbricht, dort die junge Schwarze Frau, die finanziell abhängig ist. In Luc kann man leicht einen Mitschuldigen an der Tragödie finden, gleichzeitig versteht man unmittelbar: Auch er ist ein Opfer der eigenen Prägung, unfähig, zu Entscheidungen zu stehen, Fragen anzusprechen, eine Situation zu klären. Fadenscheinige Begründungen, wieso das Kind nicht registriert sei, nimmt er hin, die Vaterschaft anerkennt er nicht: «Es war einfacher so.»

Die Katastrophe ist bereits Vergangenheit, nun wird vor Gericht nicht nur nach Erklärungen gesucht, sondern auch die Gesellschaft porträtiert, in der so etwas passieren konnte. Da ist die Anklage, die Verteidigung, die Richterin. Dazu das Publikum, das stumm dasitzt und aus dem sich ab und zu Zeug*innen lösen, wenn sie aufgerufen werden. Auch Luc tritt aus dieser Masse der Allgemeinheit hervor, sozusagen ins Licht der Öffentlichkeit. All die Figuren, das Gerichtspersonal ebenso wie diejenigen im Zeugenstand, bringen ihre eigenen Perspektiven und Projektionen auf die Angeklagte Laurence Coly mit. Die Verurteilungen haben in ihrem Leben im Grunde längst schon stattgefunden.

Auch in «Je suis Noires» kommen sie vor, die alltäglichen Verurteilungen. Der Film thematisiert denn auch, wie sehr die Schweiz immer zuerst ihr eigenes Idyll verteidigt. Und dabei ein Land geblieben ist, das die eigene Haltung nie zu hinterfragen gelernt hat. Das nicht fähig ist, sich mit den unangenehmeren Seiten der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Und «auch ohne eigene Kolonien» die zugehörigen Bilder in den Köpfen – etwa in der (Schokolade-)Werbung – unreflektiert übernommen hat.

Alice Diop hat in ihrem Spielfilm nun den filmischen Raum auch in der Bildsprache explizit den Schwarzen Frauen übergeben und hält fest, auch die Ästhetik des Films sei für sie politisch: «Ich möchte diesen Frauen das Kino als einen Raum anbieten, in dem man sich ihrem Blick nicht mehr entziehen kann, ohne dass es zu sehr stilisiert wird.» Auf diese Weise sind Filmbilder entstanden, denen die Anmut von Gemälden innewohnt.

Läuft zurzeit im Kino.

«Je suis Noires», Regie Rachel M’Bon und Juliana Fanjul, Dokumentarfilm, CH 2022, 50 Min, mit Tallulah Bär, Brigitte Lambwadio,

Veranstaltungen

Basel

«Screening invisibilities», Performance, Sa bis Mi, 4. bis 8. März, auf Deutsch und Englisch, in Gebärden- und Lautsprache. Publikumsgespräch mit Übersetzung in die dt. Gebärdensprache am 7. März.; Kaserne Basel, Klybeckstrasse 1b. kaserne-basel.ch eindrücklich die immensen Leistungen der Frauen auf dem Weg zu ihren politischen Rechten. Die Multimediashow wird nun im Landesmuseum Zürich nochmals gezeigt. Dort trifft die Projektion ab Mitte März auf die grosse Wechselausstellung «Zum Geburtstag viel Recht – 175 Jahre Bundesverfassung». Sie wird begleitet von Gesprächsveranstaltungen wie «Leiden an der Demokratie. Die tapfersten aller Männer» oder «Backlash für die vorwärtsstürmende Frauengleicheit. Ist Gleichheit (immer) gut?» DIF

Basel/ Winterthur

St. Gallen

«Tschabalala Self – Inside Out», Ausstellung, bis So, 18. Juni, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Kunstmuseum St. Gallen, Museumstrasse 32. kunstmuseumsg.ch

«Screening invisibilities» ist eine assoziative Auseinandersetzung mit dem politischen Begriff der Unsichtbarkeit. Wer wird in der Gesellschaft gesehen und wer nicht? Und wie kann ich jemanden verschwinden lassen? Gemeinsam mit einem Ensemble aus hörenden und Tauben Künstler*innen initiiert der Basler Regisseur Zino Wey eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen. («Taub», gross geschrieben, als Selbstbezeichnung von «Menschen, die sich den Gebärdensprachen, den Gemeinschaften und Kulturen der Gehörlosen verbunden fühlen».) Aus Gebärden, Gesten, Bewegung, Tanz und Musik wird ein neuer Raum entworfen, der nach Gemeinsamem anstelle von Unterschieden fragt: ein poetisch-politisches Manifest. DIF

Emmenbrücke

«Haut», Ausstellung, bis So, 12. März, Fr/Sa, 14 bis 17 Uhr, So 10 bis 16 Uhr, Akku Emmen, Gerliswilstrasse 23. akku-emmen.ch tionen, Ängsten und Träumen. Gastkuratorin Claudia Waldner wird 2023 die dreiteilige Ausstellungsreihe «Hauthaus» in der akku Kunstplattform in Emmen zeigen, die Gruppenausstellung «Haut» ist der Start. Die letzte Ausstellung, «ohne Haut – ohne Haus», wird sich Menschen widmen, die ohne Heimat sind – und Räumen, die ohne Menschen sind. DIF

Zürich

Die Haut ist Organ, Sinn, Grenze, Erinnerungsträger, Schutz, Metamorphose und Metapher. Im Akku Emmen geht es um die Frage, was hinter oder unter der eigenen Haut liegt und wie wir damit umgehen. So thematisieren die ausgestellten Künstler*innen – Barbara Hennig Marques, Heidi Bucher, Nesa Gschwend, Rochus Lussi, Ronja Römmelt, Victorine Müller – die Empfindung von Schmerz, die Haut als Schutzorgan. Und als grösstes Sinnesorgan. Oder als Spiegel unserer Seele, als Speicher von Emo-

«Kraftakt Frauenstimmund Wahlrecht – Projektion Hommage 2021», Ausstellung, bis So, 16. April, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 19 Uhr, Landesmuseum Zürich, Museumstrasse 2. landesmuseum.ch

Das Ringen um Frauenrechte seit dem 19. Jahrhundert war zäh, der Weg zur politischen Partizipation steinig. Das 1971 eingeführte Frauenstimm- und Wahlrecht war ein entscheidender Schritt im Kampf um die Umsetzung der Rechtsgleichheit. Mehr als 350 historische Bilder wurden in der mehrsprachigen Projektion des Vereins Hommage 2021 verarbeitet und zeigen

«Der Andere – Pippo Pollina und Mike Müller», musikalische Lesung, Do, 9. März, 20 Uhr, Volkshaus Basel und So, 12. März, 19 Uhr, Theater Winterthur. keinundaber.ch/de/ autoren-regal/pippo-pollina

Zwei Stühle, ein Tisch und eine Gitarre: Wenn Pippo Pollina und Mike Müller sich zusammen auf die Bühne stellen, begegnen sich Musik und Literatur. Wobei Pollina nicht nur die Lieder singt, sondern auch den Roman (sein Debüt: «Der Andere») geschrieben hat, aus dem Müller vorliest. Der Roman handelt von zwei Männern, beide Ende der 1950er-Jahre geboren; sie wachsen aber weit voneinander entfernt auf. Frank Fischer lebt im niedersächsischen Wolfsburg, einem Industriestandort mit vielen Emigranten aus den südlichen Ländern Europas. Der andere, Leonardo Conigliaro, lebt in einem Bauerndorf in Sizilien. Ihre Geschichten entwickeln sich in scheinbarer Distanz voneinander, dennoch gibt es viele Berührungspunkte. DIF

Die New Yorker Künstlerin Tschabalala Self bearbeitet in ihrer Malerei die Bildfläche nicht nur mit Farbe, sondern auch mit Stoff und Faden, mit selbst eingefärbten wie mit gefundenen Textilien. In ihren Gemälden bildet Self Individuen oder Paare ab, die vor einem monochromen oder aber gemusterten Hintergrund teils in ihrer eigenen Welt zu schweben scheinen und isoliert wirken. Sie schöpft dabei aus ihren persönlichen Erfahrungen als Schwarze Frau in Amerika. In diesem Kontext inszeniert sie gemalte Körper, die innerhalb von imaginierten Umgebungen oft überhöht und isoliert gezeigt werden. Selfs Arbeiten stellen die historisch, kulturell und gesellschaftlich geprägten Vorstellungen gegenüber Schwarzen Körpern in Frage. Gezeigt werden in der Einzelausstellung in St. Gallen Gemälde, Skulpturen und ein Performance-Video.