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Serie: Die Unsichtbaren

Serie: Die Unsichtbaren  Unsere Gesellschaft lagert immer mehr unangenehme Arbeiten aus. Die, die sie verrichten, bleiben oft unsichtbar. Eine Artikelreihe über neue Arbeitswelten und ihre Hintergründe.

«Ein schöner, abwechslungsreicher Job»

Bei Rey Eyer kommt an, was andere per Knopfdruck wegspülen. Das stört den Klärwerk-Mitarbeitenden aber nicht im Geringsten.

TEXT ANDRES EBERHARD FOTO DANIEL SUTTER

Ein angeregtes Gespräch über menschliche Ausscheidungen zu lancieren, ist eine Spezialität von kleinen Kindern. «Aber Mama, was passiert mit dem Gaggi?», wollen die Kleinen wissen, wenn sie auf dem Thron sitzen (ebenfalls verbreitet sind kichernd vorgetragene, weniger konstruktive Versuche am Esstisch). Dann folgen Geschichten von unterirdischen Rohren, riesigen Säuberungsanlagen, vielleicht sogar von Verbrennungstürmen oder Wertstoffrückgewinnung. Ehrlicher aber wäre eine andere Antwort: Wenn du spülst, kümmern sich andere Menschen um die Drecksarbeit. Menschen wie Rey Eyer.

Jeden Morgen um 6 Uhr 15, nach einer Zigi und ein paar Hallos, füllt Rey Eyer eine Halbliterflasche, um zu prüfen, was ihm aus zigtausenden Zürcher WCs alles so entgegengespült wird. Eyer arbeitet im Klärwerk Werdhölzli in Zürich, der hierzulande grössten Anlage ihrer Art. Mehr als 80 Mitarbeitende sind damit beschäftigt, die Ausscheidungen von über 700 000 Menschen aus der Stadt Zürich und Umgebung zu managen. Die «Klärwerk-Fachmänner und Fachfrauen», wie die umgeschulten Metzger*innen, Hauswart*innen, Mechaniker*innen oder Sanitär*innen heissen, entleeren, reinigen und reparieren Rohre, Becken und Anlagen, bevor das Wasser einen Kilometer weiter stadtauswärts aus drei unscheinbaren Rohren in die Limmat fliesst – so sauber, dass Zürcher*innen darin baden können.

«Hier nehmen die Geruchsemissionen zu», warnt der grossgewachsene 48-Jährige mit Kurzhaarschnitt und Ohrringen, uniformiert in oranger Leuchtjacke und blauem Overall. Dann öffnet er die Tür zum sogenannten Rechengebäude. Drinnen wird er deutlicher: «Hier kommt der ganze Dreck an.» Er deutet auf einen sanft fliessenden Abwasserkanal, der sich in Richtung eines grossen Rechens bewegt. Dort bleibt das Gröbste hängen. Einige Mitarbeitende müssten den Kanal täglich mithilfe eines Krans freibaggern, erzählt er.

Eyers einziger Job hier drinnen ist die tägliche Entnahme der Probe. Dafür kippt er einen Behälter, der im Fünfminutentakt automatisch mit ein paar Tropfen Abwasser gefüllt wird, vorsichtig über seine mitgebrachte Flasche. Diese packt er in eine Kiste und schickt sie den Wissenschaftler*innen des Wasserforschungsinstituts Eawag in Dübendorf. Dort wird das Abwasser unter anderem auf Covid-Rückstände analysiert. Auf diese Weise lässt sich herausfinden, wie verbreitet das Virus ist. «Abwasser lügt nicht», heisst es. Auch Rückstände von Kokain,

Wir spülen heute mit Trinkwasser unser Geschäft herunter. Medikamenten oder Tabak im Abwasser erwecken immer mal wieder das Neun Liter beim öffentliche Interesse. Ansonsten ist das Klärwerk am Stadtrand vor allem eine grossen Knopf, Anlage, die es uns erspart, uns allzu lange mit unseren Ausscheidungen sechs Liter beim aufzuhalten. Spülen und weg damit. Im Mittelalter und noch bis vor 150 Kleinen. Jahren war das nicht möglich. Die Kloake ging alle an, denn die Gerüche aus den Gassen waren kaum zu ignorieren. Damals wurden die Fäkalien mehr oder weniger auf die Strasse geworfen. In Städten verbreitet waren offene, enge Gräben zwischen den Häuserreihen. Auf dem Land wurde das Geschäft auf dem Feld oder zuhause über Löchern im Boden verübt, von wo es direkt in den Viehstall fiel. So eklig das aus heutiger Perspektive klingen mag: Überliefert ist, dass sich die Menschen an den Gerüchen nicht allzu sehr störten. Schamgefühle, wie wir sie heute kennen, entwickelten sich erst später. Ganz im Gegenteil soll es Zeiten gegeben haben, als sich die Menschen dagegen wehrten, dass andere ihre Ausscheidungen abtransportieren. Denn Kot und Urin wurden in der Landwirtschaft als Dünger gebraucht, die gesammelte Kloake hatte also einen Wert. Heute hingegen spülen wir, zumindest in der Schweiz, unser Geschäft mit Trinkwasser herunter. Neun Liter beim grossen Knopf, sechs Liter beim Kleinen. Und sind froh, dass sich andere um den Rest kümmern. Eyer verlässt das Rechengebäude, das den Anfang des Klärprozesses markiert, und macht sich auf den Weg zur biologischen Reinigung, der zweiten von insgesamt fünf Reinigungsstufen. Die Distanzen läppern sich, häufig ist Eyer mit dem Velo oder, wenn er etwas zu transportieren hat, in einer Art Golfwagen unterwegs. Zwischen mehreren grossen, blubbernden Wasserbehältern, die aussehen wie 50-Meter-Schwimmbecken, bleibt er stehen. Hier wandeln Mikroorganismen im Wasser enthaltene Schmutzstoffe um, wie zum Beispiel Ammonium oder Phosphate. «Das sind die fleissigsten städtischen Mitarbeiter», bemerkt er in dem für ihn typischen saloppsarkastischen Ton und setzt noch einen obendrauf: «Ohne sie würden die Fische auf dem Rücken schwimmen.» Während Kleinstlebewesen wie Bakterien oder Fadenwürmer also die Hauptarbeit erledigen, prüft Eyer den Betrieb auf regelmässigen Rundgängen («lose, luege, schmöcke»), repariert bei Bedarf oder kalibriert Messgeräte.

Eyer hat kein Problem mit Vorurteilen gegenüber seinem Beruf; dass es Leute gibt, die ihn für seine Arbeit belächeln. In Männerrunden, die bei der Ausübung seiner Hobbys – Heli-Snowboarding und Pistolenschiessen – durchaus verbreitet sind, würde er den blöden Sprüchen zuvorkommen. «Ich sage, dass ich beim Füdli der Stadt arbeite.» Es braucht etwas Selbstironie, damit die Menschen mit ihm und nicht über ihn lachen.

Man muss Rey Eyer deswegen nicht bemitleiden. Erstens stinkt es längst nicht überall so wie im Rechengebäude. Im Gegenteil: Manches hier, wie etwa die «Ozonungsanlage» – voll mit grossen Stahltanks, Kupferrohren, Messgeräten –, könnte man sich auch in einer Lebensmittelfabrik vorstellen (zur Rolle des Ozons siehe Box auf Seite 13). Und draussen, mit Bäumen, Moos, Vögeln und sogar einem Badesteg, ist es fast schon idyllisch. Zweitens ist die Arbeit im Klärwerk durchaus anspruchsvoll. So wirft sich Eyer an zwei bis drei Tagen pro Woche den weissen Kittel über und prüft das Abwasser zur Qualitätssicherung im Labor. Auch ist er, seit elf Jahren im Beruf, der zuständige Mitarbeitende der hochtechnologischen Ozonungsanlage.

Die Forschenden der ETH gucken immer zu

Kommt dazu, dass Eyer mit dem Job bei Entsorgung und Recycling Zürich der Prekarität überhaupt erst entkommen ist. Nach einer Lehre als Maschinenmechaniker hatte er zwanzig Jahre lang in der Industrie gearbeitet. Er fräste, drehte, erodierte, daraus entstanden Bauteile für die Industrie. Sein Arbeitgeber war ein Familienunternehmen, der Lohn bescheiden, die Arbeitslast gross, Feierabende und Wochenenden variabel. «Die Laufzeit der Maschinen hatte Priorität», sagt Eyer. «Wie es mir ging, war weniger wichtig.» Er habe das Wasser stets bis zum Hals gehabt. Die Stelle bei der Stadt war ein Ausweg: geregelte Arbeitszeiten, guter Lohn und «ein eigentlich schöner, abwechslungsreicher Job», wie er sagt.

Rey Eyers Handy klingelt, er zieht sich einige Meter zurück. «Schon wieder jemand, der ein Wässerchen will», kommentiert er, nachdem er aufgelegt hat. Nach dem Termin wird er noch einmal zurück zum Rechengebäude gehen, um eine Halbliterflasche abzufüllen. Nicht nur die Eawag, auch andere Forschende interessieren sich fürs Abwasser. Die ETH zum Beispiel betreibt seit fünf Jahren

Dreck und Gewinn

Seuchen und Krankheiten konnten dank der Siedlungshygiene eliminiert werden. Erstklassige Lebensressourcen verdanken wir der Infrastruktur im Untergrund.

INFOGRAFIK MARINA BRÄM

500 000

Tonnen organisches Material gelangen jährlich in die Abwasseranlagen (ARA). 90% davon wird vollständig aus dem Abwasser entfernt.

Der Graubereich

In der Schweiz konnte der Pro-Kopf-Verbrauch von Trinkwasser in den letzten 30 Jahren um 60 Prozent gesenkt werden. Dank Effizienzsteigerungen, aber auch wegen des Wegzugs wasserintensiver Industrie. Weltweit nimmt der Wasserverbrauch weiter zu.

1 964 12% A n t ei l S ch wei zerBevölkerungmitAnschlussanzentraleAbwasseranlagen(ARA): CHF 1,3 Mrd. werden jährlich für Unterhalt und Weiterentwicklung der ARA als Aufträge an Baugewerbe, Energiebranche, Ingenieurbüros, Forschung und andere vergeben.

1,4 Mrd.

Kubikmeter Abwasser werden jährlich in Schweizer Reinigungsanlagen transportiert.

Antwerpen (BEL)

Zürich

St. Gallen

Bern

Hamburg

AufCoronaviren untersuchte Abwasseranlagen 198069% seitFebruar2022:70%

9 8 % 2022

130 000 km

beträgt die Gesamtlänge des schweizerischen Kanalnetzes.

Von insgesamt ca. 13 000 Mitarbeitenden in der Wasserversorgung sind 3000 staatliche Angestellte und 10 000 privat.

Messfühler Abwasser

Tagesdurchschnitt der Kokainrückstände, in mg/1000 Personen, Mai 2020

567

459 692 874 1175 2 3

1

Jährliche Investitionen im Vergleich, 2015

1 Abwasserreinigung: 2,2 Mrd. CHF

2 Gemeindestrassen: 2,9 Mrd. CHF

3 Polizei: 2,8 Mrd. CHF

in einem Becken der biologischen Reinigung eine Installation, die den Austritt von Lachgas in die Atmosphäre kontrolliert. Vor Ort kommt aber nur sehr selten jemand von der bloss einige Velominuten entfernten Hochschule. Ist etwas mit der Anlage, sehen das die Forschenden auf ihren Bildschirmen. Und Eyer erhält einen Anruf mit der Bitte, er solle doch bitte einmal den Reset-Knopf drücken. Da er ja schon hier und dafür da ist. Eyer steht nun vor einem Badehäuschen in der Sonne, nebenan lädt ein Becken mit Steg und Poolleiter zum Bad ein. Fehlen eigentlich nur das Glacé und etwas wärmere Temperaturen. Tatsächlich genossen hier bis vor kurzem städtische Mitarbeitende ab und zu ein Wie funktioniert eine Kläranlage? sommerliches Bad. Der Direktor hatte ein ungenutztes Klärbecken kurzerhand zu einem Swimmingpool umDie Reinigung des Abwassers bauen lassen – inklusive sauberem in der Kläranlage Werdhölzli Wasser, versteht sich. Andernorts auf in Zürich erfolgt in fünf Schrit- der Anlage liess er einen ungenutzten ten: In der mechanischen Raum in ein Oldtimer-Museum verReinigung (Stufe 1) bleibt Gro- wandeln. Wenn sie sich schon um die bes wie Holz oder Steine in ganze Scheisse kümmern, so vielleicht Rechen und Sandfängen hän- die Überlegung, dann sollen sie es auch gen. Durch das Einblasen ein bisschen schön haben. Das ging nur von Luft sammeln sich Fette so lange gut, bis Kritiker*innen darauf und Öle auf der Wasserober- hinwiesen, dass Badeplausch und Aufläche, in einem Klärbecken toshow mit Gebührengeldern finansetzen sich Fäkalien und ziert wurden. Das Ganze endete in eiPapierreste ab. In der biologi- nem politisch-medialen Skandal und schen und chemischen der unrühmlichen Absetzung des DiReinigung (Stufe 2 und 3) wer- rektors. Sowie mehreren Schildern, auf den Gifte wie Ammonium denen steht: «Baden verboten». oder Phosphate umgewandelt und abgebaut. Dank Zugabe von Ozon werden schliesslich Medikamentenrückstände, Pflanzenschutzmittel sowie Hormone aufgespalten (Stufe 4) und filtriert (Stufe 5). EBA

Vor der «Kloakenreform» gab es kaum Hemmungen

Heute schliessen wir uns für unser Geschäft auf Toiletten ein. Nicht immer waren Ausscheidungen mit Schamgefühlen verbunden. Die Römer hielten auf Gemeinschaftslatrinen Schwätzchen, spielten oder schlossen gar Verträge ab. Während eines Festmahls liessen sie sich von Sklaven auch mal einen Topf drunterhalten. Während das alte Rom über ein ausgeklügeltes Abwassersystem verfügte, machten die Menschen im Mittelalter ihr Geschäft aufs Feld oder zuhause über Löchern im Boden in den darunter liegenden Stall. Städter*innen entsorgten ihre Fäkalien in Gräben oder Gruben. Mancherorts boten sich «Pelerinenmänner» oder «Abtritt-Anbieterinnen» mit Eimern unter grossen Umhängen als wandelnde Klohäuschen an. Am Ende war es nicht die Scham, die zu einer hygienischen Revolution führte. Sondern die gesundheitliche Gefahr durch Seuchen wie Cholera und Typhus vor dem Hintergrund stark wachsender Städte. Historiker*innen betonen, dass der Wille, eine moderne Stadt zu sein, ebenfalls ein wichtiger Grund für die «Kloakenreform» Mitte des 19. Jahrhunderts darstellte. Zunächst wurde der Kot in Kübeln gesammelt und eingeholt, ehe sich das effizientere, noch heute übliche «Schwemmsystem» durchsetzte, bei dem Kot und Urin durch Zugabe von Wasser direkt in eine Kläranlage geleitet werden. Da mit der zunehmenden Industrialisierung auch Gewässer-Verunreinigungen etwa durch Phosphate zunahmen, konnte in Schweizer Seen bis in die 1970er-Jahre nicht gebadet werden. Durch die Entwicklung von biologischer und chemischer Reinigung in Klärwerken verbesserte sich die Situation massiv. Seit einer Verschärfung des Gewässerschutzgesetzes vor wenigen Jahren müssen zudem auch Mikroverunreinigungen von Medikamenten oder Hormonen herausgefiltert werden. Dies geschieht entweder, indem durch Zugabe von Ozon die Schadstoffe aufgespalten und schliesslich filtriert werden wie in Zürich, oder durch ein logistisch aufwendigeres Verfahren mit Aktivkohle. EBA

Die Unsichtbaren — eine Serie in mehreren Teilen

— Teil 1/Heft 522: Reinigungspersonal — Teil 2/Heft 524: Care-Arbeiterinnen — Teil 3/Heft 526: Klärwerkfachleute

Wir lagern immer häufiger unliebsame oder wenig ange - sehene Arbeiten an andere aus: Putzen, Ernte, Care-Arbeit, Müllabfuhr. Wir möchten wissen, wer diese Arbeiten verrichtet und unter welchen Bedingungen. Und was dies für Folgen hat.