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Ulrike Scharf: "Bayern hilft mit offenem Herzen"

❯ Bayerns Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales über die Hilfe für Ukraine-Flüchtlingen

Ulrike Scharf: „Bayern hilft mit offenem Herzen“

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Am 23. Februar leistete Ulrike Scharf ihren Amtseid als bayerische Staatsministerin für Familie, Soziales und Arbeit ab. Die CSU-Politikerin ist damit auch die neue Schirmherrschaftsministerin der Sudetendeutschen. Nur einen Tag später, am 24. Februar, startete Rußlands Präsident Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Für Ulrike Scharf bedeutete dies, gleich im Krisenmodus zu starten, um Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge zu organisieren. Am Samstag besuchte die CSU-Politikerin die 24-Stunden-Hilfe am Münchner Hauptbahnhof, um mit Helfern und Flüchtlingen zu sprechen.

Frau Ministerin, es ist Samstagnachmittag und man findet Sie im Münchner Hauptbahnhof mitten unter Kriegsflüchtlingen und freiwilligen Helfern der Caritas.

Ulrike Scharf: Ja, ich will mir selbst ein Bild davon machen, wie es den Menschen geht, die in München ankommen, und wie wir als Freistaat das großartige Engagement der vielen Ehrenamtlichen, die sich um die Flüchtlinge kümmern, unterstützen können. Bayern hilft mit offenem Herzen.

Was fühlen Sie, wenn Sie mit den Flüchtlingen sprechen?

Scharf: Das erste Opfer eines Krieges ist immer die Menschlichkeit. Das sind die Kinder, die Frauen, die Älteren, Menschen mit Behinderung, die Schwachen. Die Menschen, die aus den Zügen steigen, sind von unfaßbarem Leid geprägt. Gerade das Schicksal der Kinder macht mich unheimlich betroffen. Ich habe mit einer jungen Mutter gesprochen, die mit ihren beiden Kindern seit fünf Tagen auf der Flucht ist und sich größte Sorgen um ihren Mann macht. Was diese Menschen durchmachen müssen, ist unvorstellbar. Das geht mir nah.

Ministerin Ulrike Scharf im Gespräch mit Katy, die mit ihren Kindern Ira und Lesha nach fünf Tagen Flucht München erreicht hat.

Leider haben auch in Deutschland nicht alle Menschen ein gutes Herz. Es gibt Meldungen, daß Menschenhändler gezielt Jagd auf junge Frauen machen.

Scharf: Wir müssen Frauen davor schützen, daß ihre Notlage skrupellos ausgenutzt wird. Die Caritas hat einen Flyer in Ukrainisch und Russisch produziert, in dem über Zwangsprostitution aufgeklärt wird, und die Helferinnen beraten direkt nach der Ankunft die geflüchteten Frauen, wie sie sich und ihre Kinder schützen können. Deshalb ist es wichtig, daß sich die Flüchtlinge möglichst schnell registrieren. Ich bin auch der Bundespolizei sehr dankbar, daß sie bei jeder Ankunft eines Zuges mit Flüchtlingen starke Präsenz zeigt. Auch das schreckt Täter ab, alleinreisende Frauen anzusprechen.

Ministerin Ulrike Scharf mit (von links) Barbara Igl (In Via), Gabriele Stark- Angermeier (Caritas) und Caritasdirektor Prof. Dr. Hermann Sollfrank.

Auf Ihre Initiative hat die Bayerische Staatsregierung direkt nach Kriegsbeginn bei der Freien Wohlfahrtspflege ein Hilfetelefon eingerichtet. Wie ist die erste Bilanz?

Scharf: Wir hatten bereits über 6000 Anrufe. Das Hilfetelefon ist eine erste Anlaufstelle für Flüchtlinge, die oft nicht mehr weiterwissen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Telefon sprechen nicht nur Deutsch und Englisch, sondern auch Ukrainisch und Russisch. Das Schöne ist, daß wir oft sehr schnell und unbürokratisch weiterhelfen können. An das Hilfetelefon können sich aber auch Bürgerinnen und Bürger wenden, die selbst helfen wollen. Das Hilfetelefon ist unter der Woche von 8.00 bis 20.00 Uhr sowie am Wochenende von 10.00 bis 14.00 Uhr unter der Telefonnummer (089) 54 49 71 99 erreichbar. Außerdem haben wir für schriftliche Fragen eine eMail-Adresse eingerichtet, und zwar unter Ukraine-hotline@ freie-wohlfahrtspflege-bayern.de

Ministerin Ulrike Scharf und Caritasdirektor Prof. Dr. Hermann Sollfrank informieren sich beim Einsatzleiter über die aktuelle Situation.

Was ist das größte Problem für die Flüchtlinge, wenn sie in Deutschland angekommen sind?

Scharf: An erster Stelle steht die Frage der Unterkunft. Allein in München kommen jeden Tag zweitausend Flüchtlinge an. Ein Drittel davon reist umgehend weiter, meist zu Verwandten, ein Drittel braucht eine Notunterkunft für die nächsten Tage, und ein Drittel wird zumindest bis zum Ende des Krieges bleiben. Da die Flüchtlinge nur die Sachen dabei haben, die sie tragen konnten, fehlt es an allem. Ein wichtiger Punkt sind zum Beispiel deutsche SIM-Karten für Mobiltelefone, um den Kontakt zu den Daheimgebliebenen halten zu können. Viele Männer kämpfen in der Ukraine gegen die russische Angriffsarmee. Welche Sorgen sich die Frauen, Mütter und Kinder hier in Deutschland machen, mag man sich nicht vorstellen.

Mit wievielen Flüchtlingen rechnen Sie?

Scharf: Diese Zahl ist schwer abzuschätzen. Je länger der Krieg dauert, je mehr Opfer insbesondere unter der Zivilbevölkerung zu beklagen sind, desto mehr Menschen werden versuchen, vor Tod und Zerstörung zu fliehen. Für uns in Bayern bedeutet dies, daß unser Hilfseinsatz kein Sprint, sondern ein Marathon sein wird. Wir müssen deshalb neben der akuten Hilfe auch die weiteren Schritte planen, insbesondere die Integration dieser Menschen, und zwar vom Kindergarten bis zum Arbeitsmarkt. Unsere Forderung an den Bund ist es, einen fairen Verteilmechanismus festzulegen. Eine Konzentration der Flüchtlinge auf wenige Großstädte würde diese Kommunen vor größte Probleme stellen, auch weil der Wohnungsmarkt in den Metropolen bereits vor dem Krieg angespannt war. Wir müssen die Flüchtlinge gleichmäßig über die Fläche verteilen, was dann auch die Integration verbessert. In Bayern haben wir den sogenannten Königsteiner Schlüssel längst überschritten und rund 30 Prozent derAnkommenden aufgenommen, obwohl unsere Quote bei nur 15 Prozent liegt. Hinzu kommt, daß wir – im Gegensatz zu 2015 – unter den Flüchtlingen sehr viele Kinder und Jugendliche haben. Wir brauchen also Plätze in den Kitas und in den Schulen. Dafür müssen die Kinder aber auch gegen Masern geimpft sein. Sprich: Die Aufgabe ist komplex.

Wie reagieren die Bürgerinnen und Bürger auf die Flüchtlinge?

Scharf: Solidarität und Hilfsbereitschaft sind vom ersten Tag an unglaublich. Wir arbeiten eng mit den Hilfsorganisationen zusammen und ziehen an einem Strang. Unser bayerischer Innenminister Hermann steht im permanenten Austausch mit den Landkreisen und Kommunen, um Unterbringungsmöglichkeiten bereitzustellen. Der zweite Schritt ist die Registrierung, damit die Flüchtlinge medizinisch versorgt werden können und auch finanzielle Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Gott sei Dank hat die EU einstimmig entschieden, daß die Flüchtlinge ab sofort arbeiten können. Seit dem ersten Tag stehen wir deshalb im engen Kontakt mit der Agentur für Arbeit und der Wirtschaft. Im dritten Schritt müssen wir Sprachangebote machen, damit die Flüchtlinge die Möglichkeit haben, schnell Deutsch zu lernen – was wiederum den Eintritt in den Arbeitsmarkt wesentlich erleichtert.

Ankunft an Gleis 12: Mit dem Railjet aus Budapest erreichen die nächsten Flüchtlinge München.

Der Krieg hinterläßt auch seelische Spuren. Wie wollen Sie hier helfen?

Scharf: Die Erlebnisse einer Flucht, aber vor allem eines Krieges sind so fürchterlich, dass viele Betroffene auch psychologische Hilfe brauchen. Bayern steht hier mit seinen vielfältigen Einrichtungen bereit, um zu helfen. Unser besonderes Augenmerk gilt dabei natürlich den Kindern und Jugendlichen, die alleine bei uns ankommen.

Nach der Ankunft werden die Flüchtlinge am Hauptbahnhof mit Essen und Trinken versorgt.

In Bayern leben auch viele Russen. Sehen Sie deren Integration in Gefahr?

Scharf: Nein, es ist nicht der Krieg der Russen, es ist Putins Krieg. Ich finde es erschütternd,daß einziger Mensch so viel Leid verbreitet.

Interview und Fotos: Torsten Fricke

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