❯ Prof. Dr. Manfred Kittel, Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, im Interview mit der Sudetendeutschen Zeitung
Von einem „Verbrechen ohne Namen“ hatte noch Winston Churchill gesprochen, bis der polnische Holocaust-Überlebende Raphael Lemkin aus dem griechischen Wort „genos“ für „Volk“ und dem lateinischen Verb „cidere“ für „töten“ den Begriff für eine der schlimmsten Greueltaten prägte: Genocid – Völkermord. Daß in Deutschland die Begriffe Völkermord und Holocaust oft als Synonym verwendet werden, hat Prof. Dr. Manfred Kittel in einem Vortrag auf dem Heiligenhof problematisiert und dargelegt, warum auch die Vertreibung Völkermord war.
Herr Professor, warum war es für Raphael Lemkin so wichtig, dem Verbrechen ohne Namen einen Namen zu geben?
Prof. Dr. Manfred Kittel: Vor dem Zweiten Weltkrieg war Lemkin Rechtsanwalt in Warschau und Staatsanwalt an einem Bezirksgericht. Nicht zuletzt die Erfahrung antisemitischer Pogrome im östlichen Europa ließ ihn schon früh zu einem Verfechter des Schutzes ethnischer und religiöser Gruppen und Minderheiten werden. Nach 1933 erkannte er die Bedrohung durch das Naziregime und veröffentlichte Abhandlungen über massenhafte Greueltaten, die er damals „Verbrechen der Barbarei“ nannte. Nach dem Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen gelang Lemkin die Flucht über Schweden in die USA. Erst 1945 erfuhr er, daß seine Eltern und 49 weitere Familienmitglieder zu den sechs Millionen Juden gehörten, die von den Nazis während des Holocausts ermordet worden waren. Lemkin sah fortan seine Lebensaufgabe darin, Völkermord weltweit zu ächten.
Wie hat Lemkin seine Mission erfolgreich umgesetzt?
Kittel: Bevor im November 1945 der Prozeß gegen die NS- Hauptkriegsverbrecher begann, reiste Lemkin nach Nürnberg und versuchte die alliierten Ankläger davon zu überzeugen, den Völkermord in die Liste der Anklagen gegen die Naziführung aufzunehmen. Nach dem Prozeß setzte Lemkin seine Mission fort und reiste um die ganze Welt, um sich in die Debatte um eine UN-Völkermordkonvention einzubringen. Er machte es sich zur Lebensaufgabe, Menschen vor solchen Verbrechen zu bewahren und zu schützen. Nicht zuletzt dank seiner Bemühungen konnte Ende 1948 die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes verabschiedet werden. Lemkin wurde mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert, aber seiner Arbeit blieb zu Lebzeiten die verdiente Würdigung versagt. Er starb 1959 arm und einsam in New York. Heute erinnert man sich an ihn als eine der Schlüsselfiguren im Kampf gegen Völkermord und staatliche Greueltaten.
Wie hat Lemkin Völkermord definiert?
Kittel: In Artikel 2 der UN- Völkermordkonvention heißt es: „In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“
Es geht also nicht um die Ermordung von einzelnen Menschen?
Kittel: Es geht um die Zerstörung von Gruppen. Völkermord kann also nach der UN-Konvention sogar dann vorliegen, wenn kein einziger Mensch getötet worden ist.
In Deutschland wird in der politischen Diskussion Völkermord vor allem als Synonym für den Holocaust verwendet. Wird mit dieser Ausweitung des Begriffs Völkermord nicht der Holocaust verharmlost?
Kittel: Eine derart systematische und teilweise auch fabrikmäßige Ermordung von Menschen war ein in der Geschichte präzedenzloses Verbrechen, daran ändern auch Debatten um die Definition des Völkermords nichts. Im Gegenteil. Aufgabe der Wissenschaft ist es aber, anhand von Fakten zu argumentieren, zumal die weite UN-Definition 1954 auch vom Deutschen Bundestag parteiübergreifend von der CDU bis zur SPD akzeptiert und über den Paragraphen 220a Strafgesetzbuch in deutsches Recht überführt wurde.
Als Beleg haben Sie ein Memorandum von Lemkin aus dem Jahr 1954 an den Bundestag entdeckt. Was steht in diesem Schreiben?
Kittel: Anlaß war die Einladung der UN an die Bundesrepublik Deutschland, der Völkermordkonventionbeizutreten. Der damalige FDP-Bundesjustizminister Fritz Neumayer übernahm die Völkermord-Definition von Lemkin und erklärte, man müsse nicht nur die „eigentliche Ermordung“ international unter Strafe stellen, sondern bereits Handlungen, die in der Absicht unternommen wurden, „eine Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“. In den ersten deutschen Gesetzesentwurf, der die UN-Konvention in nationales Recht überführen sollte, schlich sich allerdings ein Übersetzungsfehler ein. Das Verb „destroy“ wurde mit „auslöschen“ statt mit „zerstören“ übersetzt. Demnach läge Völkermord erst nach der Auslöschung einer Gruppe vor, eine Haltung, die etwa auch der sowjetischen Position während der Konventionsdebatten im Jahr 1948 entsprach. Der stark antikommunistisch gesinnte Lemkin warnte damals, daß diese Einengung es unmöglich machen würde, Vertreibung als Völkermord zu sanktionieren. Laut Lemkin reichte für den Tatbestand des Völkermords bereits die teilweise Zerstörung einer Gruppe aus. Lemkin schrieb in seinem Memorandum, er habe den Begriff Zerstörung speziell für den Zweck eingeführt, um die Beschädigung des soziologischen Gefüges der Gruppe „als solche“ hervorzuheben.
Lemkin stand also auf dem Standpunkt, daß Vertreibung Völkermord ist. Hat er dabei auch die Vertreibung der Sudetendeutschen im Blick?
Kittel: Ja. In einem zweiten Memorandum an den Bundestag thematisierte Lemkin sogar ausdrücklich die Vertreibung der Sudetendeutschen und warnte, die Beneš-Dekrete würden die „böswillige Absicht“ der tschechoslowakischen Regierung unterstreichen und deren „strafrechtliche Verantwortung“ gemäß der Völkermordkonvention belegen. Zwischen dem klaren Wortlaut der UN-Konvention und den Beneš-Verbrechen, so Lemkin, sollte ein deutsches Gesetz im Nachhinein keine „unklare und unzulängliche Formel“ einschieben. Die deutschen Vertriebenen seien, so Lemkin, zwar nicht ausgerottet worden, aber als nationale und ethnische Gruppe in ihrer Geschlossenheit und in ihrer Einheit zerstört worden.
Jetzt kann man argumentieren, daß sich Sprache und Wortbedeutungen im Laufe der Zeit verändern und sich der Begriff Völkermord zum Synonym des Holocaust entwickelt hat. Wenn man jetzt Vertreibung unter dem Tatbestand Völkermord subsummiert, könnte das nicht als Revanchismus oder Verharmlosung des Holocaust mißverstanden werden?
Kittel: Darauf würde ich mit der Gegenfrage antworten, ob bei der Vertreibung der Deutschen unhistorische Relativierungen nur ein Kavaliersdelikt darstellen. Richtig ist doch Folgendes: In Deutschland, im Land des Holocausts, ist der Begriff Völkermord über lange Zeit, von den 1970er Jahren bis in die jüngste Gegenwart hinein aufs allerengste vor allem mit der Vernichtung der europäischen Juden in der NS-Diktatur verknüpft gewesen. Wer in meinem Alter oder jünger ist, kannte das lange gar nicht anders. Das heißt, es gab lange Zeit eine – verständliche – Scheu, den Begriff Genozid auch auf andere Verbrechen gegen die Menschheit anzuwenden. Die Scheu galt vor allem auch für die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten.
Wann hat sich das geändert?
Kittel: Es begann – und auch das muß man eben zur Kenntnis nehmen – in den 1990er Jahren mit dem Horror in Ruanda und Srebrenica, die beide weithin als Völkermord eingestuft wurden. 1999 verurteilten deutsche Gerichte zum ersten Mal einen Täter aufgrund von Paragraph 220a StGB, also wegen Völkermords. Dieser Paragraph wurde übrigens 2002 in ein eigenes Völkerstrafgesetzbuch überführt. Der Täter war ein bosnischer Serbe, der 1992 auf dem Balkan schwerste Verbrechen an Muslimen verübt hatte. Sein Pflichtverteidiger hatte argumentiert, dem Angeklagten sei es lediglich „um eine Vertreibung der Muslime gegangen, nicht um ihre Vernichtung“. Vertreibung, so der Verteidiger, reiche aber nicht aus, um jemanden wegen Völkermords zu bestrafen, denn dann würde, so der Anwalt, „auch die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei „unter Völkermord fallen“. Der Bundesgerichtshof hat höchstrichterlich diese Argumentation zurückgewiesen und sich auf die weite UN-Konvention gestützt. Völkermord, so der BGH, liege bereits dann vor, wenn man die Gruppenmitglieder der bosnischen Muslime in alle Welt zerstreue, da dann die Gruppe nicht mehr existiere. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Sichtweise 2000 bestätigt und eine Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, unter anderem deshalb, weil für den Tatbestand des Völkermords nicht unbedingt eine Tötung von Menschen vorliegen müsse. In der Begründung des Bundesverfassungsgerichts hieß es damals: „Die in Paragraph 220a StGB vorausgesetzte Absicht, eine Gruppe zu zerstören, ist schon nach dem Wortsinn umfassender als die der physisch-biologischen Vernichtung der Gruppe.“
„Vertreibung ist Völkermord“ hieß analog zu diesem höchstrichterlichen Urteil des BGH das Motto des Sudetendeutschen Tages im Jahr 2006. Ein Historiker warf, womöglich ohne den Bundestagskonsens von 1954 zu kennen, den Sudetendeutschen daraufhin öffentlich eine „revisionistische Übertreibung“ und die Gleichsetzung der Begriffe Vertreibung und Holocaust vor.
Kittel: Selbstverständlich können sich Begriffsdefinitionen ändern. Wir haben darüber auch in der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in den Jahren 2011/12 intensiv diskutiert. In der Ausstellungskonzeption haben wir vor dem Hintergrund eines damals noch ganz am Holocaust orientierten Genozidbegriffes in Deutschland Vertreibungen beziehungsweise ethnische Säuberungen vom Völkermord abgegrenzt und diesen als „Ermordung möglichst aller Angehörigen einer Gruppe“ definiert, also weitaus enger als in der UN-Konvention.
Wie kam es dann zur Rückbesinnung auf die ursprüngliche Definition nach Lemkin?
Kittel: Man muß sehen, daß es nach 2012 eine entscheidende Zäsur in der Begriffsdebatte gegeben hat: Der Bundestag hat zunächst 2016 die Verbrechen des Osmanischen Reiches an den christlichen Armeniern im Ersten Weltkrieg als Völkermord eingestuft. Im Mai 2021 hat dann das Hohe Haus in einer weiteren Resolution erklärt, die Herero in der deutschen Kolonie Südwestafrika seien ab 1904 Opfer eines Völkermordes geworden. Das kann man – wie übrigens schon Raphael Lemkin – so einschätzen, aber eben nur, wenn man einen weiten Genozidbegriff zugrunde legt. Und dann kommt man, wenn mankeine sub-wissenschaftlichen Fake News produzieren will, um eine Schlußfolgerung nicht herum: Die Zerstörung der Gruppe als solcher ging etwa bei den Donauschwaben in der Wojwodina oder bei den Sudetendeutschen in Böhmen nach 1945 bestimmt nicht weniger weit als bei den Herero.
Was raten Sie als Wissenschaftler der Politik?
Kittel: Es wäre gut gewesen, wenn die Abgeordneten sich im Kontext ihrer jüngsten Herero-Resolution klar gemacht hätten, wie sie generell zu der Völkermord-Definition des Bundestages aus dem Jahr 1954 stehen. Man sieht hier, wohin Geschichtspolitik nach Konjunkturlage führen kann – in diesem Fall wohl vor allem der Blick auf die boomende Kolonialismus- Bewältigung. Es wäre jedenfalls nicht gut, wenn die Vermutung aufkäme, aus Gründen der politischen Korrektheit könne von Völkermord tendenziell nur dann die Rede sein, wenn Deutsche auch Täter waren oder wie im armenischen Fall zumindest Mitwisser, während in Fällen, in denen Deutsche Opfer waren, aus Prinzip – oder wegen der Versöhnung oder aus welchen Gründen auch immer – nie ein Genozid vorgelegen haben dürfe. Man sollte schließlich auch eines nicht vergessen: Ein weites Genozidkonzept hat – jenseits rein historischer Einordnungen – große Vorteile für die Gegenwart. Man kann mit der moralischen Wucht des Völkermordbegriffes weltweit, von Darfur bis zu den Uiguren, die viel zu vielen Versuche auch heute anprangern, ethnische oder religiöse Gruppen zu zerstören.
In der Rechtswissenschaft gilt der Grundsatz „Nulla poena sine lege – keine Strafe ohne Gesetz“. Der Völkermord-Paragraph ist in Deutschland 1954 in Kraft getreten, also nach der Vertreibung in den Jahren 1945 und 1946. Damit können die Täter von damals nach deutschem Recht nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Kittel: Es geht in der Tat nicht um eine strafrechtliche Verfolgung, sondern um eine faktenbasierteAufarbeitung der Geschichte.
Torsten Fricke
❯ Zur Person: Prof. Dr. Manfred Kittel
❯ Geboren am 2. Februar 1962 in Großhaslach (Mittelfranken), verheiratet, zwei Kinder, evangelisch.
❯ 2002: Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Romanistik in Erlangen und München.
❯ 1992: Promotion bei Prof. Dr. Horst Möller an der FAU Erlangen-Nürnberg.
❯ Von 1992 bis 2009: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München
❯ 1999: Habilitation an der Universität Regensburg.
❯ 2005: Berufung zum außerplanmäßigen Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg.
❯ Von 2009 bis 2014: Direktor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin.
❯ 2015: Menschenrechtspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
❯ 2020: Veröffentlichung einer Studie zur Geschichte des Lastenausgleichs unter dem Titel „Stiefkinder des Wirtschaftswunders?“