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Daniel Herman: Laßt uns gemeinsam das große Haus Europa weiter bauen
Für seinen außergewöhnlichen Einsatz für die deutsch-tschechische Aussöhnung wird der ehemalige tschechische Kulturminister Daniel Herman am Samstag, 17. Juli 2021, beim Festakt des Sudetendeutschen Tages in München mit dem Europäischen Karls-Preis der Sudetendeutschen Landsmannschaft ausgezeichnet. Im Interview mit der Sudetendeutschen Zeitung appelliert Herman an die sudetendeutschen und tschechischen Landsleute, diesen Kurs der Annäherung weiter fortzusetzen.
Herr Herman, am 15. Mai 2016 haben Sie in Nürnberg auf dem Sudetendeutschen Tag Geschichte geschrieben. Als erstes Mitglied einer tschechischen Regierung haben Sie die offizielle Festrede gehalten. Der damalige Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer nannte Ihre Rede „historisch“, und in der Halle gab es stehende Ovationen, aber auch heftige Kritik in der Heimat. Hatten Sie nicht Angst, daß man in Prag Ihren Rücktritt als Kulturminister fordert?
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Daniel Herman: Als Kulturminister lag das in meiner Verantwortung. Ich hatte vorher den Premierminister Bohuslav Sobotka von der ČSSD und seine Stellvertreter Andrej Babiš von der ANO-Bewegung und Pavel Bělobrádek von der KDU-ČSL informiert, bin also als Repräsentant der Regierung nach Nürnberg gefahren. Von den Kommunisten und Nationalisten gab es dann zwar die erwarteten Reaktionen, aber ansonsten ist meine Reise in der Tschechischen Republik von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen worden.
Diese Reise nach Deutschland ist auch eine große persönliche Geste von Ihnen. Ihr Großvater ist am 7. April 1945 im KZ Mauthausen umgekommen.
Herman: Ich stamme aus einer halb jüdischen, halb katholischen Familie. Neben meinem Großvater mütterlicherseits sind auch weitere Verwandte unter anderem im KZ Auschwitz und im KZ Dachau ermordet worden.
Wie hat Ihre Mutter den Holocaust überlebt?
Herman: Als die Gestapo meine Großeltern geholt hat, waren meine Mutti, die damals zehn Jahre alt war, und ihre 12jährige Schwester auf der Straße weinend stehengeblieben. Sie wurden dann von Nachbarn versteckt. Meine Großmutter kam ins KZ Theresienstadt, hat aber Gott sei Dank den Holocaust überlebt.
Wo sind Sie aufgewachsen?
Herman: Zwanzig Jahre nach dem Krieg haben sich meine Eltern in Guthausen im Böhmerwald niedergelassen, in einer ehemaligen Holzfällersiedlung im Dreiländereck von Böhmen, Bayern und Oberösterreich. Meine Eltern haben dort ein leerstehendes Haus gekauft, ein, wie es bei uns hieß, „Überbleibsel der Deutschen“.
Schon als Jugendlicher gerieten Sie ins Fadenkreuz der Státní bezpečnost, dem Staatssicherheitsdienst der Tschechoslowakei. Wie kam es dazu?
Herman: Auf Grund meiner jüdischen Vorfahren standen wir im Verdacht, Zionisten zu sein, also Staatsfeinde. Außerdem lebten wir im Grenzgebiet und wurden deshalb besonders beobachtet. Als ich 1980 mit einem Freund am Goldener Steig Materl und Wegkreuze repariert habe, wurden wir plötzlich von einer Militärstreife gestellt. Mit vorgehaltenen Maschinenpistolen haben uns die Soldaten dann zum Verhör gebracht. Uns wurde vorgeworfen, wir würden stumme Briefkästen für westliche Agenten einrichten, was natürlich Unsinn war. Das System war nicht mehr anti-deutsch, weil es ja fast keine Deutschen mehr in Böhmen gab, aber es war antireligiös. Die Freiheit, die wir im Glauben fanden, war der damaligen Staatsführung suspekt.
Wie sind Sie zum Glauben gekommen?
Herman: Bei uns daheim galt das kommunistische Regime als absolut inakzeptabel. Ich habe deshalb nach einer positiven Alternative gesucht, die ich in der Kirche gefunden habe – eine isolierte Insel im Ozean der Unfreiheit.
Was haben Sie nach der Matura im Jahr 1982 gemacht?
Herman: Ich wollte unbedingt Theologie studieren, aber es war nicht einfach, die Genehmigung für ein Studium zu bekommen.
Ich habe erst kurz Pädagogik studiert, dann drei Jahre als Touristenführer auf Schloß Frauenberg bei Budweis gearbeitet, bis der Staatssicherheitsdienst behauptet hat, ich würde in meinen Führungen anti-kommunistische Propaganda verbreiten. Ich mußte dann als Hilfsarbeiter in einer Bäckerei arbeiten. Ich weiß also, wie es sich anfühlt, sehr früh zur Arbeit zu gehen. Als dann in der Sowjetunion mit Michail Gorbatschow die Perestroika begann, gab es auch in der Tschechoslowakei Lockerungen. So wurde Mitte der achtziger Jahre der Numerus Clausus für Theologie abgeschafft, und ich konnte endlich mit meinem Studium beginnen. Im Juni 1989, vier Monate vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, bin ich geweiht worden und war zunächst als Kaplan tätig. Nach der politischen Wende konnte das seit 1972 verwaiste Bischofsamt von Budweis wieder besetzt werden. Miloslav Vlk, der 1990 von Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Budweis ernannt wurde, holte mich als seinen Sekretär. Auch als Bischof Vlk dann 1991 Erzbischof von Prag wurde, blieb ich seine rechte Hand und koordinierte die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.
Woher können Sie so gut Deutsch?
Herman: Ich habe unter anderem in Eichstätt studiert und in der Pressestelle der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn praktische Erfahrungen gesammelt. Ich war anschließend neun Jahre lang Pressesprecher der Bischofskonferenz in der Tschechischen Republik.
Sie haben 2007 die nicht leichte Entscheidung getroffen, den Papst um die Zurücksetzung in den Laienstand zu bitten. Warum?
Herman: Auf Grund meiner Tätigkeit als Pressesprecher hatte ich sehr viele berufliche Kontakte zu Menschen, die nicht automatisch der Kirche angehörten. Ich habe gemerkt, daß diese Vielfalt für mich erfüllender ist als ausschließlich innerhalb kirchlicher Strukturen zu arbeiten. Der Kardinal hat meine Entscheidung verstanden und mich in dem Prozeß der Laisierung unterstützt, zumal ich nie als Pfarrer gearbeitet hatte. Er blieb auch in meinen späteren Positionen mein wichtigster Berater, und wir waren bis zu seinem Tod eng befreundet. Kardinal Vlk war eine große Persönlichkeit.
Wie sind Sie später in die Politik eingestiegen?
Herman: Von 2010 bis 2013 war ich Direktor des Instituts für das Studium totalitärer Regime, das sich ähnlich wie die Gauck-Behörde in Deutschland mit der Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur beschäftigt hat. 2013 wurde ich gebeten, bei den Parlamentswahlen für die christlich-demokratische KDU-ČSL zu kandidieren. Als unter der Führung der ČSSD mit der Ano-Bewegung und der KDU-ČSL die Regierungskoalition entstand, wurde ich im Januar 2014 Kulturminister und hatte das Amt bis zu den nächsten Wahlen im Dezember 2016 inne.
Herr Herman, mittlerweile haben sich die Rollen geändert. Mit Andrej Babiš stellt die Ano-Bewegung den Premierminister, die ČSSD ist nur noch Juniorpartner und die KDU-ČSL ist gar nicht mehr an der Regierung beteiligt. Wenn man die aktuellen Aussagen führender tschechischer Politiker bewertet, hat man von Deutschland aus den Eindruck, der Aussöhnungsprozeß sei ins Stocken gekommen.
Herman: Die Tschechische Republik befindet sich mitten im Wahlkampf, und das beeinflußt alles. Als Optimist bin ich überzeugt, daß die alten Strukturen, und damit die Kommunisten, immer schwächer werden. Die überwiegende Mehrheit der Tschechen steht zur Europäischen Union und ihren Werten, ebenso zur Nato.
Am Samstag erhalten Sie im Rahmen eines Festaktes in München den Sudetendeutschen Karls-Preis. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Herman: Der Karls-Preis ist eine große Ehre für mich. Ich verstehe diese Auszeichnung als Unterstützung der deutschtschechischen Verständigung. Der Namensgeber, Kaiser Karl IV., war eine europäische Persönlichkeit, deren Vision uns auch heute noch inspiriert. Unsere Vorfahren haben unter der böhmischen Krone gut zusammengelebt. Diese gemeinsame Geschichte ist für uns tschechische und sudetendeutsche Landsleute eine Verpflichtung, das große Haus Europa gemeinsam weiter zu bauen.
In Ihrer Rede auf dem Sudetendeutschen Tag haben Sie bereits 2016 davor gewarnt, man müsse Europa vor Haß und Nationalismus schützen. Hat sich diese Befürchtung bestätigt?
Herman: Der Brexit muß uns Europäern eine eindringliche Warnung sein. Und in einigen europäischen Ländern bekommen Populisten immer mehr Oberwasser. Für die Tschechische Republik sehe ich aber keine akute Gefahr, obwohl ich natürlich nicht vorhersagen kann, wie die Wahlen ausgehen. Obwohl ich Daniel heiße, bin ich schließlich kein Prophet.

Sudetendeutscher Tag 2016: Daniel Herman, Bernd Posselt und Horst Seehofer. Foto: Fischer
Bei der Karls-Preisverleihung hält der Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe, Bernd Posselt, die Laudatio auf Sie. Wie ist Ihr Verhältnis?
Herman: Wir sind seit vielen Jahren befreundet und haben uns erst vor ein paar Tagenbeim Deutsch-Tschechischen Diskussionsforum getroffen, wo wir gemeinsam in der Arbeitsgruppe „Dialog ohne Tabus“ arbeiten und Wege suchen, nach den Corona-Reisebeschränkungen das Verhältnis zwischen den Nachbarn wieder zu beleben. An Bernd Posselt bewundere ich seine Rhetorik. Für mich ist er der beste Redner, den ich kenne.
Die Ankündigung, daß Sie den Karls-Preis erhalten, hat in der Tschechischen Republik auch Gegner auf den Plan gerufen.
Herman: Daß kommunistisch oder nationalistisch geprägte Kreise Kritik üben, war zu erwarten. Das ist Folklore.
Sie sind vielfältig aktiv. Sie leiten nicht nur als Vorsitzender die Ackermann-Gemeinde in der Tschechischen Republik, sondern sind mittlerweile Honorarkonsul für Liechtenstein. Wie kam es dazu?
Herman: Liechtenstein und Böhmen verbindet eine über siebenhundert Jahre lange Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch die Liechtensteiner, obwohl sie nicht Deutsche und keine Kollaborateure der Nazis waren, enteignet. Erst seit 2009 haben die beiden Länder wieder diplomatische Beziehungen. Meine Aufgabe ist der Kulturbereich.
Dieses Verbindende zieht sich durch Ihr gesamtes Wirken. Da Ihr Großvater von den Nazis im KZ ermordet worden ist, hätte man auch Verständnis dafür haben müssen, wenn Sie jeden Kontakt mit Deutschland und den Deutschen vermeiden würden.
Herman: Es waren auch deutsche Oppositionelle, die im KZ saßen. Deshalb ist ein Gedanke, den ich auch bei meiner Rede 2016 ausgeführt hatte, für mich zentral: Es gibt nicht den Deutschen, den Tschechen, den Juden. Es gibt immer nur konkrete Menschen, die sich für ihr Leben und ihre Taten verantworten müssen. Das habe ich auch auf Grund des Schicksals meiner eigenen Familie verstanden.
Torsten Fricke
❯ Zur Person: Daniel Herman
❯ Geboren am 28. April 1963 in Budweis.
❯ 1984 bis 1989 Theologie-Studium in Leitmeritz.
❯ Juni 1989 Priesterweihe
❯ 1996 bis 2005 Sprecher der tschechischen Bischofskonferenz.
❯ 2007 Laisierung
❯ 2010 bis 2013 Direktor des Instituts für das Studium totalitärer Regime.
❯ 2013 bis 2017 Abgeordneter im tschechischen Parlament.
❯ Januar 2014 bis Dezember 2017 Minister für Kultur in der Regierung Bohuslav Sobotka.
❯ 2017 bis 2019 Stellvertretender Vorsitzender der KDU-ČSL.
❯ 2016 Kunstpreis zur deutsch-tschechischen Verständigung.
❯ 2017 Auszeichnung „Pro meritis scientiae et litterarum“ des Freistaats Bayern.
❯ 2020 Bundesverdienstkreuz.
❯ Seit 2014 Vorsitzender der Sdružení Ackermann-Gemeinde.
❯ Seit 2021 Honorarkonsul von Liechenstein.