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2 Die öffentliche Sozialhilfe
from VWL 04 - SV
In erster Linie versucht die öffentliche Sozialhilfe mit finanziellen Mitteln sicherzustellen, dass Menschen nicht in existentielle Not geraten und auch weiterhin am sozialen Leben teilhaben können. Denn mit der Aufrechterhaltung oder Stärkung ihrer Beziehungen wird der drohenden sozialen Desintegration entgegengewirkt. Im Idealfall können die Betroffenen nach einiger Zeit wieder selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Bei einer erneuten Notlage greifen schliesslich die Sicherungssysteme des sozialen Netzes, d. h. die sozialen Gruppen und/oder die Sozialversicherungen wieder (= Reintegration).
Die öffentliche Sozialhilfe ist eines von vielen Instrumenten, mit denen sich der Staat um Menschen in Ausnahmesituationen kümmert. Andere Instrumente sind z. B. Massnahmen des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts, wenn die Urteilsfähigkeit einer Person infrage gestellt ist oder Ausbildungsangebote, wenn junge Menschen straffällig geworden sind und im Gefängnis auf ein selbständiges Leben in Freiheit vorbereitet werden sollen.
Das soziale System und seine Sicherungsmechanismen sind Veränderungen unterworfen, die sich auf die Rechtsordnung auswirken können. Dies zeigt sich zum einen durch Reformen im Vormundschaftswesen. Seit dem 1. 1. 2013 gilt ein neues Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, das u. a. durch die Förderung des Selbstbestimmungsrechts und die Stärkung der Solidarität in der Familie geprägt ist. Zum andern manifestieren sich diese Veränderungen durch die periodischen Anpassungen der Sozialversicherungssysteme. So wurden z. B. bei der AHV seit ihrer Gründung bereits zehn Reformen durchgeführt. In der laufenden, elften «Revisionsrunde» steht dabei die Befürchtung im Mittelpunkt, dass der immer grössere Anteil rentenberechtigter Personen die langfristige Finanzierbarkeit der Sozialversicherungen infrage stellen könnte.
Diese Beispiele zeigen die Wirkungsweise des in unserem Lehrmittel verwendeten Gesamtsystems auf: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen führen allenfalls zu einer veränderten Wahrnehmung der sozialen Lage, was in der Folge Anpassungen der Rechtsordnung (z. B. Sozialversicherungsrecht, Vormundschaftsrecht etc.) auslösen kann.
2 Die öffentliche Sozialhilfe
Wie muss man sich die öffentliche Sozialhilfe konkret vorstellen? Grundsätzlich geht es um Geldbeiträge des Staates (deshalb «öffentliche» Sozialhilfe) an Personen, die sich in einer speziellen Notlage befinden. Die Sozialhilfe soll die soziale Integration von Sozialhilfebezügern sicherstellen, d.h. die betroffenen Personen sollen sich in das gesellschaftliche Leben «einfügen» können und nicht ausgegrenzt werden. Deshalb geht sie über die rein materielle Existenzsicherung hinaus. Ziel ist, die Selbstständigkeit der betroffenen Personen zu fördern, um zu verhindern, dass sie in eine demütigende und dauernde Abhängigkeit von staatlichen Behörden geraten. Darum wird der traditionelle, rein ökonomische Bereich der Sozialhilfe mit Beratungsangeboten ergänzt. Um den Anspruch auf Sozialhilfe überprüfen zu können, muss aber zuerst eine Beurteilung der individuellen Situation eines Antragstellers vorgenommen werden. Dabei lassen sich die Fürsorgebehörden von folgenden Grundsätzen leiten: ■ Wahrung der Menschenwürde: Hilfesuchende sollen ein menschenwürdiges Leben führen können und bei der konkreten Ausgestaltung der Hilfe ein Mitspracherecht haben. So soll verhindert werden, dass sie ihre Selbstachtung verlieren. ■ Die Sozialhilfe soll aber immer erst als letztes Mittel zum Zuge kommen, d.h., wenn die anderen Sicherungen versagen oder nicht genügen. Diesen Grundsatz bezeichnen wir als
Prinzip der Subsidiarität. Konkret bedeutet dies, dass geprüft wird, ob z.B. die Verwandten nicht in der Lage sind, den Antragsteller zu unterstützen oder ob allenfalls ein Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherungen besteht. ■ Ein Sozialhilfeempfänger hat zudem Anspruch darauf, dass seine persönliche Lebenssituation bei der Bemessung der Unterstützungsbeiträge berücksichtigt wird. Nach unten ist die Unterstützung durch die Festlegung eines allgemeinen Existenzminimums begrenzt, nach oben soll aber ein gewisser Spielraum für individuelle Lösungen bestehen. ■ Bedarfsdeckung: Als weiterer Grundsatz gilt, dass Sozialhilfe immer von einem tatsächlichen aktuellen Bedarf ausgeht und frühere Zustände unberücksichtigt lässt. Das heisst, man kann den Sozialhilfeanspruch einer Person nicht mit der Begründung beschneiden, sie habe in früheren Jahren durch einen verschwenderischen Lebenswandel viel zur Entstehung der aktuellen Notlage beigetragen. Entscheidend ist einzig die Frage, ob im Moment sowie in der näheren Zukunft tatsächlich ein Bedarf nach staatlicher Unterstützung besteht. Darin unterscheidet sich die Sozialhilfe übrigens auch deutlich von Rentenansprüchen gegenüber einer Sozialversicherung. Dort werden Renten nämlich nicht aufgrund des Bedarfs eines Rentenbezügers ausgerichtet, sondern einzig aufgrund versicherungstechnischer Daten wie Prämienhöhe, Beitragsdauer, versichertes Einkommen usw.
Deshalb hat beispielsweise auch ein Millionär Anspruch auf eine AHV-Rente. ■ Angemessenheit: Um das Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft nicht unnötigen Spannungen auszusetzen, darf die geleistete Sozialhilfe schliesslich nicht übermässig sein. Jemand, der Sozialhilfe erhält, sollte finanziell nicht besser gestellt sein als sein
Nachbar, der vom Staat nicht unterstützt wird. Die Sozialhilfe gehört in der Schweiz in den Aufgabenbereich der Gemeinden. Um sicherzustellen, dass zwischen den Gemeinden nicht zu grosse Unterschiede entstehen, gibt die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) regelmässig Empfehlungen heraus (SKOS-Richtlinien), an denen sich viele
Gemeinden orientieren. Meistens werden die Ansätze innerhalb eines Kantons vereinheitlicht.
Das haben Sie gelernt
Soziale Sicherheit erläutern Die neun Risiken der sozialen Sicherheit aufzählen Das verbindende Ziel der Sozialversicherungen nennen Das Ziel der öffentlichen Sozialhilfe erklären Die Ziele und Kriterien bei der Vergabe von Sozialhilfe von jenen der Sozialversicherungen unterscheiden Die fünf Grundsätze aufzählen, nach denen Fürsorgebehörden handeln Das schweizerische 3-Säulen-Konzept mit der staatlichen, beruflichen und privaten Vorsorge erklären Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten für die Finanzierung der AHV aufzeigen Ziele und Formen der beruflichen Vorsorge aufzeigen Das Kapitaldeckungsverfahren als Finanzierungsgrundlage der AHV erklären Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten für die Finanzierung der beruflichen Vorsorge aufzeigen Ziele und Formen der privaten Vorsorge aufzeigen
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