
7 minute read
Jede ist eine zu viel. EIN GESTOHLENES LEBEN
Die 31 Jahre alte Bircan Dever wurde 2020 von ihrem Ehemann ermordet. Im selben Jahr gab es österreichweit 31 Femizide. © Christian Niederwolfsgruber
Im Juni 2020 wurde Bircan Dever von ihrem Ehemann umgebracht und in Imst in den Inn geworfen. Seinen Mord erklärte er mit Liebe. Doch wie geht es heute jenen, die Bircan tatsächlich geliebt haben? Wie groß ist die Lücke, die eine getötete Frau hinterlässt? Ihre Schwester Dilan hört nicht auf, davon zu erzählen.
Advertisement
Wenn graue Wolken abziehen, der Himmel sich blau färbt und ein Regenbogen entsteht, ist es für Familie Dever so, als sei Bircan (sprich: Birdschan) wieder da. Die damals 31 Jahre alte Bircan Dever, wie sie im Mädchennamen hieß, wurde am 25. Juni 2020 in Imst als vermisst gemeldet. Angehörige hatten zuvor eine Abschiedsnachricht von ihr erhalten und ihr zwei Jahre alter Sohn war zuhause eingesperrt vorgefunden worden. Ihre Mutter hatte eine der Nachrichten über WhatsApp bekommen, mit dem ungefähren Wortlaut: „Ich wollte nicht, dass es so endet. Bitte passt auf ihn [den Ehemann] und meinen Sohn auf. Ich habe euch lieb.“
Bircans jüngere Schwester Dilan Dever wusste sofort, dass etwas nicht stimmt: „Die Nachrichten klangen nicht nach ihr.“ Um ihren kleinen Neffen aus der Wohnung zu befreien, mussten Polizisten damals das Fenster aufbrechen.
Danach begann sofort die Suche –gemeinsam mit Freiwilligen. Verwandte aus Deutschland reisten an, um mitzuhelfen. Die Unterstützung des Ehemanns blieb aber laut Dilan Dever aus. Er wirkte auffällig ruhig auf sie und habe der Familie immer wieder versichert, dass Bircan zurückkäme und dass alles gut werden würde. Nach zwei Tagen gab es immer noch keine Spur von ihr. Aber unzählige Fragen und Gerüchte:
S. 9
Psychiaterin Heidi Kastner über vier Typen von Tätern.
S. 12
Femizidland Österreich? Jein.
S. 14
Kunst gegen Frauenmorde.
S. 15
Spanien: Was ist dort besser?
S. 16
Ein Viertel schaut hin: Gewaltschutz in der Nachbarschaft.
S. 18
Dürfen nicht aufhören: Justizministerin Alma Zadić im 20er-Interview.
S. 21
Ökonomische Gewalt: Sie beginnt im Kleinen. Was Frauen tun können.
„Ist sie abgehauen?“, „Hat sie einen Neuen?” oder „Hat sie sich selbst etwas angetan?“. Die Spekulationen wollten kein Ende nehmen – genauso wie der Regen in diesen Tagen.
Am dritten Tag sagte Dilan gemeinsam mit ihrer Mutter auf der Polizeiwache aus. Während sie aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzte, rief ihr Bruder mehrmals an, sagte jedoch nichts. Sie schrie ihn an, dass er sprechen solle, doch es herrschte weiterhin nur Stille, also legte sie auf. „Dann hat er mich noch mal angerufen und gesagt: ‚Bitte bleib ruhig.‘“
Wo war Bircan? Was hatte er mit ihr gemacht?
Würde man sie jemals finden?
Da ahnte sie, was kommen würde. „Sie ist tot“, sagte er am Telefon. In dem Moment fiel ihr das Handy aus der Hand. „Meine Mutter stieß einen Schrei aus, weil sie wusste, was los war“, erinnert sich Dilan. „Wahrscheinlich wusste sie es schon die ganze Zeit, weil sie ihre Tochter zu gut kennt.“
Die beiden Frauen wollten sofort zu ihrer Familie, wurden aber auf der Polizeiwache festgehalten. Sie vermutet, dass sie zu aggressiv und emotionsgeladen auf die Beamten wirkten. Später hätten nicht nur die Verwandten vor dem Haus der Familie gewartet, sondern auch Schaulustige – inmitten von Blaulicht und Sirenen. Die Stimmung war aufgewühlt. Dilan selbst ging sofort auf die Knie und verlor die Kontrolle. Da dachte sie noch, dass ihre Schwester sich das Leben genommen habe. Aber so war es nicht: Ihr Bruder erklärte ihr, dass Bircan umgebracht worden war. Von dem Menschen, der ihr wahrscheinlich am nächsten stand: ihrem Ehemann. Er hatte gestanden, sie vor zwei Tagen im gemeinsamen Zuhause getötet zu haben. Anschließend hatte er die Nachrichten von ihrem Handy aus verfasst, um ihren Selbstmord vorzutäuschen. Fassungslosigkeit. Paradoxerweise vollzog sich genau in diesem Moment ein Naturspektakel am Himmel. „Ab dem Zeitpunkt, an dem wir wussten, dass sie ermordet wurde, schien auf einmal die Sonne und wir sahen einen Regenbogen“, erinnert sich Dilan. Der Regenbogen wurde für die Familie fortan zum Symbol.
Vorurteile der Medien. Doch die neue Klarheit war zugleich eine bittere Realität. Die Nerven lagen blank. Bircans großer Familie wurde der Boden unter den Füßen weggerissen. Was fühlt ein Mensch, wenn die geliebte Schwester, Tochter, Cousine oder beste Freundin gewaltsam getötet wird? Was geht einem durch den Kopf, wenn sich der Mörder noch in dem Haus befindet, vor dem man versammelt ist?
Die Emotionen entluden sich. Später wurden sie aufgrund der türkischen Herkunft der Familie gegen sie verwendet: Puls 24 sendete einen Fernsehbeitrag mit dem Titel „Familie schwört Blutrache“ und zitierte darin Katja Tersch, die Leiterin des Landeskriminalamts Tirol, die erklärte, dass „ungefähr 150 Angehörige sich versammelt hatten und es laut und emotional wurde“. Die Angehörigen kamen nicht zu Wort, einen Beleg für Blutrache-Schwüre blieben die Medien schuldig.
Quälende Suche.
Die Familie hatte damals andere Sorgen: Wo war Bircan? Was hatte er mit ihr gemacht? Würde man sie jemals finden, um sich von ihr verabschieden zu können? Heute weiß Dilan: „Er warf sie von der Brücke in den Inn”. Der Fluss führte damals Hochwasser. Erst am achten Tag wurde ihre Leiche an einen Felsen geschwemmt und gefunden. Für die Schwester eine völlig verrückte Situation, die sich als Bild für immer bei ihr eingebrannt hat: „Du siehst, wie deine Eltern vor Freude weinen, weil ihre Tochter gefunden wurde. Also freust du dich auch. Bis du denkst: ,Wie krank ist es, sich zu freuen, dass die Leiche deiner Schwester gefunden wurde?‘“
Dilan hatte Schwierigkeiten, den Verlust zu verarbeiten und konnte anfangs nicht trauern. Für andere sei sie nicht mehr Dilan gewesen, sondern nur mehr die Schwester der getöteten Frau. In der ersten Zeit suchte sie Trost im Alkohol, ging viel aus und kam spät nach Hause. Sie habe für ihre Familie nicht so da sein können, wie sie es gern gewesen wäre. Gleichzeitig musste sie schnell erwachsen werden. Vor allem für ihren Neffen: Die Mutter war tot, der Vater im Gefängnis. Bis heute ist unklar, ob der kleine Junge den Mord an seiner Mutter mitansehen musste. Dilan sagt, sie habe ihn mehrmals dabei beobachtet, wie er sich hinsetzte und mit seinen Händen gegen den Boden drückte, als würde er die Tat imitieren. Sie beantragte das Sorgerecht für ihn und bekam es. Ihre eigenen Bedürfnisse und Träume stellte sie hinten an. Gemeinsam mit ihrem Bruder und ihren Eltern kümmert sie sich um den Kleinen. Mitleidige Sprüche hört sie oft. Doch sie spürt: „Er ist glücklich. Er wird mit so viel Liebe großgezogen. Er hat jetzt nicht nur eine, sondern mehrere Mamas –und wir lieben ihn so sehr.”
Sie dachte immer an andere. Ihre Schwester hätte es wohl auch so gemacht: Als Dilan und ihr Bruder noch Kinder waren, habe Bircan sich um beide gekümmert. Sie war die Zweitälteste von vier Geschwistern und trug früh Verantwortung: „Sie war die Mama für alle. Sie war sogar die Mama von meiner Mama.“ Bereits als Kind habe sie für ihre Mutter übersetzt, bei bürokratischen Angelegenheiten und der Erziehung der Kleinen geholfen. Als Erwachsene wohnte sie weiterhin im selben Haus, damit sich alle jeden Tag sehen konnten. Die Lücke, die sie hinterließ, ist umso größer.
Auch der Gerichtsprozess war schmerzhaft. Im Eröffnungsbeschluss der Staatsanwaltschaft am 23.06.2021, fast genau ein Jahr nach Bircans Verschwinden, mussten ihre Verwandten erfahren, wie die letzten Minuten in Bircans Leben verlaufen waren. „T. Ü. hat der Frau so lange auf den Hals gedrückt, bis sie keine Reaktion mehr zeigte. Dann schüttelte er sie und schrie sie an. (...) Anschließend warf er sie von der Brücke in den Inn (...).“ Die Eltern verließen den Gerichtssaal, es war zu schlimm für sie, mit dem Mörder ihrer Tochter im selben Raum zu sein. Dilan und ihr Bruder blieben und hörten mit an, wie der Täter und sein Verteidiger den Mord an ihrer Schwester mit Liebe erklärten. Es war für Dilan eine der schlimmsten Erfahrungen in ihrem Leben. „Meine Schwester soll aufgrund von Liebe getötet worden sein?“ Diese absurde Aussage macht sie bis heute wütend.
Zu Beginn der Beziehung sei Bircan wirklich sehr verliebt gewesen. Ih- er war, nahezu besessen von ihrer Schwester. Was anfangs auf sie romantisch wirkte, ordnet sie heute als ein Anzeichen für eine krankhafte Eifersucht ein.
Liebe als Motiv?
Vor Gericht wird dem Täter vorgeworfen, Bircan aus der Angst vor einem Kontrollverlust umgebracht zu haben. Sie hatte offenbar in Konfliktsituationen thematisiert, dass müssen. Dilan setzt sich in ihrem Umfeld und in den sozialen Medien weiterhin gegen Gewalt an Frauen ein. Denn Bircan Dever war nur eine von 31 Frauen in Österreich, die im Jahr 2020 ermordet wurden. Jede dieser Frauen hatte einen Namen. Bircan kommt aus dem Türkischen und bedeutet „eine Seele“ beziehungsweise „ein Leben“. Dieses Leben und ihre Träume wurden ihr gestohlen.
Acht Tage lang wurde Bircan Dever in Imst gesucht. Bergen konnte man ihre Leiche schließlich flussabwärts, bei Roppen. © Daniel Liebl/zeitungsfoto.at ren Freund und späteren Mörder heiratete sie mit 26 Jahren, die Ehe wirkte auf Außenstehende sehr harmonisch. Der gemeinsame Sohn war laut Dilan das Wichtigste für die junge Frau. Kurz vor ihrem Tod habe Bircan sich trotz der Konflikte in der Ehe sogar ein zweites Kind gewünscht. Zwar ist nicht bekannt, dass T. Ü. vor der Tat gewalttätig war, er sei aber sehr eifersüchtig gewesen und habe fremde Männer immer wieder verbal attackiert, wenn sie Bircan angesehen hatten. Dilan erinnert sich, wie anhänglich sie sich von ihm trennen möchte. Die US-amerikanischen Soziologin und Feministin Diane E. H. Russell nennt die Loslösung von Frauen aus männlicher Kontrolle und Dominanz als eines der zwei Hauptmotive, warum Männer Frauen töten. Zum zweiten Motiv zählt sie den Frauenhass. Beide Aspekte fanden in der Gerichtsverhandlung allerdings kaum Platz. Während die Verteidigung immer wieder von Liebe sprach und finanzielle Probleme als Ursache für Eheprobleme nannte, berichteten die Medien im Anschluss vom Eifersuchtsmotiv.

Am 21.06.2021 erging das Urteil gegen den Täter: Zwanzig Jahre Haft wegen Mordes. Gemeinsam mit Bircans Familie demonstrierten zahlreiche Menschen danach in Innsbruck gegen Femizide. Bircans Eltern hielten ein Bild von ihr in Händen – sie hoffen, dass andere Eltern nicht dasselbe durchleben
Mehr Zu Dieser Geschichte
In ihrem Podcast „yalla, this way!“ arbeitete 20er-Autorin Cagla Bulut den Mord an Bircan Dever auf. Sie sprach dafür mit Dilan Dever, zeichnete die Berichterstattung und Gerichtsverhandlung zum Fall nach und befragte einen Eifersuchtsexperten in der Frage: Tötet Mann aus Liebe? Sie finden den Podcast bei Spotify.