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DAS DICK PIC WOHNT IM KLINKERBAU.
Er belästigt ihre Tochter sexuell über TikTok. Sie folgt daraufhin den virtuellen Spuren von @andy2003*: Eine Mutter jagt einen Perversen –und fragt sich, warum Kinder im Netz kaum geschützt werden.
Dafür haben Sie mit 35 Experten aus der Digitalentwicklung und der Forschung einen neuen Industriestandard geschrieben: Die IEEE-Richtlinien für „value based engineering“. Das muss ein Kraftakt gewesen sein. Es war ein zäher Prozess, in dem wir fünf Jahre lang über jeden einzelnen Satz diskutiert haben. Nur ein Beispiel: Wie geht man mit internationaler Ethik um? Damit, dass Menschen in Asien ganz andere Denkweisen haben als im Westen. Wie löst man das?
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Auch ökologische Kriterien gibt es darin. Hieße das, dass man eine neue Technologie sogar stoppt, weil sie klimaschädlich ist?
Im Standard ist die Entscheidung, die Investition deswegen nicht voranzutreiben, nicht so verankert –auch wenn man ihn so lesen könnte. Darum veröffentliche ich im kommenden Jahr ein Buch über „value based engineering“, das solche Fragen ausführlich behandelt.
Freiweillig auf Gewinn zu verzichten, würde jedenfalls eine ganz neue Unternehmenskultur erfordern.
Ganz genau. Ein Geschäftsführer muss sich fragen: Wofür stehe ich?
Wofür baue ich das? Welche Werte bringe ich mit meiner fortschrittli- enn du meiner Tochter noch ein einziges Mal schreibst, dann mache ich dich fertig. Ich werde dich suchen, ich werde dich finden und dann werde ich dein Leben zerstören.“ – Senden. – „Hast du mich verstanden?“ – Senden. – Sein WhatsApp-Status verrät, dass er online ist. Stille. Ich starre auf das Display, warte. Er tippt, bricht ab, tippt wieder. Nichts. Dann, zwei Worte. Sie beenden den perversen Chat, den dieser Fremde mit meiner kleinen Tochter geführt hat für alle Zeiten: „Ja. OK.“

12. Juli 2019. Die Stunden davor. Seit drei Wochen ist meine Tochter 13. Endlich noch erwachsener fühlen, mehr Coolness, weniger Baby, endlich Teenager. Wir haben diesen Tag gefeiert, bis die Sonne unterging und uns die laue Sommernacht umarmte, fast so, als hätte sie uns vor einer anderen Art von Dunkelheit beschützen wollen, die sich nur kurz darauf bleischwer über meine Tochter legen sollte.
Diese Dunkelheit trägt den Namen Andy, ist mit Herzchen-Emoji am Handy meiner Tochter eingespeichert und gibt via WhatsApp auf ihrem Handy, das vor mir am Küchentisch liegt, ein Lebenszeichen von sich. Erste Nachricht: „Warum meldest du dich nicht?“ Zweite Nachricht: „So geht man mit jemanden, den man liebt, nicht um.“ Weder kenne ich einen Andy im Leben meiner Tochter, noch weiß ich von seiner (oder ihrer?) Liebe. Vielleicht ist es Instinkt, vielleicht Neugierde, vermutlich ein bisschen von beidem. Meine Tochter ist in ihrem Zimmer. „Ich gehe dann mal duschen“, ruft sie. Ich öffne den Chat.
Aus Andy wird nach wenigen Sekunden ein Monster. Auf der rechten Seite im Chat schreibt er einlullende Sätze wie „Ich mag dich. Sehr sogar“, um zwischendrin ein „Bist du untenrum schon rasiert?“, „Hattest du schon mal Sex?“, „Hast du schon mal einen Mann nackt gesehen?“ nachzuschieben. Heiß, kalt. Zuckerbrot und Peitsche. Manchmal beschwichtigend: „Ich frage das sonst nicht, aber ich habe mich in dich verliebt.“ Manchmal fordernd: „Wenn man jemanden mag, dann ist da doch nichts dabei.“ Er füttert sie an. Wenn er zu weit gegangen ist, besänftigt er, fleht er – und wieder fordert er. Andy ist das Monster unterm Elternbett. Das, vor dessen perverser Begierde Erwachsene wie ich Angst haben.
Es schreibt ihr jemand, der eindeutig schon älter ist. Aber wie alt?
Auf der linken ChatSeite versucht meine Tochter zu verstehen, was sie nicht verstehen kann: dass sie einer CyberSpinne ins Netz gegangen ist, die sie in einen Kokon aus Lügen, Komplimenten und Forderungen eingesponnen hat, um sie irgendwann auszusaugen und danach wegzuwerfen. Ich lese, wie sie sich geschmeichelt fühlt, ich lese ihre Verzweiflung, wie sie versucht, aufzu- hören, wie sie kippt, wenn er wieder säuselt und wie sie wieder weich wird. Zwischendrin zwinkern viele Emojis, werden rot, haben Herzchen in den Augen, viele, viele Herzen auf beiden Seiten. Ich lese aber noch etwas anderes: Die Sätze auf der linken Seite hat ein 13 Jahre altes Mädchen geschrieben, auf der rechten Seite schreibt ihr jemand, der eindeutig älter ist. Aber wie alt?
Cybergrooming nennt man das virtuelle Heranschleichen Erwachsener an Kinder und Jugendliche, um sie sexuell zu missbrauchen. Die Täter, fast ausnahmslos erwachsene Männer, nehmen via Gaming-Plattformen oder sozialer Netzwerke Kontakt zu Minderjährigen auf und versuchen, ihre Liebe oder ihre Freundschaft zu gewinnen, bevor sie auf ihr Ziel zumarschieren: sexueller Missbrauch, sexuelle Gewalt, Kinderpornografie.
Seit 2012 ist Cybergrooming in Österreich strafbar. Verankert in Paragraf 208a StGB: die Anbahnung von Sexualkontakten zu Unmündigen.
Es ist das, wovor ich meine Tochter beschützen wollte und gescheitert bin. „Endlich-13-Sein“ bedeutet ja noch etwas anderes als Erwachsenwerden: Mit 13 darfst du laut AGB endlich die begehrten sozialen Netzwerke TikTok, Instagram, Snapchat und Co benutzen. Und – wie es meine Tochter nannte – endlich auch dasselbe sehen und erfahren, wie die vielen anderen in ihrer Klasse, die diese Apps schon weit vor der offiziellen Erlaubnis genutzt haben.
„Endlich-13-Sein“ bedeutet auch: Du sitzt ab sofort auf dem Präsentierteller von Pädokriminellen – Sexualstraftäterinnen und -täter, die sich an Kindern vergehen (wollen) –, die diese Netzwerke nutzen, um dich zu missbrauchen. In einer österreichweiten Studie von Rat auf Draht gaben 2018 bereits 27 Prozent der Minderjährigen ab elf
Jahren an, dass sie online sexuelle Belästigung oder Gewalt erlebt haben. Die große Schweizer JAMES-Studie verzeichnete nur zwei Jahre später einen drastischen Anstieg: Bereits 44 Prozent der Kinder und Jugendlichen gaben an, Opfer von Cybergrooming geworden zu sein. Dass man Cybergroomer anzeigen kann und muss, wissen die wenigsten Eltern –2021 gab es nur 121 Fälle (siehe Interview auf dieser Seite). Rund 63.000 Kinder ab zehn Jahren gehen in Tirol zur Schule. Gemessen an den 44 Prozent betroffenen Kindern aus der JAMES-Studie, hieße das: Fast 28.000 Kinder und Jugendliche wären in Tirol sexuellen Übergriffen im Netz ausgesetzt. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Mit ihren Eltern sprechen die Wenigsten. Aus Scham, oder, kaum zu verstehen, weil es die Normalität im Netz ist. Ihre Normalität. Für viele Kinder ist es die erste sexuelle Erfahrung ihres Lebens. Nicht echtes Verliebtsein, kein Gleichaltriger, den man auf ein Eis trifft. Sondern online und anonym – meist mit einem fremden Mann. Wenn dein Kind Glück hat, schickt er ihm nur ein Bild von seinem Schwanz. Wenn alles schiefläuft, überredet er es zu einem Treffen.
Bereits 44 Prozent der Kinder und Jugendlichen gaben an, Opfer von Cybergrooming geworden zu sein.
Wie konnte uns das passieren? Ich habe meine Hausaufgaben als Mutter gemacht: Die neuen Accounts auf privat gestellt? Check. Ein Profilfoto, auf dem man sie kaum erkennt? Check. Nicht identifizierbarer Benutzername? Check. Besprechen, warum sie keine Kontaktanfragen von Fremden annehmen soll? Check … Ich habe mich an jeden einzelnen Rat gehalten, aber Andy mit Herz hatte die bessere
Taktik. Er ist nicht die besorgte Mutter, die Regeln aufstellt, er ist der geheimnisvolle Typ, der sie unbedingt kennenlernen will. Andy ist die perfekte Illusion, und mit einem Klick ein Follower.
Ich lese dutzende Nachrichten. Sehe auch ein Bild von ihm – untenrum! Ich hatte keine Ahnung, was sie durchmacht. Wir haben ein tolle Mutter-Tochter-Beziehung und reden über vieles, ich dachte sogar, wir reden über alles, was sie bewegt. Falsch gedacht. Das Plätschern der Dusche im Badezimmer ist mittlerweile verstummt. Angst pumpt durch meine Adern: Wie beginnt man so ein Gespräch überhaupt? Wenig später kommt sie gut gelaunt in die Küche, eingewickelt in ihren flauschigen, brombeerfarbenen Bademantel. Als sie mich mit ihrem Handy in der Hand in der Küche sitzen sieht, erstarrt sie.
Er hat sie am letzten Wochenende auf TikTok angeschrieben. Sein Profilname ist @andy2003. Richtig gut sieht er aus. Lieb. Ein 16 Jahre alter
Junge aus dem Norden Deutschlands. Einer, den sich jedes Mädchen als Freund wünscht. „Und mich hat er gefunden“, flüstert sie. Dann beginnt sie zu weinen.
Anfangs schreiben sie zaghaft im Chat von TikTok. Kurze Nachrichten, viele Emojis. Harmloses Kennenlernen, schüchterne Flirtversuche. Dann fragt er sie nach ihrer Telefonnummer. Man könne doch auch mal reden, oder zumindest auf WhatsApp weiterschreiben. Dass ihr Gegenüber einen perfiden Plan hat, merkt sie nicht. Wie denn auch? Werden Kinder zu Teenagern, treiben mächtige Einsilber ihre Verwandlung zum Erwachsenen an: Spaß, Mut, Scham, Neid, Wut, Stolz, Lust … und über allen thront das stärkste Wort, der kraftvollste Zweisilber der Welt: die Liebe. Ihr erster Seufzer ist meist der letzte unserer Zurechnungsfähigkeit.
„Ich möchte dich besuchen kommen. Willst du mich denn auch kennenlernen?“ @andy2003 kennt ihren Namen, hat ihre Telefonnummer und weiß, wo sie wohnt. Scheiße. Was wäre passiert, wenn …? Der Tag zieht sich zurück, die Dunkelheit kriecht in die Küche. Wir reden. Wir schweigen. Sie weint. Ich versuche, stark zu sein. „Mama, ich will, dass er aufhört.“ Er wird dir nicht mehr weh tun, sage ich und habe keine Ahnung, ob das stimmt. Während sie sich später in meinem Bett in eine unruhige Nacht träumt, mache ich mich auf die Suche. Wer bist du, Andy?
Bei der TikTok-App hat sie nicht viele Kontakte, andy2003 finde ich sofort. Ein hübscher Teenager steht an einem Strand, aufrecht wie ein Sonnenschirmchen, sein Oberkörper nackt und nougatbraun von der Sonne. Haselnussbraune Augen werfen einen ernsten Blick in die Kamera, er hat helles Haar, Beachwaves und ein kleines Muttermal auf der Wange. Er ist perfekt – als Teenager wäre ich geschmolzen.