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Bio fürs Herz, Agrarökologie für den Verstand

Vor 60 Jahren erschien Rachel Carsons Jahrhundertbuch „Der stumme Frühling“. Es leitete das Verbot von DDT ein. Die Umweltbewegung entstand und die intensive Landwirtschaft stand am Pranger. Die behördliche Zulassungspraxis bei Pestiziden veränderte sich und der Schutz der natürlichen Ressourcen Boden, Wasser, Luft und Biodiversität rückte ins Zentrum.

Von Urs Niggli

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Es entstanden neue landwirtschaftliche Produktionsmethoden, welche weniger chemische Pflanzenschutzmittel und Dünger einsetzten. Das beschleunigte auch die Agrarökologie als Forschungsdisziplin: Es ging um die Umweltfolgen der Landwirtschaft. Auf der Erde lebten 1963 drei Milliarden Menschen, heute sind es acht Milliarden. Wegen des Wachstums der Menschheit ist das Problem trotz riesiger Fortschritte nicht geringer geworden. Leider gibt es dafür keine Patentlösung, so sehr einem der Biolandbau auch ans Herz gewachsen ist.

Was genau versteht man unter Agrarökologie?

Die Agrarökologie – zuvor nur Forschungsdisziplin – wurde in den 1990er Jahren ein Teil der kleinbäuerlichen Bewegungen. Für Via Campesina zum Beispiel war der Biolandbau suspekt, weil er sich auf den Konsum ausrichtete, dazu Kontroll- und Zertifizierungssysteme entwickelte und seine bäuerliche Eigenständigkeit dem Staat (Bioverordnung) und dem Handel opferte. Denn die kleinbäuerliche Bewegung hat ein emanzipatorisches Verständnis. Sie will selbstständig die besten Lösun- gen finden, wie man ohne die Agrarindustrie ein gutes Einkommen erwirtschaftet und dabei Natur und Gesundheit schont.

Seit knapp 10 Jahren steht Agrarökologie zunehmend für das schier Unmögliche, nämlich 10 Milliarden Menschen ohne weiteren Raubbau an den natürlichen Ressourcen Boden, Wasser, Luft und Biodiversität ernähren zu können. Die Agrarökologie als Transformationskraft zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele (SDGs).

Die wichtigen Agrarländer können mit der Idee nichts anfangen. Die EU und Japan hingegen sehen große Chancen.

Länder wie die Schweiz und Österreich arbeiten aktiv in einer Koalition „Agrarökologie“ zusammen, welche als Ergebnis des UNO-Ernährungsgipfels 2021 gegründet wurde.

Wir wissen, was eine agrarökologische Landwirtschaft charakterisiert, aber wir haben keine abschließende Definition

Von allen Empfehlungen, wie man nachhaltig und dennoch produktiv sein kann, ist die Diversifizierung der Landwirt -

Vatertag= Tag

schaft bisher die überzeugendste, das zeigen viele Forschungsarbeiten. Mehr Vielfalt kann mit vielfältigen Fruchtfolgen, mit Zwischenfruchtanbau oder mit Mischanbau von Getreide und Leguminosen erreicht werden. Agroforst-Systeme oder zumindest der Anbau von einjährigen Kulturen zwischen Alleen mit Bäumen und Sträuchern sind weitere Möglichkeiten. Für großflächige Betriebe können Maschinen so gesteuert werden, dass eine vielfältige Abfolge von Kulturen in Streifen entlang der Landschaftskonturen erfolgt, die jedes Jahr verschoben werden. Dabei können auch natürliche Landschaftselemente in die Felder integriert werden. GPS und Kameras machen das möglich. Die Wechselwirkungen mit Landschaftselementen wie wildblumenangereicherten Feldrändern und Heckenreihen sowie einjährigen Wildblumenstreifen, die innerhalb des Felds wandern, fördern die Biodiversität und damit natürliche Regulierungsmechanismen.

Solche Diversifizierungsmaßnahmen erhöhen die Widerstandsfähigkeit landwirtschaftlicher Produktionssysteme. Sie beanspruchen aber auch mehr Flächen, weshalb ertragsstarke Sorten notwendig sind. Neue Züchtungstechniken, sofern sie solche Diversifizierungsstrategien unterstützen, sollen nicht grundsätzlich gestoppt werden.

Der chemische Pflanzenschutz wird schrittweise zurückgefahren und, wo noch nötig, durch pflanzliche Stoffe und lebendige Antagonisten ersetzt. Nährstoffe und organische Substanz werden im Kreislauf gehalten.

Nutzen wir die Innovationskraft, die in der Landwirtschaft steckt

Wissenschaft und Innovation sind der Schlüssel zur Gewährleistung einer nachhaltigen Ernährungssicherheit für eine wachsende Bevölkerung, das war die Schlussfolgerung des UNO-Ernährungssystemgipfels von 2021. Innovation passiert im sozialen, wirtschaftlichen, institutionellen und ökologischen Bereich. Dazu gehören auch alle Arten von technischen und technologischen Innovationen, die gut funktionierende, produktive und sehr nachhaltige Lebensmittelsysteme garantieren können. Die Agrarökologie geht bei ähnlichen Zielen wie der Biolandbau offener mit der Innovation um. Der Biolandbau hat seit dem Inkrafttreten der EU-Verordnung 1992 eine mehr oder weniger geschlossene Werkzeugkiste. Das sehen die einen als Vorteil („man geht keine Risiken ein“), die anderen als immer größeres Handicap, weil die Wissenschaften in hoher Schlagzahl mit neuen Lösungen kommen. Da wir heute über klare Indikatoren

Trautenfels

11. JUNI 2023

und Messgrößen für die Nachhaltigkeit verfügen, wie man Entwicklungen steuern kann, sind Fehlentwicklungen, wie sie Rachel Carson 1963 beschrieb, in Zukunft wenig wahrscheinlich.

Global oder lokal: Welches ist die richtige Sichtweise?

Für die zukünftige Ernährungssicherheit spielt der Biolandbau auch nach 100 Jahren Pionierarbeit mit 1,6 Prozent der Anbaufläche weltweit nur eine Nebenrolle. Das hat auch mit seiner Ertragsschwäche zu tun. Der Biolandbau würde zwar in der Kombination mit der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung und mit einer Reduktion der Verfütterung von Getreide an Tiere sehr viele Menschen ernähren können. Leider aber nur dann, wenn die globale Erwärmung auf heutigen 1,1 Grad Celsius gestoppt werden kann, wie Modelle des FiBL und der FAO zeigen. Es gibt sehr viele Regionen, wo der Biolandbau die beste Lösung ist. Die Biolandwirtinnen und -wirte können ganzheitlich denken und handeln. Es braucht sie deshalb. Aber das ideale Kombipaket, wo alles zusammenpasst, ist leider noch lange nicht geschnürt und bleibt wohl eine schöne Illusion. Und wichtig ist auch, dass Nachhaltigkeit nicht an der Landesgrenze Halt macht. Was man im Inland nicht produziert, verbraucht im Ausland Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität. Wenn ich einen Wunsch offen hätte, wären das 30 Prozent Biolandbau und 70 Prozent Agrarökologie, in ganz Europa. Auf die Turbo-Bauern können wir dann gut verzichten.

Prof. Dr. Dr. Urs Niggli gilt als Pionier der internationalen Forschung im Biolandbau. Er ist Präsident des Instituts für Agrarökologie in Aarau, Schweiz.

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