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PHILOSOPHIE DER PRAXIS Gajo Petrovic: Ein gewisser Ernst Bloch Erste Kontakte zwischen Bloch und der PRAXIS-Gruppe ..................... S
Gaio Petrovic EIN GEWISSEA ERNST BLOCH
BLOCH UND DIE JUGOSLAWISCHE PRAXIS-GRUPPE Als im Friihjahr dieses Jahres Gajo Petrovic, fiihrender Vertreter der Zagreber Gruppe der jugoslawischen PRAXIS-Philosophie in die Bundesrepublik kam, um iiber das Verhiiltnis der PRAXIS-Gruppe zur 'Frankfurter Schute' zu sprechen, wandelte sich sein V ortrag von der massiven Kritik an Habermas spontan zu einer das Blochsche Gesamtwerk wiirdigenden Rede. Die enge freundschaftliche und philosophische Beziehung Bloch-Petrovic trat als sich bedingende humanitiire 'Philosophie der Praxis' in Erscheinung. Gajo Petrovic hatte wie der PRAXIS-Philosoph Svetozar Stojanovic groien Anteil an Aufbau und Entwicklung der Arbeitsbeziehungen zu dem "Wahl"tiibinger Bloch. Ahnlich wie Petrovic ist auch Stojanovic stark vom Blochschen 'Blitz' getroffen: "Nach dem Bruch mit Stalin 1948 kam die Zeit der groien Hoffnungen und der Liberalisierung. Wir begannen mit der Losung 'Zuriick zu Marx, zum echten Marx'. Man konnte natiirlich den Weg nicht direkt gehen, man brauchte Bloch, die Frankfurter Schute, Korsch, Lukacs, Rosa Luxemburg - alle die gro�en Namen. Bloch spielte eine sehr groie Rolle fiir uns bei der Reinterpretation des Marxismus als radikalen Humanismus." Stojanovic, der sehr von Blochs Konzept des "aufrechten Ganges" angetan war, erinnert sich noch eine Kontroverse auf Korcula 1968: "Zwischen Bloch und Marcuse entwickelte sich ein direkter Meinungsaustausch iiber den Humanismus. Marcuse tendierte damals dazu, Humanismus in alien Formen als biirgerliche Ideologie zu fassen, die es zu enthiillen gait. Bloch antwortete scharf. Man solle den Humanismus nicht verlassen, sondem die biirgerliche Ideologie im Namen des Realen, des konkreten Humanismus immanent kritisieren." Heute sieht Sveta Stojanovic die Gedanken Blochs kritischer. Es gebe keine Demokratie ohne Humanismus, aber das sei nicht konkret genug. Sveta: "Mit anderen Worten geht es nicht ohne Bloch und schon gar nicht gegen ihn. Aber Bloch ist nicht genug." Stojanovic verweist auf die Notwendigkeit konkreter politischer Analyse und politischer Theorie: "Meine Kritik an Bloch babe ich nie publiziert. ·1ch gehe in Richtung politische Soziologie, konkrete Ethik. Fiir mich waren die Fragen, mit denen sich Bloch beschiiftigte, weil ich mich mit konkreter Politik besc�iiftigte, immer ein wenig zu utopisch. lch babe das Bediirfnis im Marxismus nach Utopiekonstruktionen immer verstanden. Ohne das geht es nicht. Aber ich sage fur meinen Geschmack, fur mich personlich, ist das ein wenig zu u topisch." Diese Ausziige entstammen einem liingeren Gespriich im Herbst 1984. Doch trotz aller Kritik an Bloch sieht auch Stojanovic wie Petrovic in Bloch einen der wichtigsten marxistischen Philosophen. In der nachfolgenden Episode beschreibt Gajo Petrovic wie in den funfziger und sechziger Jahren das Blochsche Schaffen in Jugoslawien rezipiert wurde. Er schrieb diese personlichen und politischen Zeilen auf besondere Bitte gerade fur diese Ausgabe. Hierflir sei ihm besonders gedankt.
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Welf Schroter Der EinfluB Blochs auf die jugoslawische Philosophie begann in der zweiten Halfte der fiinfziger Jahre. Die jugoslawischen Philosophen, die nach dem Bruch mit Stalin im Jahre 1948 die stalinistische Version der marxistischen Philosophie (den sogenannten "Dialektischen und Historischen Materialismus") allseitig und radikal kritisiert haben und an Hand der Marxschen Texte (einschlieBlich seiner Jugendschriften, die im Stalinismus proskribiert waren) eine humanistische Version der marxistischen Philosophie zu entwickeln bestrebt waren, haben sich im Laufe der fiinfziger J ahre im internationalen MaBstab ziemlich einsam geftihlt. Es schien so, als ob alle Marxisten in der Welt die stalinistische Interpretation der marxistischen Philoso: phie billigten, den jugoslawischen "Revisionismus" verurteilten und zu keiner Zusammenarbeit am Projekt der Wiederbelebung und der Weiterent· wicklung des urspriinglichen Denkens von Marx bereit waren. Man erwartete etwas zunachst von G. Lukacs und H. Lefebvre, die schon frtiher den Ruf der Nicht- ( oder wenigstens nicht ganz-) dogmatischen marxistischen Philosophen erworben hatten. Am Anfang der fiinfziger Jahre schienen sich aber die beiden grundsatzlich im Rahmen des offiziellen "Marxismus" zu bewegen. Nun kam im Jahre 1957 die Nachricht, daB ein ostdeutscher Philosoph, ein gewisser Ernst Bloch, von der offiziellen Seite heftig angegriffen und verurteilt wurde. Die Hoffnung meldete sich sofort: vielleicht ist der Angegriffene nicht ein zufiilliger Siindenbock, sondern ein "Revisionist" im ahnlichen Sinne wie. wir? Man griff nach den zu-
ganglichen Schriften von Bloch und der Befund i.iberstieg alle Erwartungen. Man hatte nicht nur einen undogmatischen marxistischen Philosophen entdeckt. sondern einen Denker von Gro!Hormat und i.iberraschender Tiefe. Man schrieb liber ihn und suchte nach einem zur Obersetzung geeigneten Buch von ilun. So fand man SubjektObjekt. Stanko Bosnjak und Milan Kangrga besorgten die Obersetzung und Danko Grlic ein Nachwort dafiir. Im Jahre 1959 ist das Buch erschienen im Verlag ''Naprijed" in Zagreb. Nachdem Bloch Anfang der sechziger Jahre nach Ti.ibingen i.ibergesiedelt war und speziell nachdcm die Zeitschrift "Praxis" 1964 zu erscheinen begonnen hatte, suchte man auch personliche Kontakte zu Bloch aufzunehmen. Man schickte ihm die Zeitschrift, man lud ihn zur Mitarbeit ein und bat ihn (1966), in den eben zu grUndenden Redaktionsrat der Zeitschrift einzutreten. Diesen Vorschlag nahm er gerne an. Er wurde auch zur Sommerschule von Korcula eingeladen, kam aber nicht. Ende 196 7 reisten mein im vorigen Jahre verstorbener Freund Danko Grlic und ich in die Bundesrepublik. Wir schrieben an Bloch und baten ihn um Empfang. In seinem Antwortschreiben freute er sich im voraus auf diesen Besuch, der, wie er sich auBerte, schon !angst "fallig" war. So gingen wir zu ihm nach Ti.ibingen und fiihrten lange Gesprache liber alle moglichen Themen mit Karola und mit ihm. Wir sprachen in seinem Hause, begleiteten ihn zum Seminar und sassen mit seinen Studenten und ihm in einer Kneipe bis spat in in die Nacht.
Unter anderem wollten wir ihn Uberzeugen, er mUsse im nachsten Sommer nach Korcula kommen. Darauf antwortete er zunachst ziemlich ausweichend. Er sagte, er mochte kommen, im Moment ginge es aber nicht. Wir insistierten auf unserem Vorschlag und endlich sagte er zu, forchtete aber, daB er von • den jugoslawischen Behorden den DDR-Behorden ausgeliefert werden konnte. Darauf konnten wir nur lachen und sagen, so eine Gefahr bestehe liberhaupt nicht, wir konnten ihm garantieren, daB so etwas nicht geschehe.
Seine Reaktion war erregt, fast verargert: "Meine Freunde, Sie werden in der Welt als eine Gruppe dargestellt, die die ganze Zeit in Jugoslawien in Schwierigkeiten ist. Auf meine Frage, ob Sie auch verhaftet werden konnen, haben Sie geantwortet, das sei nicht ausgeschlossen. Und nun geben Sie mir die Garantie, daB ich nicht ausgeliefert werden kann. Wie konnen Sie so etwas garantieren? Sind Sie vielleicht <loch an der Macht da?" Darauf lachten wir wieder und sagten: "Sicherlich konnen wir Ihnen die Garantie geben, und zwar nicht weil wir an der Macht sind, sondern weil wir unsere Macht sehr gut kennen. Es kann in der Tat geschehen (was wir im Moment nicht erwarten), daB einige von uns ( oder auch wir alle) verhaftet werden. Aber sogar in so einem Fall wird Ihnen, unserem Freund, der kein Jugoslawe, sondern ein Auslander ist, nichts schlechtes passieren. Sogar dann werden Sie in allen Ehren behandelt werden, und vielleicht wird es Ihnen erlaubt sein, uns Kuchen ins Gefangnis zu bringen."

Da lachte auch Bloch und sagte: "Nun gut. Im nachsten Sommer komme ich nach Korcula, und wenn ich doch an die DDR-Polizei ausgeliefert werden, dann nehme ich Sie beide mit." Im Jahre 1968 war die Tagung der Sommerschule von Korfola dem Thema "Marx und Revolution" gewidmet. Die Schule tagte vom 14. bis zum 24. August 1968. Der Pariser Mai und der jugoslawische Juni waren schon vorbei. Trotz der erlittenen Niederlagen war die Studentenbewegung noch nicht tot. Die Studenten aus der ganzen Welt (speziell auch aus der Bundesrepublik) waren in groBer Zahl angereist._Die jugoslawischen Studenten hatten im Zentrum von Korcula einige Hauser und ein groBes Treppenhaus mit ihren Losungen in Rot bemalt. Wie versprochen war Bloch rechtzeitig an der Stelle. Unter den Teilnehmern waren auch Herbert Marcuse, Lucien Goldmann, Serge Mallet, Alfred Sohn-Rethel, Eugen Fink, JUrgen Habermas, Kostas Axelos, Norman Birnbaum, Tom Bottomore, Kurt Wolff, Ossip Flechtheim, Michael Landmann, Iring Fetscher, Arnold KUnzli, Gunther Nenning, Julius Strinka, Agnes Heller, Zador Tor'. dai und viele andere. Erich Fromm und Ernst Fischer, die vor dem Beginn der Tagung absagten, haben ihre Texte zugeschickt. Die jugoslawischen PraxisPhilosophen waren fast alle da (Branko Bosnjak, Danko Grlic, Milan Kangrga,
Ivan Kuvacic, Veljko Cvjeticanin, Miaden Caldarovic, Mihailo Durie, Zaga Golubovic, Veljko Korac, Andrija
Kre�ic, Mihailo Markovic, Dragoljub Micunovic, Vojin Milic:, Zarko Puhovsh , Svetozar Stojanovic, Ljubomir Tadic, Miladin Zivotic und die anderen).
Nur Rudi Supek, der Prasident der
Schule, der ein paar Monate vor dem
Beginn der Tagung einen schweren
Beinbruch erlitten hatte fehlte bei der
Eroffnung. Noch immer hinkend und blass, sich auf einen Stock stUtzend, erschien er aber im Laufe der Tagung.
In der Abwesenheit von Supek wurde ich beauftragt, die Tagung der Schule zu eroffnen. In der kurzen Eroffnungsrede habe ich speziell Bloch gegrUBt und, wie im voraus vereinbart, ihn gebeten, ein paar Worte zu sagen. Im ersten Satz seiner Rede bedankte sich
Bloch for die freundliche BegrtiBung "in einem Land, zu dem ich mich durch die "Praxis" und den Zagreber Kreis schon lange verbunden fiihle". Die nachsten Satze waren schon nicht mehr zu horen. Plbtzlich begann ein
Gewitter mit starkem Donnern, Regen und Wind. Die Sonne, die durch die
Fenster und die Ti.ire den Saal im 'Haus der Kultur' beleuchete, verschwand, aus Tag wurde Nacht. Das elektrische
Licht ging aus. Es grollte wie bei dem
Weltuntergang. Bloch wollte seine Rede nicht unterbrechen. Er schrie in die
Finsternis, kampfte mit dem Donner bis er es endlich tiberschrie. Nach ein paar Minuten kam das Licht wieder, der Donner wurde schwacher, und die
Stimme von Bloch, immer starker, war gut zu horen.
An der Tagung 1968 waren mehr als 400 Teilnehmer anwesend. Zwei Wochen Jang diskutierte man leidenschaftlich im Saal und im Vorhof des 'Hauses der Kultur', in Restaurants und Cafes von Korcula, am Strand und auf der StraBe. Zusiitzlich zu seiner Eroffnungsrede hielt Bloch ein Referat, nahm teil in der Diskussion und hielt viele individuelle Gespriiche. In der entformalisierten Atmosphiire von Korcula, wo die Teilung in Professoren, Assistenten und Studenten keine Rolle spielte und alle zusammen auf dem gleichen FuB iiber die brennenden Probleme der Gegenwart diskutiert haben, hat sich Bloch gut gefiigt. Er fiihlte sich wie zuhause, und die Teilnehmer haben das Gefi.ihl gehabt, als ob er da nicht zum ersten Mai erschienen ist, sondern schon liinger dabei war und dazu naturgemiiB, und zwar als das Zentrum, gehorte. Herbert Marcuse, der schon im Jahre 1964 in Korcula war und der im J ahre 1968 liberal! als der Hauptheld gait, muBte sich in Korcula mit der Rolle der "zweiten Violine" begniigen. Das ist .ihm nicht schwer gefallen. "I am ... happy and honored to talk to you in the presence of Ernst Bloch today ... " sagte er in der Einleitung zu seinem Vortrag. Am 21. August, friih am Vormittag, kam die Nachricht, daB die Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschiert waren. Die normale Arbeit der Schule wurde auf einen Tag unterbrochen und <lurch eine Protestversammlung ersetzt. Wiihrend der Unterbrechung bereitete eine kleinere Arbeitsgruppe den Text des Aufrufs an die Weltoffentlichkeit vor. Wir anderen gingen in den Vorhof, um dort Jransistorradios zu horen, oder in kleinen Griippchen weiter zu diskutieren (oder eher zu schweigen). So kann ich mich gut erinnern, wie ich rnit Bloch,
Marcuse und den anderen im Kreise stand. Bloch war schweigend, finsterer als die Nacht. Die ganze Zeit drehte er seine Pfeife im Mund. Nachdem der
Text des Aufrufes vorbereitet und kurz durchdiskutiert war, unterzeichnete .ihn Bloch als erster, dann folgten die anderen. Vermutlich war es die erste repriisentative internationale Reaktion auf die Okkupation der Tschechoslowakei.
Im Jahr 1970 kam Bloch wieder nach
Korcula und sprach iiber die "Geschichtliche Vermittlung und das Novum bei Hegel". Er wollte auch im Jahre 1973 dabei sein, aus gesundheitlichen Griinden muBte er aber absagen. So schickte er ein Tonband mit seinem Beitrag. Das Tonband wurde bei der Eroffnung der Tagung gespielt und der entsprechende Text ("Die biirgerliche Welt und der Sozialismus") in der Zeitschrift
"Praxis" gedruckt. Im Jahre 1969 wurde Bloch zum Ehrendoktor der Universitiit Zagreb ernannt. Das war die erste Ehrendoktorwiirde, die ihm iiberhaupt erteilt worden war. Zusammen mit Karola flog er zur feierlichen Promotion aus Ziirich, <loch konnte das Flugzeug wegen des plotzlich eingetretenen Nebels nicht landen und muBte nach vergeblichem Kreisen iiber Zagreb nach Ziirich zuriickkehren. So wurde er in Abwesenheit am 18. Dezember '69 promoviert und hat seine fiir die Promotion . vorbereiteten "Worte des Danks ... " dem Rektor der Universitiit Zagreb zugeschickt. In diesem Dankwort iiuBerte er sich speziell iiber die Zeitschrift "Praxis": "Im besonderen ist Zagreb sozusagen die Heimatuniversitiit von tonangebenden Philosophen der Zeitschrift "Praxis", diesem so wichtigen gegenwiirtig fast einzigen Organ eines lebendigen innegehaltenen Marxismus. Die "Praxis" hat dadurch nicht nur internationale Bedeutung, sie triigt auch zum geistigen Ruhm Jugoslawiens bei, .... Hohes Niveau ist in dieser Zeitschrift so selbstverstiindlich, wie es in bedeutend offizielleren auBerhalb Jugoslawiens eine Ausnahme wurde."
Inzwischen wurden fast alle wichtigen Werke von Bloch in Jugoslawien veroffentlicht ("Geist der Utopie", "Das Prinzip Hoffnung", "Naturrecht und menschliche Wiirde", 'Tiibinger Einleitung in die Philosphie", "Experimentum mundi", "Philosophische Grundfragen", "Universitiit, Marxismus, Philosophie", "Politische Messungen" usw .). Einige von den noch nicht veroffentlichten sind schon iibersetzt und sollten auch bald erscheinen ("Atheismus im Christentum", "Das Materialismusproblem"). Die Bibliographie der jugoslawischen Arbeiten iiber Bloch betriigt schon mehr als 200 Einheiten. Eine Reihe jugoslawischer Zeitschriften widmeten Bloch ihre spezielle Nummer, und nebst einer Reihe jugoslawischer Symposien iiber Bloch wurden in Dubrovnik auch zwei internationale Symposia iiber Bloch gehalten {1980 und 1985).
Vermutlich war Bloch in keinem andere Land so intensiv "rezipiert" wie in Jugoslawien. Eine Reihe jugoslawischer Philosphen haben behauptet, Bloch sei der groBte marxistische Philosoph des 20. Jahrhunderts, eine Bewertung, die einige auch in Frage gestellt haben. Bloch hat seinerseits behauptet, die Zeitschrift "Praxis" sei ''wohl die beste philosophische Zeitschrift unserer Zeit", eine Behauptung, die sicherlich nicht allgemein anerkannt war. Uber alle diese Sachen kann ich bei dieser Gelegenheit aber nicht schreiben . Das Thema "Bloch und die jugoslawische Philsoophie" ist allzubreit fiir ein kurzes Interview. Deshalb habe ich mich diesmal hauptsiichlich auf die ersten Kontakte zwischen Bloch und den jugoslawischen Philosophen beschriinkt.
Helmut Fahrenbach
EIN KIISENPUNKT MAIIISTISCHEI THEOIIE
UTOPISCHES BEWUSSTSEIN UNO GESELLSCHAFTLICHES SEIN. BLOCHS TRANSFORMATION EINER MARXSCHEN FORMEL.
1. Seit einiger Zeit ist lwieder einmal). insbesondere nati.irlich von den Gegnern. aber doch auch von den Anhangern bzw. Sympathisanten marxistischer Theorie von deren Krise die Rede. Und wer wollte und konnte dem einfach und leichthin widersprechen? Wichtig. ja entscheidend ist dabei jedoch die Differenzierung der pauschalen FormeLd .h. der Versuch, sich klar zu machen. worin die Krise heute besteht und was und wen sie im Feld marxistischer Theorie vor allem betrifft. In gewisser Weise ist der Marxismus (Sozialismus) als historische und praxisbezogene Theorie innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation immer in einer kritischen Situation, sofern das for eine praktisch-kritische Theorie zentrale Problem der Theorie-Praxisvermittlung for die jeweilige Gegenwart und ihren Zukunftshorizont stets neu in Frage steht und situationsbezogen beurteilt werden mul�. In diesem Rahmen bestimmen sich auch die besonderen Krisenpunkte marxistischer Theorien in der Gegenwart. Sie leiten sich einmal von einem schon etwas alteren Problem dieses Jahrhunderts her, namlich der zunehmend ratloser gewordenen Frage und Suche nach dem oder einem '·revolutionaren Subjekt" systemverandernder Praxis, angesichts der offenbar stabilisierungs- und reproduktionsfahigen objektiven Produktions-Verhaltnisse (Lefebvre) und des in irgendeiner Form unvermeidbaren "Abschieds" von den klassischen Theorien des Proletariats und der Revolution (Marcuse, Gorz, Lefebvre, Habermas, Bahro u.a.). Dazu kommt, da£ die neu aufgekommenen gesellschaftskritischen Alternativbewegungen (Okologie, Friedens-, Frauenbeweguag) in ihren unterschiedlichen Orientierungen zwar manchen Bezugspunkt zur marxistisch-sozialistischen Kritik kapitalistischer Gesellschaften aufweisen, aber doch auch wesentliche theoretisch-praktische Differenzen, die sich jedenfalls nicht bruchlos mit einem (gar noch "orthodoxen")marxistischen Theorie-Praxis-Konzept vermitteln [assen. Es ist klar, dal� einer solchen Lage, in der (kritisches) BewuBtsein und gesellschaftliches Sein in Vielfaltiger Weise auseinandertreten, das theoretisch und praktisch relevante Problem ihrer Verhaltnisbestimmung neu aufgeworfen wird und in den Mittelpunkt ri.ickt; und auch, dal:, nicht-objektivistische Positionen (wie die von Bloch, Marcuse, Sartre, Lefebvre, Habermas), in deren Ansatz die offene Dialektik von gesellschaftlichem Sein und Bewul:,tsein gewahrt wird, am ehesten in der Lage sind, die gegenwartige Problemsituation marxistischer Theorie zu erhellen und zu Ibsen. Zu einer solchen Erhellung gehort unabdingbar auch die Erorterung der Bezi.ige und Differenzen zur Marxschen Problemkonstellation und d.h. der gegenidealistischen Formel von Marx und Engels "Es ist nicht das BewuBtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr BewuBtsein bestimmt". 2. Im Umkreis der marxistischen Theoretiker und Philosophen, die· der von Marx unterschiedenen gegenwartigen Problemlage u.a. durch eine Neufassung des Bewul:,tseinsthemas im dialektischen Verhaltnis von BewuBtsein und gesellschaftlichem Sein zu entsprechen suchten, ist Ernst Bloch gewiB nicht derjenige, der die gegenwartige Lage am grlindlichsten analysiert hat, wohl aber hat er die veranderte Beurteilung des BewuBtseinsfaktors sowohl in historisch-gesellschaftlicher als in philosophisch-struktureller Hinsicht auf eine grundlegend-umfassende und produktive Weise thematisiert, die zudem durch ihre immanent kritischen Bezi.ige zu Marx und ihre Parallelen zu Sartre, Lefebvre, Marcuse u.a. for die weitere Diskussion von besonderer Bedeutung ist. a) Eine for die historisch-gesellschaftliche Analyse fruchtbare Differenzierung der BewuBtseinsdimension und der Dialektik von Bewul:,tsein und gesellschaftlichem Sein hat Bloch vor allem in seinen Diagnosen der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhaltnisse, Entwicklungen und Tendenzen der Wei_marer Zeit ( die 1935 in "Erbschaft dieser Zt:it" gesammelt erschienen) vorgenommen. Darin wird das Konzept einer "mehrschichtigen" (bzw. "mehrraumigen") Dialektik "gleichzeitiger" und "ungleichzeitiger" Widerspriiche im und zum kapitalistischen System entwickelt und an den Zeitanalysen (zumal angesichts der Verflihrbarkeit bestimmter Schichten durch den Nationalsozialismus/Faschismus und die Versaumnisse der marxistischen Gegenbewegung) konkret bewahrt. Dieses Konzept sollte zwar keine Ersetzung, sondern eine theoretisch und praktisch notwendige Horizonterweiterung und Differen-. zierung der dialektischen Methode marxistischer {ideologiekritischer), BewuBtseins- und Gesellschaftsanalyse sein, zumal gegeni.iber ihrer zeitgenossischen Verki.immerung zu einem erfahrungsund phantasielosen Schema. (Eine Kritik, die Sartre spater ganz ahnlich am offiziellen Marxismus gei.ibt hat.) Der gleichzeitige und dem kapitalistischen System immanente Grundwiderspruch - zwischen Lohnarbeit und Kapital, gesellschaftlicher Produktion und privater An-
�ignung und der Klassengegensatz bleiben objcktiv und subjektiv entscheidend for cine revolutionare Umwalzung <lurch das klassenbewuf�te Proletariat. Aber for den revolutionaren Prozefl, mufb das Widerspruchspotential gegen die bi.irgerlich-kapitalistische Gesellschaft einbezogen und aktiviert werden, das aus alteren "ungleichzeitigen" Phasen der gesellschaftlichen Entwick'lung und Schichten des Bewuf�tseins noch gegenwartig ist und sich in kapitalismus-kri tischen Bewuf�tseinslagen, Ein stellungen und Verhaltensweisen auswirkt. b) Im Rahmen seiner Grundlegung der marxistischen Philosophic (Theorie-Praxis) der Weltveranderung gib t Bloch "alles Weitere fundierend und tragend" eine neue Auslegung des Bewul�tseinsfaktors, d.h. der BewulHseinsform, die dem praktisch-theoretischen Verhaltnis des Menschen zur Welt und zu sich selbst vorrangig zugehort: das "antizipierende Bewul�tsein". (Unter diesem Titel steht der 2. Tei], die "Grundlegung" des Prinzip Hoffnung Zit. = PH). Mit dem 'antizipierenden Bewufhsein' kennzeichnet Bloch die for die menschliche Lebensforrn grundlegende Bewuf�tseinsdimension, in deren Richtungsbestimmung der for das "nach vorn" orientierte zeitliche Dasein und Werden wesentliche und vorrangige Moglichkeitsund Zukunftsbezug erhellt wird. Denn im antizipierenden Bewull,tsein wird in verschiedenen Weisen des Vorgriffs auf Mogliches und Ki.inftiges (in Tagtaumen, Wi.inschen, Hoffnungen, Prognosen, Entwi.irfen, Planen) die Dimension der Zukunft, die an der Front alien Werdens und for das menschliche Leben auch im Bewull,tseins- und Praxishorizont liegt, perspektiv eroffnet und das faktisch Gegebene (Gegenwartige) auf vorgestelltes Mogliches, Anderes, Neues hin "i.iberschritten", wenn es auch erst <lurch praktische Realisierung verandert zu werden verrnag. Blochs Bestimmung des antizipierenden Bewuf1tseins schliell,t aber auch <lessen anthropologische ( triebdynamische) Voraussetzungen ein (die mit der Bedi.irftigkeit und dem drangenden Begehren leibhaften Lebens gesetzt sind und als Triebfedern auch im protendierenden Bewu6tsein wirksam bleiben) und die "ontologischen" Bezi.ige zu dem <lurch das antizipierende BewuBtsein erschlossenen Korrelat der unfertigen, moglichkeitsoffenen Wirklichkeit (in Geschichte, Gesellschaft und Natur), innerhalb deren die geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen analytisch und praktisch das Feld konkreter Antizipation (Utopie) und real moglicher Praxis umreill,en. Erst und nur in diesem Bezugsrahmen fungiert das antizipierende.Bewuf�tsein als grundlegende Kategorie und anthropologisch zentraler Ansatzpunkt for Blochs Auslegung des Verhaltnisses von BewuBtsein und gesellschaftlichem Sein. Im Kon text dieses Bezugsrahmens zeigen sich mannigfach Bezi.ige, aber auch Differenzen zur Marxschen Position. c) So sehr Bloch daran liegt, seine u topische Philosophic, zumal ihrer geschichtlich-praktischen Bestimmung 1:ach, von Marx und der epochalen Bedeutung seiner Theorie-Praxis herzuleiten, so ist er sich <loch auch bewufbt, an bestimmten Punkten aus einem weitergespannten Horizont philosophischer Einsicht Konsequenzen aufweisen, Verengungen beseitigen und Weiterentwicklungen vornehmen zu mi.issen. Ein for die hier verfolgte Fragestellung zentraler Punkt, an dem Bloch die Reflexion objektiv und subjektiv relevanter Konsequenzen fi.ir notig halt, ist gerade der fi.ir Bloch entscheidende neue Zug am Marxschen Denken und in marxistischer Philosophic gegeni.iber der Tradition. namlich die Umwendung der Grundrichtung des Denker.s von der Vergangenheit zur Zukunft hin. Wenn im "Kommunistischen Manifest" gesagt wird. dal� in der kommunistischen Gesellschaft, im Gegensatz zur bi.irgerlichen, "die Gegenwart i.iber die Vergangenheit herrscht". so erganzt Bloch, "und es herrscht die Gegenwart zusammen mit dem Horizont in ihr, der der Horizont der Zukunft ist..." (PH 329. vgl. 725). Und eben dieser Horizont der Zukunft. in dem "die beginnende Philosophie der Revolution eroffent wurde," ist "in und an Marx selber noch kaum vollig reflektiert worden" (a.a.O.). Die hier notige und von Bloch durchgefi.ihrte philosophische Reflexion betrifft vor all em die an thropologischen und ontologischen Voraussetzungen und Perspektiven des Zukunftshorizontes alles prozell,haft Wirklichen in Mensch und Welt, Natur und Geschichte, der im antizipierenden BewuBtsein als objektiv zum Realen gehorende und zu bestimmtende Moglichkeitsdimension erschlossen wird. lnsbesondere die Auszeichung des antizipierenden BewuBtseins gibt dem Verhaltnis von Bewull,tsein und gesellschaftlichem Sein bei Bloch gegeni.iber Marx andere Konturen und Schwerpunkte. Denn das antizipierende Bewuf�tsein kann weder in der Moglichkeit und Funktion des Oberschreitens der Realitat noch in den Gehalten utopischer Phantasie als <lurch das faktische (') gcsellschaftliche Sein direkt bestimmt oder praformiert bzw. als <lessen blofoer Ausdruck gedacht werden. Dern transzendierenden En twurf des Moglichen, d .h. Nicht-wirklichen bzw. im Hinblick auf Ki.inftiges des Noch-nicht-Seins, mufo vielmehr eine wesentliche Unabhangigkeit gegeni.iber dem faktisch Gegebenen zugestanden werden. Es kommt Bloch (wie Sartre) zunachst vor allem darauf an. diesen i.iberschreitenden Zug im menschlichen Bewui�tsein und Leben. den theoretisch-praktischen Ausgriff ins Offene der Zukunft und des Moglichen linmitten und trotz aller realen Bedingtheit) als cine entscheidende Funktion und Bedingung des "Aktivitatsfaktors" im Subjekt kenntlich zu machen und offen zu halten, zumal sich darin die existentielle und metaphysische "Tiefendimension des subjektiven Faktors" (PH 168). wie auch des Geschichts- und Weltprozesses enthi.illt, das "Eigentliche im :-.tenschen wie in der Welt noch ausstehend ist'' (PH 285) und als utopischer Ziel- und Sinngehalt eines gelungenen Lebens und erfiillter Gegenwart in der Welt gesucht wird. Diese Tiefendimension. die zugleich den weitesten "prospektiven Horizon!'' (PH 257) fi.ir Geschichte und Weltprozeb vorzeichnet. gilt es auch dem Marxismus. gegen alle Reduktionen als --Reich tum" und "Leben der Tiefe" seines humanen Gehalts zu erhalten bzw. wieder zuzueignen (PH 726, vgl. Kap. 55). Das bis jetzt Gesagte konnte freilich den Eindruck erwecken, hier ginge es doch wieder nur um eine neue Variante des von Marx kritisierten verselbstandigten BewufHseins, von dem auch noch gut idealistisch angenommen wird, dal� es das - ki.inftige - gesellschaftliche Sein bestimme oder zumindest bestimmen konne. Zudem scheint das die Realitat "i.iberschreitende" oder i.iberfliegende antizipierende Bewull,tsein allzu leicht eine idealistisch "ideologische" Funktion ausi.iben zu konnen. Dies ware jedoch eine irrige Auffassung. Es kann nati.irlich keine Rede davon sein, dall, das so bestimmte antizipierende Bewull,tsein als solches das gesellschaftliche Sein bestimme, so fern es lediglich Moglichkeiten entwirft. Wirklichkeit bzw. gesellschaftliches Sein zu bestimmen, ist indessen
allein Sache erhaltender oder verandernder Praxis (PH 1618). Die dem antizipierenden Bewul�tsein allerdings zugedachte ErschlieBung der Ziele und Moglichkeiten verandernder Praxis erfordert aber gerade seine Vermittlung mit der Realitat zu ""konkreter Antizipation", in der sich auch der Schein ideologischer Funk, tion auflosen muB. d) Durch die Forderung .. konkreter Antizipation ' bzw. 'konkreter lltopie '' wird das antizipierende Bewu!:,tsein entgegen einem phantastischen Dberfliegen der Reali tat ( --utopismus") in die Wirklichkeit des gesellschaftlich-geschich tlichen Seins zuri.ickbezogen. ohne den umfassenden utopisch-prospektiven Horlzont preiszugeben oder ihn auf das jetzt real Mogliche bzw. moglich Scheinende zu verki.irzen. Mit dieser konkretisierenden ( '·verendlichenden ") Bewegung wird erst das dialektische Verhaltnis bzw. die Vermittlung zwischen utopischem -BewuBtsein und gesellschaftli-
chem Sein erreicht. Denn ein 'antizipierendes' - und nicht nur ins Phantastische ausschweifende - BewuBtsein muB sich im Wirklichkeits- und Moglichkeitsfeld des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins selbst 'situieren', gerade um die 'transzendierende' Dimension der realen Moglichkeit einer besseren Zukunft erschliessen zu konnen. Die Ansatzpunkte "konkreter" Antizipation ( Utopie. Phantasie, Hoffnung) bestehen darin, ·' ... Vorhandenes in die zuki.inftigen Moglichkeiten seines Andersseins, Besserseins antizipierend fortzusetzen. Wonach sich die so bestimmte Phantasie der utopischen Funktion von bloBer Phantasterei eben dadurch unterscheidet, daB nur erstere ein Noch-NichtSein erwartbarer Art fiir sich hat, das heil�t. nicht in einem Leer-Moglichen herumspielt und abirrt, sondern ein RealMogliches psychisch vorausnimmt" (PH 163, vgl. l 79f., 256, 723ff.). So entschieden und i.iberzeugend Bloch - gegen "Utopismus" und "Empirismus" / "Positivismus" - das Konzept _"konkreter Utopie" als die Vermittlung zwischen antizipierendem BewuBtsein und gesellschaftlichem Sein (Utopie und Praxis) in den Mittelpunkt zumal der marxistischen Theorie-Praxis ri.ickt und festhalt, so ist damit zunachst lediglich eine notwendige Problemstellung begri.indet und eine Aufgabe formuliert. Die wesentlich situationsbezogene Einlosung der Aufgabe (der realitatsvermittelten ··Konkretisierung" von Utopie, Antizipation) ist dadurch keineswegs schon gesichert oder gar geleistet. Denn eine solche Einlosung muB unabdingbar, wenn auch nicht nur, in der Gegenwartsbzw. Situationsanalyse FuB fassen, um
im Moglichkeitsfeld des gesellschaftlichen Seins die utopischen Entwi.irfe und Antizipationen als solche realer Moglichkeit zu konkretisieren. Hinsichtlich der Situations- und Gesellschaftsanalyse rekurriert Bloc11 oft allzu pauschal und ohne zureichende historisch-kritische Reflexion der weiteren geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklungen auf die Grundbestimmungen der Marxschen Kapitalismusanalyse. Bloch hat zwar - wie angedeutet - for die Weimarer Zeit eine sachlich und methodisch originare Zeitanalyse entwickelt, die ihren "konkret-utopischen Hintergrund" an den Umbruchs- und Dbergangsphanomenen im Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der Zeit zu bewahren suchte und dafiir mit der mehrschichtigen Dialektik der gleichzeitigen und ungleichzeitigen Widerspri.iche eine zweifellos fruchtbare Differenzierung und Erweiterung der marxistischen Methode gesellschafts- und ideologiekritischer Analyse vornahm (der gegeni.iber z.B. G. Lukacs in einer unveroffentlichten Rezension der "Erbschaft" die ganze Verstandnislosigkeit der Orthodoxie dokumen tie rte). Blochs Dialektik der ungleichzeitigen Widerspri.iche bleibt jedoch an den gleichzeitigen und theoretisch wie praktisch entscheidenden okonomischen Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, den Klassengegensatz und die revolutionare Rolle des Proletariats gebunden. So begri.indet diese Konzeption fiir die Analyse der Weimarer Zeit auch noch gewesen sein mag, eine unkritische Dbertragun_g dieses klassischen Konzepts (auch in seiner differenzierteren Form) auf die neueren Entwicklungen und die Gegenwart ware jedoch zweifellos problematisch (und sie ist von Bloch auch nicht direkt vollzogen worden). Von der heutigen Lage aus ist jedenfalls zu sagen, daB der fiir Blochs Konzeption tragende Pfeiler des gleichzeitigen Grundwiderspruchs bri.ichig geworden und selbst der mehrschichtigen Dialektik verfallen ist. Damit hat Blochs dialektisch-kritische Hermeneutik zwar ihr· revolutionares Zentrum, aber nicht ihre Bedeutung ver!oren. Blochs Konzeption einer mehrschichtigen Dia!t,ktik konnte vielmehr gerade dadurch die Flexibi!itat und Offenheit gewinnen, die notig ist, um die heute selbst als nicht zentralisiert und vielschichtig auftretenden gesellschaftlichen Bewegungen zu begreifen, zumal darin utopisch-kritische Intentionen und Gehalte veranderter Bedi.irfnisse, Einstellungen und Lebensformen eine wesentliche Rolle spielen. 3. DaB gegenwartig konkret utopisches Denken ftir eine das Wirklichkeits- und Moglichkeitsfeld erhellende materiale Gesellschaftsanalyse von wesentlicher Bedeutung ist, laBt sich, deutlicher als an Bloch, selbst besonders an H. Marcuse und H. Lefebvre (aber auch an Sartre, Bahro u.a.) erkennen, die ihre materiale Gesellschaftsanalyse und -kritik am Leitfaden der Dialektik von Wirklichkeit und Moglichkeit (Aktualitat und Potentialitat) und konkreter Utopie orientieren und dabei ebenfalls die· aktive Bedeutung des (in Phantasie und Wtinschen) transzendierenden "i.iberschi.issigen" BewuBtseins (Bahro, Mar-

cuse) im subjektiven Faktor for die ErschlieBung konkreter, realer Mbglichkeiten verandernder gesellschaftlicher Praxis herausheben. Eben dafor hat Bloch den Blick in den weitesten Horizont der normativ-utopischen Sinngehalte und Ziele einer besseren Zukunft der Menschen geoffnet und ihn zugleich mit der Forderung konkreter Utopie auf die gesellschaftlich-geschichtliche Niihe gelenkt. Die Uberschreitende Bewegung des konkret utopisch "transzendierenden" BewuBtseins halt sich prinzipiell in der Dimension von Zeit und Geschichte und bleibt dadurch (im Unterschied zu einem gleichsam vertikalen (statischen) "metaphysischen" Transzendieren) zu einer anderen, eigentlichen Wirklichkeit in sich auf Zukunft als die Zeitdimension mbglicher Praxis bezogen. Dern korrespondieren sowohl Marcuses Unterscheidung von "metaphysischem" und "geschichtlichem" Transzendieren (in "Der eindimensionale Mensch", 1967, S.13, 35) als auch die strukturellen Bestimmungen der entwerfend "i.iberschreitenden" Praxis bei Sartre und Lefebvre; auch wenn in Blochs Verzeitlichung und Historisierung der Metaphysik mehr an traditionellen metaphysischen Problemen und Perspektiven, den Zusammenhang und ProzeBsinn des Seienden im ganzen betreffend, eingehen.

Konvergenzen und Parallelen zeigen sich weiter in der methodischen Bestimmung des Theorie-Praxis-Verhaltnisses auf der generellen Basis der Wechselwirkung (Oszillation) von Theorie und Praxis. Wenn Bloch auf dieser Basis vom "Prius (Vorgangigkeit) der Theorie und Primat (Vorrang) der Praxis" spricht, dann ist die Vorgangigkeit der Theorie gerade auf ihre (situationsanalytisch und normativ-utopisch) begri.indete antizipatorische Funktion bezogen, denn dadurch ist sie auf den Vorrang verlindernder Praxis gericht�t. Genauso formuliert Marcuse d_as Verhaltnis, indem er, gegen die Vorstellung einer unmittelbaren Einheit von Theorie und Praxis und fur das Spannungsverhaltnis aus der Struktur der Theorie pladierend, sagt: die Theorie "hat eine antizipierende, kritische Qualitat. Auf Grund der Analyse der gegebenen Gesellschaft projiziert, entwirft die Theorie mbgliche Praxis. Das ist das geschichtliche A priori der Theorie". (Zeit-Messungen, 1975, S. 21). Auf ahnliche Weise bestimmen Lefebvre und Sartre die praxis- und mbglichkeitsbezogene kritische und projektive Funktion der Theorie. Mit dem Konzept '"konkreter Utopie" hat Bloch seine Jnterpretation der offenen Dialektik von Bewuf.�tsein und gesellschaftlichem Sein, die <lurch eine korrektive Akzentuierung des antizipatorischen BewuBtseins- und Aktivitlitsfaktors for das praktische Weltverstandnis bestimmt ist, so auf den (programmatischen) Begriff gebracht, daB sie als Aktualisierung und Transformation der
Marx/Engelschen Formel, bei Wahrung ihres kritischen Sinnes, verstanden werden kann. Denn das antizipierende BewuBtsein kann sich auf Grund seiner ihm immanenten Protention auf mbgliche, ki.inftige Praxis und Wirklichkeit weit weniger leicht von der Realitat ablbsen bzw. abgelost halten und sich ideologisch verselbstandigen (als das vorstellend interpretierende BewuF.ltsein ), ohne nicht alsbald an sich selbst den Status des Phantastischen, lllusioniiren zu erkennen zu geben und zu erfahren. Darum bleibt auch dem Denker des "'Prinzips Hoffnung" bewuL�t, daB '· . .. Hoffnung den (jeweils vorgegebenen H.F.) Horizont nur Ubersteigt. wahrend erst Erkenntnis des Realen mittels der Praxis ihn auf solide Weise verschiebt ... "(PH 1618). Aus dem gleichen Grunde des virtuellen Praxisbezuges vermag andererseits das konkret-utopische BewuBtsein eine aktivere und bestimmendere Funktion an der "Front" des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins als Werden for die Orientierung und Motivation emanzipatorisch verandernder Praxis auszui.iben. Und es kann dafor auch die normativen und kritischen Gehalte, die das utopische BewuBtsein in geschichtlichen und oft abstrakten Formen hervorgebracht hat, <lurch eine die ideologische und utopische Funktion unterscheidende kritische Hermeneutik aktualisieren. Dieser in der Marxschen Kritik des religiosen BewuBtseins lediglich angedeutete Aspekt ist von Bloch zu einer umfassenden Interpretation der uneingelosten utopischen Gehalte des geschichtlich-kulturellen Erbes von den unscheinbarsten alltaglichen Traumen und Wi.inschen bis zu den Entwi.irfen des hochsten Gutes in der Welt entwickelt und fruchtbar gemacht worden. Ernst Bloch hat seine Transformation der Marxschen Formel selbst auf eine Formel gebracht: "Das Sein, das das Bewuj3tsein bedingt, wie das BewuJstsein, das das Sein bearbeitet, versteht sich letzthin nur aus dem und in dem, woher und wonach es tendiert" (PH l 7f.). Die darin zusammengefaBte Transformation ist i.iber ihre Relevanz for Philosophie und marxistische Theorie hinaus von besonderer Bedeutung in einer Zeit, in der die Zukunft primar die ZUge des Bedrohlichen zeigt, bis hin zur Gefahr einer Selbstvernichtung der Menschheit. und in der objektive Faktoren und Tendenzen einer Wendung zum Besseren kaum auszumachen sind. Dann hangt das Gewicht der moglichen und wirklich werdenden Zukunft verstarkt an der konkreten Phantasie des antizipierenden BewuBtseins und an der motivierenden Kraft der Hoffnung fiir das an einer besseren Zukunft arbeitende Handeln.
Eberhard Braun FREIHEIT UND NATUR
ONTOLOGIE DES NOCH-NICHT-SEINS ODER ONTOLOGIE 'DES GESELLSCHAFTLICHEN SEINS?
·'Erinnerung: Als einer zu seinem weisen Freund sagte: unsere Gesprache mogen fein und. tief sein. aber wie stumm sind die Steine und wie unbewegt bleiben sie von uns; wie groB ist das Weltall und wie armselig steht die 'Hohe' unserer Peterskirche davor: was mi.iBte erst die Erde selber zu sagen haben, wenn sie einen Mund von Lissabon bis Moskau offnete und nur wenige Worte donnerten, orphisch; - da erwiderte der weise Freund, als Lokalpatriot der Kultur: eine Ohrfeige ist kein Argument und die Erde? sie wi.irde vermutlich lauter Unsinn reden, denn sie hat weder Kant noch Platon gelesen." 1
Das Gesprach mit dem weisen Freund Georg Lukacs - kreist um ein Problem: das Verhaltnis von Freiheit und Natur. Beide, Bloch und Lukacs, verfolgen in ihren Spatphilosophien ontologische Intentionen. Doch hat Bloch genau den Kempunkt festgehalten, worin beide sich trennen.
Lukacs begreift das Verhaltnis von Freiheit und Natur als Perfektion der Herrschaft, wodurch der Spielraum der Freiheit sich offnet und erweitert. Ontologisch faBt er diese Herrschaft i.iber die auBere, nichtmenschliche wie die innere, menschliche Natur der Arbeit entspringen. Die Analyse der Arbeit steht deshalb im Mittelpunkt der 'Ontologie des gesellschaftlichen Seins'. Lukacs meint, Marxens Kritik der politischen Okonomie fortzufiihren, in der Tat aber restauriert er den bi.irgerlichen Arbeitsbegriff. Bloch hingegen bestimmt das Verhaltnis des Menschen zur Natur utopisch als Versohnung. Er beruft sich aufMarxens 'Pariser Manuskripte', worin die Naturalisierung des Menschen und die Humanisierung der Natur eine zentrale Rolle spielt. Dabei modifiziert Bloch den urspri.inglichen Sinn und reduziert Natur auf auBere Na. tur, wahrend Marx Naturalisierung des Menschen und Humanisierung der Natur als Chiasmus meint: Natur bedeutet menschliche Natur, die auBere Natur hat bei ihm kein Wesen im emphatisch-normativem Sinn. 'Bloch kann dies, weil er das Sinnproblem nicht nur gesellschaftlich, sondern allumfassend kosmologisch denkt, als Problem des Endzwecks der Welt. Er faBt das Experiment Welt als Laboratorium moglicher Wendung zum Guten, aber dessen Zukunft noch nicht entschieden ist, freilich um den Preis einer teleologischen Betrachtung der Materie. Im Zentrum der Ontologie des Noch-Nicht-Seins steht das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks, das Bloch als utopisch gefaBte Identitat von Subjekt und Objekt in der Natur versteht.
1. Ontologie des Gesellschaftlichen Seins. 1hr Kembegriff: Arbeit als teleologische Setzung Gegenstand der Ontologie ist for Lukacs primar, wie der Titel des spa ten Werks anzeigt, das gesellschaftliche Sein.-Dieses konstituiert sich in der Arbeit. Systematisch am Anfang der 'Ontologie des gesellschaftlichen Seins' steht deshalb die "Analyse der Arbeit"2: "In der Arbeit sind alle Bestimmungen, die .... das Wesen des Neuen am gese!lschaftlichen Sein ausmachen, in nuce enthalten. Die Arbeit kann als Urphanomen, als Modell des gesellschaftlichen Seins betrachtet werden"3 . Arbeit ist for Lukacs "die ontologische Zen tralkategorie "4 . Lukacs scheint vom Ersten Band des Ma�xschen 'Kapitals' auszugehen. Dort wird die Arbeit bestimmt als "ein ProzeB zwischen Mensch und Natur, ein ProzeB, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt kontrolliert"5 . Arbeit ist nach Marx "zweckmaBige Tatigkeit"6 , denn "am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war."6 Lukacs scheint nun lediglich diesen Arbeitsbegriff ontologisch auszulegen, wenn er Arbeit als "teleologische Setzung begreift. Doch eines ist ganz entscheidend: die Funktion dieser Definition im Ganzen der "Kritik der politischen Okonomie": Lukacs nimmt sie fi.ir das Ganze, wahrend sie in Marxens Theorie nur einen untergeordneten Teil ausmacht: die Hauptsache, das spezifisch Historisch-Gesellschaftliche, welche die politische Okonomie erst in .Kritik umschlagen laBt, ist bei Lukacs ausgelassen .
Lukacs konstruiert die Arbeit als "ontologische Genesis der Freiheit"7 , denn Arbeit unterstellt autonome Zwecksetzung, welche der Ausfi.ihrung vorhergeht: Freiheit als Wahl zwischen Moglichkeiten und als bewuBtes Verandernwollen der Wirklichkeit�. Hieraus resultiert die Differenz von nati.irlichem und gesellschaftlichem Sein, sodann die Differenz von BewuBtsein und gesellschaftlichem Sein, die Scheidung von Theorie und Praxis. Beide Differenzen fuBen auf der Trennung von Subjekt und Objekt. "Diese �ewuBt gewordene Trennung von Subjekt und Objekt ist ein notwendiges Produkt des Arbeitsprozesses und zugleich Grundlage fiir die spezifisch menschliche Existenzweise. "9 Arbeit, die nicht nur gesellschaftliches Sein vom nati.irlichen Sein scheidet, sondern auch das BewuBtsein vom gesellschaftlichen Sein, produziert auch die Sprache10 . Subjekterfassung kommt ausschlieBlich dem arbeitenden Menschen zu, denn das "Phanomen der Freiheit" bleibt "der Natur vollig fremd ... ,,u. Arbeitend transzendiert der Mensch die Natur und errichtet die neue Sphare spezifisch menschlichenSeins, dasgesellschaftliche Sein. Er erwirbt die Fahigkeit, die Natur durch die bewuBte Kontrolle zu beherrschen. Die Verwirklichung teleologischer Setzungen bedarf auBerer Mittel, welche der Mensch in der auBeren Natur vorfindet. Dazu aber muB er die auBere Natur in ihren Wirkungsweisen kennen. BewuBte Teleologie im gesellschaftlichen Sein der Arbeit und blinde, weil vollig zweckfremde Kausalitat der Natur bedin-
gen sich wechselseitig, "wobei dem Solien die Funktion des iibergreifenden Moments zukommt."12 Die Herrschaft iiber die auBere, nichtmenschliche Natur begleitet die Beherrschung der inneren menschlichen Natur . "Die Selbstbeherrschung des Menschen, die notwendigerweise zuerst als Wirkung des Sollens in der Arbeit auftaucht, die wachsende Herrschaft seiner Einsich t iiber die eigenen spontan biologischen Neigungen, Gewohnheiten etc. wird durch die Objektivitat dieses Prozesses geregelt und gelenkt" 13 . Lukacs beschreibt den Fortschritt, der sein Fundament im bkonomischen hat, denn auch konsequent als "ProzeB des Zuriickweichens der Naturschranke"14 , der auBeren wie der inneren, und er schrankt ein: "die Naturschranke kann nur zuriickweichen, aber niemals vollig verschwinden"15 . Lukacs zieht hieraus die Konsequenz: "Man kann sogar sagen: der kampfvolle Weg der Selbstiiberwindung von der naturhaften Instinktdeterminiertheit bis zur bewuBten Selbstbeherrschung ist der einzig reale Weg zur wirklichen menschlichen Freiheit."16 In seiner Konstruktion des Arbeitsbegriffs beruft sich Lukacs auf Hegels 'Jenaer Realphilosophie' und das Kapitel ii ber Teleologie aus der 'GroBen Logik'. Zustimmend zitiert er Hegels Konzeption der Arbeit als Dberlisten der auBeren Natur. Diese Natur ist rein kausal, den Zwecken des Menschen vollig auBerlich. Die enge Verwandtschaft von Lukacs' Analyse der Arbeit mit Hegel kann ein Blick auf die 'Phanomenologie des Geistes' bezeugen. Hegel konstruiert Arbeit als Gestalt des SelbstbewuBtseins, als Dbergang vom natiirlichen Sein der Begierde zum geistigen Sein der Freiheit des Denkens. Durch Arbeit, welche die nattirliche Begierde hemmt, lost sich das BewuBtsein von den Fesseln der Natur und befreit sich arbeitend, zum Denken. Trotz groBer kritischer Vorbehalte gegeniiber Hegel 17 konserviert Lukacs wesentliche Elemente Hegels, insbesondere den supranaturalen Charakter der Freiheit. Er bekundet sich vor allem in der Perfektion der Herrschaft iiber eine Natur, welche dem Menschen fremd bleibt und als auBerliche nur durch Oberlistung in den Dienst menschlicher Zwecke gestellt werden kann. Auch bei Hegel erganzen sich Kausalitat und Teleologie, auBere ZweckmaBigkeit wechselseitig.
Lukacs' auBerst repressives Verhaltnis zur Natur, zur menschlichen wie zur aussermenschlichen, sperrt sich von vorphe16 TOTE

rein gegen jegliche Form einer Emanzipation der Sinnlichkeit. Mit dieser Konstruktion der Arbeit begibt sich Lukacs in Widerspruch zu Marxens Arbeitsbegriff im 'Kapital'. Arbeit, als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur genommen bleibt im Bereich des Natiirlichen. Der Mensch tritt im Stoffwechsel mit der Natur dieser als eine "Naturmacht" gegeniiber; Gesellschaftliches Sein wird Arbeit erst, wenn man die spezifischen gesellschaftlichen Formbestimmu ngen in die Analyse einbezieht. Obersinnlichen Charakter aber nimmt sie erst in der biirgerlichen Gesellschaft an, als Waren produzierende Arbeit, worin sie sich verdoppelt in konkrete, Gebrauchswerte herstellende und abstrakte, Wert produzierende Arbeit. Ein supranaturales gesellschaftliches Sein zu konstituieren, kommt allein einer bestimmten 'historischen Form der Arbeit zu, und diese Form bestimmt Marx nicht ontologisch, sie wird bei ihm Gegenstand historischer Kritik. Weil aber Lukacs diese Kritik wieder in ontologische Affirmation zuriicknimmt, muB er in seinem Freiheitsbegriff typisch idealistische, in diesem Fall Kantische Ziige konservieren und an der typisch biirgerlichen !dee der Perfektion der Naturbeherrschung festhalten.
2. Ontologie des Noch-Nicht-Seins. 1hr Kembegriff: Dunkel des gelebten Augenblicks In alien seinen Werken setzt Bloch ein mit der Frage nach uns selbst. "Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?" So hebt das Hauptwerk 'Das Prinzip Hoffnung' an. Bloch antwortet, der Mensch in der Unmittelbarkeit und Nahe seiner Existenz sei sich seiner selbst lediglich fragmentarisch bewuBt, er wisse nicht wirklich, wer er sei. Doch beruht dieses sehr unzulangliche Wissen nicht bloB auf der Ktirze me nschlicher Erkenntnis, es hat vielmehr einen objektiven Grund: die in Frage stehende Sache ist selber noch <lurch und durch unfertig. Der Mensch ist drangendes Triebwesen,
das sich selbst noch nicht hat und deshalb nach Erfi.illung hungert, und zwar zunachst wi.inschend in Gestalt von Tagtraumen eines besseren Lebens. Solche Wi.insche drangen nach Erfiillung, sie konnen aber nur wirklich werden, wenn die Welt so beschaffen ist, d� die utopisch nach vorwarts traumende Phantasie • ein Korrelat in ihr findet. Die Welt selber muB die Verfassung der Unfertigkeit haben. ProzeB sein, der fur Neues, echte Zukunft offen steht. Das objektive Korrelat in der Welt ist ein NochNicht-Sein, ein Seiendes, das sich im schlecht Vorhandenen nicht vorfindet, dessen Dasein aber in der bestehenden Welt als objektive-reale Moglichkeit angelegt ist, als Moglichkeit, die wirklich werden, aber auch scheitern kann. Das Dunkel des gerade gele bten Augenblicks, das zunachst subjektiv erfahren wird, stellt sich dar als ein objektives Dunkel der proze6haft-unfertigen Welt, als teleologischer Proze6 der Materie mit der objektiv-realen Moglichkeit des Heils der Welt im ganzen. Das heIBt fiir Bloch: das Dunkel des gerade gele bten Augenblicks ist philosophisch kein blo6 anthropologisches, sondern vor allem ein kosmologisches Problem, das Kernthema seiner Ontologie des Noch-Nicht-Seins. Welt und Mensch als Tei! dieser Welt sind primar Natur, Materie, woraus Gesellschaft als spezifisch menschliche Materie erst hervorgeht. Materialismus heiBt fiir Bloch wie fiir Engels: Erklarung der Welt aus sich selbst. Der Mensch kann sich iiber die Welt nicht erheben, er kann sie nur, soweit es in seiner Moglichkeit steht, verandern;er kann nur den gegenwartigen Weltzustand, nicht aber die Welt schlechthin i.iberschreiten, wie dies die traditionelle idealistische Philosophie von Platon zu Hegel unterstellte. Diese Bewegung nennt
Bloch Tranzendicren ohne Tranzendenz. Deshalb kann der Mensch auch nur in der
Totalitat seines Weltverhaltnisses verstanden werden: der Mensch als Frage - die
Welt als Antwort, die Welt als Frage der Mensch als Antwort. Deshalb bedarf die Frage nach dem Menschen, nach dem gesellschaftlichen Sein der ontologischen Erweiterung seiner Theorie des
Endzwecks der Welt, der teleologischen
Werdemoglichkeit der Materie.
Dennoch wahrt Bloch das Primat gesellschaftlicher Praxis, die gesellschaftliche
Utopie bleibt fiir ihn die praktisch wichtigste, weil aktuellste - in Sachen Praxis sei er nach wie vor Ptolemaer, versichert Bloch. Selbstverstandlich ist fiir ihn das vorrangige Subjekt, sowohl theoretisch wie praktisch, der Mensch, der arbeitend seine Geschichte erzeugt. Doch, wendet Bloch ein, darfNatur nicht auf blol�es beherrschbares Arbeitsmaterial reduziert werden. Als das Dberwolbenden, Allumfassende ist sie mehr als das, Wohnstatte des Menschen, die Heimat werden kann. Hier greift Bloch Marxens Formel von der Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur auf und gibt ihr eine Bedeutung, die weit iiber Marx hinausgeht. Nach Blochs Auslegung bedeutet diese Formel: der Mensch befreie sich aus aller Fremdheit der auBeren Natur, und die Natur selber konne von sich aus sich menschgemaBen Formen nahern, so das die Natur in ihren produktiven Moglichkeiten entbunden wird. Der biirger!ichen List - und Herrschaftstechnik, die auch Lukacs verficht, stellt Bloch die Utopie einer Allianztechnik entgegen, die nicht auf Entfesselung der Produktivkrafte um jeden Preis setzt, sondern diese in den Dienst der Lebensbedi.irfnisse der rMenschen stellen will. Dies veranlaBt Bloch, eine teleologische Mitproduktivitat der Natur anzunehmen, ein mogliches Subjekt der Natur zu vermuten, eine natura supernaturans. Diese Hypothese offnet Bloch den Blick fiir Naturbilder nicht-technischer Art, mythische und asthetische. Bloch weiB sich mit Lukacs einig, d� Dialektik im SubjektObjekt-Verhaltnis zu verankern ist, er akzeptiert' indes die Reduktion des Subjekts auf den Menschen nicht. Die Annahme eines hypothetischen Natursubjekts gestattet ihm auch von einer Uialektik der Natur zu sprechen, die Lu!<:acs gerade leugnet, auch im Spatwerk. Sie fuBt auf der utopischen Offnung des Verhaltnisses des Menschen zur Natur: Freiheit basiert nicht auf der Beherrschung einer fremden Natur, sondern auf der Versohnung mit einer total vermenschlichtcn, heimisch gewordenen. Mit der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft ist fiir Bloch die letzte utopische Zielintention noch nicht erfiillt. Die starkste Nicht-Utopie, woran menschliches Wiinschen letztlich abprallen muB, ist der Tod, der auch in der klassenlosen Gesellschaft noch ein Ratsel bleibt, und zwar Tod nicht nur als ein individuelles Problem des Lebensendes, vielmehr ebenso als kosmisches Problem des Warmetods des Weltalls. Das Dunkel des gelebten Augenblicks zeigt an, d� die Existenz, das DaB, utopische Wesen, das Was, noch nicht gefunden hat. In auBerster spekulativer Konstruktion deutet Bloch den Tod ontologisch als Signum der unzulanglichen Vermittlung von Erscheinung und utopischem Wesen, so d� die vollkommene Lichtung des dunklen Augenblicks zusammenfallt mit dem Sieg iiber den Tod. Erst dann wiirde wirklich Quid pro Quod existieren, das DaB hatte dann erst sein adaquates Was gefunden. Diesen absolut erfi.illten Augenblick beschreibt Bloch als absolute ldentitat, worin der ProzeB vollendet und stillgelegt, als Substanz, die ganz und gar Subjekt geworden ist. Bloch versucht hier, die Hegelsche spekulative Identitat in den utopischen ·Materialismus hiniiberzuretten. Genau hier transzendiert Bloch seine materialistische Losung des Transzendierens ohne Transzendenz: Utopie wird abstrakt, und zwar derart, d� sie sich nicht mehrverweltlichen laBt. B!ochs Materialismus iiberschlagt sich, formal schlie6t er kurz zum Zirkel, und material stellt die Utopie der Unsterblichkeit keine Moglichkeit dar im Sinn partialen Bedingtseins, das Unbedingte kann per Definitionem gar nicht -partial- bedingt sein. Die erste Fassung der eingangs zitierten "Erinnerung", die sich in der ersten Auflage der Essaysamrnlung 'Durch die Wiiste' findet, schlieBt mit dem Satz: "Die Welt ist eine pu,re Nachtwolke, die sich sogleich in Tau aufloste, ware nur erst die rechte Sonne gekommen" 1g Er freilich ist in den 'Spuren' verschwunden.
Anmerkungen
1 Ernst Bloch, Spuren, Gesamtausgabe Suhrkamp, S. 190 2 Georg Lukacs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die Arbeit, Sammlung
Luchterhand 92, Neuwied und Darmstadt 1973, S. 5 3 a.a.O., S. 9 4 a.a.O., S. 13 5 Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 192 6 a.a.O., S. 193 7 Lukacs, Die Arbeit, S. 134 8 vgl. a.a.O., S. 135 9 a.a.O., S. 36 10 a.a.O., S. 120 ff. 11 a.a.O., S. 135 12 a.a.O., S. 84 13 a.a.O., S. 90 14 a.a.0., S. 29 15 a.a.O., S. 47 16 a.a.O., S. 158 1 7 vgl. Georg Lukacs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hegel, Sammlung •
Luchterhand 49 18 Ernst Bloch, Durch die Wiiste. Kritische
Essays, Berlin 1923, S. 159