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INTERVIEW

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MIT MUSIK UNSERE WELT FORMEN

VON CHRISTIAN FLURI Helena Winkelman, ausgezeichnete Violinistin und Leiterin des Kammerensembles Camerata Variabile, gehört auch zu den wichtigen Komponistinnen der Schweiz. Ihre Werke vereinen Einflüsse vom Barock über Jazz, Rock und unterschiedliche Volksmusiken bis zur Spektralmusik. Darauf aufbauend hat die Komponistin eine musikalische Sprache von grosser Vitalität entwickelt. Wir sprachen über ihr neues Konzert Gemini für zwei Violinen und Orchester.

CF Sie schreiben im Auftrag des Sinfonieorchesters Basel ein Doppelkonzert für zwei Violinen und Orchester.

Mitten in Ihrer Arbeit verbreitet sich das Coronavirus in der ganzen Welt.

Lange ist nicht klar, ob Ihr Werk Gemini Anfang September uraufgeführt werden kann. Wie ist es, mit solcher Ungewissheit umzugehen? HW Als die Frage nach einer eventuellen Verkleinerung des Orchesterparts auf ein Kammerensemble aufkam, war das ein sehr schwieriger Moment; denn in mei nem Schaffensprozess wirken intellektuelle Planung und musikalische Intuition eng zusammen. Mein Unterbewusstsein ist wie ein Prozessor, den ich mit Gege benheiten füttere. Da führt jeder Wunsch nach einer so grundlegenden Änderung zu einer kreativen Blockade. Ich bin sehr glücklich, dass es nun trotz Sicherheits vorkehrungen eine Orchesterbesetzung mit 45 Ausübenden sein darf. Das Stück kann nun wie angedacht aufgeführt werden. Aber die ganze Situation um das Virus findet in der Komposition schon ihren Niederschlag. Normalerweise ist meiner Musik trotz Doppelbödigkeit auch viel Lebensfreude eigen – nicht zuletzt durch die Volksmusik und Tanz-Elemente. Doch im ersten Satz von Gemini findet sich durchaus ein ehrlicher Ausdruck der angespannten Situation.

INTERVIEW

Wie entwickelt sich Ihr neues Werk Gemini?

Das Konzert besteht aus zwölf kurzen Szenen: Jede ist eine Studie möglicher Interaktionen zwischen zwei Menschen. Darauf Bezug nimmt auch der Titel Gemini (Zwillinge). Beide Solisten bekommen einen Schlagzeuger als Sekundanten zur Seite gestellt, der sich mit ihnen durch das inszenierte Stück bewegt. Die ersten vier Szenen sind von kosmischer Dimension: In Universes apart stehen die beiden So listen weit auseinander hinten im Orchester. In Quarks bewegen sie sich musikalisch absolut synchron, und in Magnets nähern sie sich einander langsam an. Die vierte Szene, Binary Stars, nimmt Bezug auf Doppelsternsysteme, der Schwung der Sonnen durch das All wird zum Swing in der Musik.

Die nächsten vier Szenen bilden eine Romanze. Let’s get drunk together (ein Ausspruch Strawinskys) inspiriert einen beschwipsten Walzer. Ein (in Corona-Zeiten skandalöses) Tête à tête folgt, und bei In the eye of the beholder rufen sich die Solisten wie Vögel zu, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Die vierte Szene heisst Parallel parking – und alle die den Ausdruck verstehen, erwarten darin zurecht den aufregendsten Teil der Romanze.

«Ich denke beim Schreiben von Gemini ständig an Patricia und Pekka.»

Die letzten vier Szenen bringen Elemente moldawischer, finnischer und schweizerischer Volksmusik und sind damit eine Hommage an die Liebe beider Solisten zur Volksmusik ihrer Herkunftsländer. Beginnend mit Battleships (Schiffchen versenken) geben die Solisten dem Orchester immer schwierigere Aufgaben, bis dieses scheitert. Partners in crime spielt mit der Verbundenheit beim gemeinsamen Pferdeklau, und Horsing around ist eine waghalsige Kadenz. Im Finale Cutting to the chase kommt es mit einem Quodlibet zum Showdown der Volksmusikmelodien.

HELENA WINKELMAN 20

Ist es für Sie als Geigerin leichter für

Violinen als Soloinstrumente zu schreiben?

Es ist nicht schwer. Ich weiss, wo die technischen und expressiven Grenzbereiche des Instruments sind und kann so meinen beiden Lieblingsgeigern etwas geben, das ihren Stärken entspricht.

Sie kennen beide Solisten gut, schreiben Sie die Soloparts speziell für die beiden Persönlichkeiten?

Ich denke beim Schreiben von Gemini ständig an Patricia und Pekka. Die beiden sind sehr unterschiedliche Charaktere – doch worin sie sich gleichen ist die enorme Energie. Beides eröffnet ein ungemein dankbares Spannungsfeld für einen Komponisten.

«Was wäre, wenn viel mehr als wir denken von unserer Kreativität und Vision abhängig wäre?»

Sie sagten einmal, am Anfang Ihres

Komponierens stehe ein Klang ...

Ich hatte beim Finden meiner kompositorischen Sprache eine wichtige Einsicht: die, dass es gar nicht so einen grossen Unterschied zwischen Komponierenden und Nicht-Komponierenden gibt. Im Grunde tun wir das Gleiche. Als Komponist gilt es, Tausende von Entscheidungen zu Inhalt und Material des Werks zu treffen, die alle Einfluss nehmen aufeinander. Es entwickelt sich im Idealfall daraus ein komplexes Netzwerk, das als Ganzes Sinn macht.

Genauso gilt es, im Leben Entscheidungen zu treffen, entlang derer sich der eigene Weg entfaltet. Jedes Detail ist wichtig, die Gründe sind wichtig, alles beeinflusst sich gegenseitig. Das ist eine oft überwältigende Aufgabe. Als Komponisten halten wir quasi eine Lupe über diese Entscheidungsprozesse. Wir zeigen im Idealfall, dass es möglich ist, eine gute Wahl zu treffen. Ich möchte hier der oft geäusserten Ansicht widersprechen, dass die Kunst dazu da ist, das Leben zu interpretieren, zu reflektieren und es zu ver

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