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Vorgabe – MF
Vorgabe I
Lieber Walter Als wir am Abend des 29. November das SLA verliessen, hast Du, vermute ich, in Bezug auf die Beschwörung dasselbe empfunden wie ich: Die Lichter aus und alle Fragen offen. Ich möchte im Folgenden nicht diese Fragen definitiv beantworten und so das Dossier über Raebers Zyklus schliessen, sondern gemeinsam mit Dir vielmehr versuchen, sie so weit wie uns möglich zu öffnen und auf diesem Weg das Feld zu entwerfen, auf dem die Verse sich miteinander gegen ihre Deutung mit ihr verschwören. Vers für Vers, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe.
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– Aber wir wollten eine – Drei Lesarten je nach Betonung: (a) ‹Aber wir wollten eine› antwortet auf einen Einwand, der ausserhalb des Gedichts liegt. (Ob ausserhalb des Zyklus, ist eine andere Frage.) (b)‹Aber wir wollten eine› spricht ein Ich-Du an. Kann sein, tatsächlich ein Paar zweier Individuen, kann sein, das sich in sich reflektierende Ich, das Zwiedenken und Zwiesprache mit sich hält, Ego und Alter Ego. (Ich entscheide mich vorläufig für diese Lesart.) (c) ‹Aber wir wollten eine› legt den Nachdruck auf die Absicht, den Wunsch, das Begehren, die offenbar bis zur Präsenz dieses Verses unverwirklicht geblieben sind, sich also als «ohnmächtiges Wollen» erweisen, um mit Hegel zu sprechen.
‹Aber wir wollten eine›… irgendeine? Eine von vielen möglichen? Oder eine einzige ganz bestimmte einzigartige, die es nur einmal geben kann? – Kugel machen zusammen – Eine Kugel also. Wie die Gewehrkugel? Wie die Kegelkugel? Wie die Erdkugel? Eine Kugel, die alle ihr möglichen Nomina anzunehmen bereit ist? «zusammen». Ich und Du. Ego et Alter Ego. Aber keines von beiden allein. Weder Ich noch Du, weder Ego noch Alter Ego. Nur Wir.
MF – 18.12.2017
I: 1
I: 2
I: 3 – geschlossen spiegelnd – Zwei Lesarten: (a) ‹geschlossen, spiegelnd›. Also additiv, zwei Adjektive aufzählend. (b)‹geschlossen spiegelnd›, nämlich nur als geschlossene spiegelnd, als Totalität total reflektierend. Da ist keine Stelle, die nicht Bild gibt.
Corollarium I – Meiner Lesart nach symbolisiert die Kugel die Kunst; hier, versteht sich, die Literatur als Kunst. Sie entsteht durch konsistente und konsequente Trennung von der Realität, was zunächst an Schillers Konzept von der «strengsten Separation» zwischen Kunst und Realität erinnert.1 Aber nur auf den ersten Blick. Der zweite zeigt, dass hier nirgendwo Strenge herrscht, sondern nur geduldig gewaltfreie Reflexion, in der die Kunst zwar nicht unmittelbar das Resultat rückspiegelnder Reflexion ist, diese Reflexion aber die Bedingung ihres Werdens ausmacht. Separation? Eher eine Grenze, die auf ihre Überschreitbarkeit hinweist und darin das Überschreitende markiert. Die Beziehung zwischen Kunst und Kugel hat in der Literatur ihre Geschichte. Ich führe hier zwei Beispiele an, auf die ich ohne längere Nachsuche gestossen bin; sie liessen sich gewiss vermehren. (a) Goethes Gedicht Lied und Gebilde aus dem West-östlichen
Divan mündet in die Pointe: «Schöpft des Dichters reine
Hand / Wasser wird sich ballen.»2 Zur Kugel nämlich. (b) «Der Künstler hat lauter Kugel-Gestalten im Kopf, der gewöhnliche Mensch lauter Dreiecke.»3 Bei Raeber selber spielt die Kugel in Das Ei eine wesentliche Rolle; ein Tagebuch-Eintrag Raebers weist ihr die Aufgabe zu, «auch das Scheusslichste und Ekelhafteste in die Harmonie des
WA 3, 516 f.
1 Friedrich Schiller an Herder, 4.11.1795; Nationalausgabe der Werke und
Briefe, Bd.28, hg. von Norbert Oellers. Weimar 1969, S. 98. 2 J.W. von Goethe, West-östlicher Divan, Buch des Sängers: Lied und Gebilde;
Krit. Ausg. der Gedichte mit textgeschichtlichem Kommentar von Hans
Albert Maier. Tübingen 1965, S. 22. 3 Friedrich Hebbels Tagebuch, Wien 1861; Werke in 5 Bdn, hg. von Gerhard
Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, Bd.5. München 1967, S. 296.
Ganzen einzufügen». Und ist nicht die Ellipse die nächste Verwandte der Kugel? Ausserdem bietet sein Gedichtband Reduktionen zwei Vorformen der Kugel, die hier beschworen wird: Gläserne Kugel und die Schluss-Strophe des Gedichts Glück:
Zurück- und hereinzurufen und gleich / gespiegelt auf der Schale der Kugel / die Ferne die Nähe. «Inwendige Wildnis für dich / und für mich inwendige Zuflucht»: Nicht bloss innere; inwendige, von der Rückseite der Reflexion nach innen gewendete, inwandige. «Wildnis» – «Zuflucht», aus widersprechenden Bestimmungen bestehend, bilden doch einen Gegensatz, oder nicht? Hier werden sie (wie schon in der zweiten Strophe) mit einem schlichten «und» verbunden, als ständen sie einander nur additiv und nicht konträr gegenüber. Meiner Lesart nach tun sie beides zugleich: Das Konträre beruhigt sich im Additiven, das Additive profiliert sich im Konträren. Ich schlage vor, dieses Verhältnis ‹komplementär› zu nennen, und nehme folglich an, Komplementarität sei die Basis-Kategorie von Raebers Kunst- und Literaturverständnis. Fazit: «eine ‹solche› Kugel / für dich und für mich / wollten wir machen».
Corollarium II – «Wollten». Aber haben wir – Du und ich, Ego et Alter Ego – sie nicht eben gerade gemacht? In den Versen des Gedichts, das mit diesen Versen endet? Als die Kugel, die wir haben machen wollen, aber nicht haben machen können? Was doch wohl bedeutet: Die Kugel, durch die und aus der Präsenz des Gedichts hergestellt, hat die Form und die Bestimmung ihrer vergeblichen Vergangenheit. (Was für die Literatur als Kunst heissen würde: Ihre Gegenwart hat stets die Gestalt ihrer darin vor- wie ver-gehenden Vergeblichkeit. Was meiner Auffassung nach von Raebers Werk – Lyrik wie Prosa – in globo bestätigt wird.)
Für die Angemessenheit dieser Lesart meine ich im Metrum ein weiteres Indiz zu finden. – Strophe 1, Exposition: freie Verse in unterschiedlicher Hebungszahl mit freier Füllung. Strophe 2, Durchführung: Verse 9–14 dreihebige Trochäen
WA 1, 221 WA 1, 257
I: 17/18
I: 19–21