
4 minute read
1.2 Primärquellen und Sekundärliteratur
Philosoph25 war. Karl Jaspers war mir zum ersten Mal im vierten Jahr meines Studiums begegnet. Der Arzt im technischen Zeitalter (1986), Geburtstagsgeschenk einer Freundin, stellte meine erste Jaspers-Lektüre dar. Schon damals ahnte ich, welche Bedeutung dieses Buch für mich haben würde. Es erweckte in mir ein früheres Interesse an Philosophie aus dem Dornröschenschlaf. Dadurch angeregt, setzte ich mich aus einer neuen Perspektive mit der Medizin auseinander. Kritische Vorbehalte, die in der Beobachtung von gestressten Ärzten im durchökonomisierten Klinikalltag und in der Begegnung mit frustrierten Patienten, die sich als Ware degradiert fühlten, ihre Grundlage hatten, erhielten ein tieferes Fundament. 26 Die « Idee des Arztes» bestärkte mich in der Notwendigkeit eines ärztlichen Ethos.27 Nie betrachtete ich den Arztberuf als einen blossen « Job», sondern immer auch als eine Berufung.
Die Thematik, die im Folgenden entwickelt werden soll, hat somit wesentlich mit meinen Erfahrungen als junger Arzt, aber auch als Mensch zu tun. Meine Gedanken sind auf der einen Seite die Frucht des Studiums ausgewählter Werke von Karl Jaspers, die in den letzten Jahren mein Denken entscheidend geprägt haben, und auf der anderen Seite ein Reflex langer Gespräche mit Lehrern und Freunden.28
Advertisement
1.2 Primärquellen und Sekundärliteratur
In der vorliegenden Arbeit werden diverse Aspekte beleuchtet, die es erlauben, die einzigartige Interaktion zwischen Jaspers’ Krankheit und seinem Fühlen, Denken und Erleben nachzuvollziehen und davon ausgehend seine Überlegungen zur Arzt-Patienten-Beziehung zu verstehen. Für die Literaturarbeit bedeutet dieses breit angelegte Vorhaben eine Einschränkung. Gerade die Betrachtung von Sekundärliteratur muss zu Gunsten von Originalschriften Jaspers’ hintangestellt werden. Und auch hierbei kann trotz des Bemü-
25 Dissertation über Der Begriff der psychischen Krankheit in transzendental-philosophischer Sicht (1988). 26 Vgl. Jaspers, Der Arzt im technischen Zeitalter. 27 Vgl. ebd., S. 44. 28 Die Einführung ist bewusst auch mit einer persönlichen Note versehen, daher der streckenweise narrative Stil. In den folgenden Kapiteln bewahre ich die notwendige wissenschaftliche Distanz.
hens um die Berücksichtigung aller wesentlichen Schriften kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen.
Für die Kapitel 2, 3 und 4 spielen autobiographische Schriften eine wichtige Rolle. Im Sammelband Schicksal und Wille (1967) stellt die Krankheitsgeschichte (1938) die zentrale Schrift dar, da darin die relevantesten Daten zu seiner Krankheit zu finden sind. Ausserdem sind aus demselben Band Karl Jaspers – Ein Selbstporträt sowie Elternhaus und Kindheit (1938) für die Kapitel 2 und 3 von Belang. Die Philosophische Autobiographie (1977) bildet eine weitere Quelle. Die historische Bedeutung Karl Jaspers’ für die Psychiatrie beleuchtet Burkhard Gäbler im Aufsatz Karl Jaspers als Initiator des geisteswissenschaftlichen Denkens in der Psychiatrie (1990/1991). Für den Abschnitt 2.3 dienten Jaspers’ Einführung in die Philosophie (1950) und sein existenzphilosophisches Hauptwerk Philosophie (1932) als Grundlage. Erläuterungen aus der Biographie Karl Jaspers (1970) von Hans Saner wurden ebenfalls hinzugezogen.
Eine systematische Analyse der Krankheit Jaspers’ hat bislang nicht stattgefunden. Wichtige Einsichten lieferten die Biographie Karl Jaspers (1970),29 aber auch der Aufsatz Sterben können (1973).30 Die Wechselwirkung zwischen Krankheit und Philosophie ist in dem Artikel Krankheit als Symptom und Chiffre (2011) des französischen Philosophen Jean-Claude Gens diskutiert worden. Er vertritt die Auffassung, die Krankheit könne wegen der ihr inhärenten Grenzsituation des Leidens als Signum verstanden werden, um zur Existenz vorzudringen, aber wegen der Möglichkeit ihrer Verdrängung gleichzeitig auch als Mittel zur Verschleierung dienen ( zum Verständnis von Signa und Grenzsituationen siehe Abschnitt 2.3).31 Zu einem anderen Urteil kommt der Neurochirurg Arnaldo Benini in seinem mit vielen Zitaten belegten NZZ-Artikel Krankheit als Grenzsituation (2011):
Dass Jaspers die Kraft fand, mit höchster Intensität zu leben und zu arbeiten, verleitete ihn weder zu Trostpredigten noch zu verlogenen Lobgesängen auf ein brutales und ödes Leben. Vielmehr respektierte und verstand er jemanden, der in einer Situation, wie er sie selber erlitt, den Sinn des Lebens bis zur äussersten Konsequenz in Frage stellte. Der Suizid war ihm im Extremfall die Ermöglichung der Freiheit. Er
29 Vgl. Saner, Karl Jaspers, S. 12, 17, 18, 23, 64–68. 30 Veröffentlicht in Erinnerungen an Karl Jaspers (1973). 31 Vgl. Gens, Krankheit als Symptom und Chiffre.
hat ihn für sich selbst verworfen und stattdessen das Leben als unheilbare Krankheit gewählt.32
Im Abschnitt 3.3 zur Betrachtung der « Krankheit aus heutiger Perspektive» greife ich auf aktuelle empirische Literatur zurück, in denen die wahrscheinlichsten Differentialdiagnosen von Jaspers’ Krankheit – die Primäre Ziliäre Dyskinesie, die Cystische Fibrose, Immundefekte und die Allergische Bronchopulmonale Aspergillose – diskutiert werden.33 Sein Tagebuch von 1901 bis 1907, das im Jahrbuch der Österreichischen Karl Jaspers Gesellschaft (1996/1997) unter dem Titel Studium 1901–1907. Teil 1 und 2 veröffentlicht wurde, gibt uns vor allem Einblicke in das Erleben der Krankheit ( siehe Abschnitt 4.1).
Bei der Betrachtung der Arzt-Patienten-Beziehung im letzten Kapitel dieser Arbeit beziehe ich mich hauptsächlich auf das letzte Kapitel Das Ganze des Menschseins der Allgemeine Psychopathologie (4. Auflage, 1946) und auf das Sammelband Der Arzt im technischen Zeitalter (1986). Für das Verständnis der « Grenzen der Medizin» (siehe Abschnitt 5.1.1) ist Jaspers’ Kritik der Psychoanalyse entscheidend. Im obengenannten Sammelwerk findet sich dazu der Aufsatz Zur Kritik der Psychoanalyse (1950). Eine ausführliche Untersuchung zu Jaspers’ zunehmender Abneigung gegen die Psychoanalyse findet sich im Werk Lebensführung in der Moderne (2002) vom deutschen Medizinethiker und Leiter des Karl Jaspers-Hauses in Oldenburg, Matthias Bormuth. Für die Erklärung des Verstehensbegriffes ( siehe Abschnitt 5.1.3) werden erneut die Allgemeine Psychopathologie (4. Auflage, 1946) sowie der Aufsatz Zur Typologie des Verstehens bei Karl Jaspers in ihrer Bedeutung für Medizin und Psychiatrie von Dietrich von Engelhardt herangezogen. Der Arzt-Patienten-Beziehung bei Karl Jaspers ist ansonsten wenig Beachtung geschenkt worden, obwohl das Thema seit den 1990er Jahren ein verstärktes Interesse findet, gerade in der psychotherapeutischen Forschung, wie im Folgenden darzulegen ist.
32 Benini, Krankheit als Grenzsituation. 33 Die entsprechenden Papers sind im Abschnitt 3.3 sowie im Literaturverzeichnis aufgeführt.