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Gedanken über mich, vorweg

Grösseres wolltest auch du, aber die Liebe zwingt

All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger, Doch es kehret umsonst nicht

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Unser Bogen, woher er kommt.

Hölderlin:«Lebenslauf»

Wollte ich Grösseres?Und wurde ich durch Leid gebeugt?Niedergezwungen durch Liebe?Ja, so könnte ich mein Lebenauch sehen. Aber … und nochmals aber … Ein mir befreundeter Autor hatte mich mit der Obszönität des Fragens bekannt gemacht. Trotzdem fragte er einmal brieflich:Wann kommt dein opus maius?Eskam nicht, das Buch mit meinem eigenen Weltentwurf. Es fehlte mir die Kraft, ich hatte den Weltentwurf auch nicht im Kopf. Vereinzelt gab es das noch in der Philosophie, dass jemand ein mehrbändiges System gebar. Was einem aber insgesamtananspruchsvollen Werken auf den Tisch flatterte, bot sich zunehmend – wie die Welt selbst – nur noch als Fragment dar. Und für Dokumente weitgehenderer Ansprüche hatte ich bald auch kein Ohr mehr.Trotzdem: Ich wollte wohl Grösseres, aber doch nur schwach, zu schwach.

Vonschwerem Leid, wie es sehr viele Menschen jeder Generation durchmachen müssen, bin ich nicht heimgesucht worden. VomLeiden im Denken wohl, allerdings erst spät. Früher stiess ich auf das Erleiden, auf das Widerfahrnis, ohne das es keine Erfahrung gibt, auf das pathische Moment der Erkenntnis. Wie kommt Erfahrung zustande?Anderen Anfangund Grund wird etwas erlitten: Eine Empfindung überfällt mich, Eindrücke prasseln auf mich herab, jemand spricht mich unversehens an. Gewiss muss ein solches Erleidnis zu Erfahrung verarbeitet werden, aber der Anstoss ist wesentlich,wenn er auch im Resultat untergeht. Vieles, was zustösst, «beuget gewaltiger», als es tragische Liebe tut. Das ist wohl die individuelle Leiderfahrung Hölderlins und doch weitaus mehr. Spät erst in meinemLeben habe ich mich zur theologischen Entsprechung durchzudenken versucht:zum Gedanken der Menschwerdung des göttlichen Logos, der im Menschsein seine Schwachheit erfährt. Die Liebe zu den Menschen zwingt ihn nieder, der Logos wird zum Wort vom Kreuz. Mit abgründigen Folgen.

Ich glaube an die Veränderungen im Leben, die so wunderbar ineinandergreifen, dass aus den Teilen schliesslich ein Ganzes wird, ein Mensch und ein Leben.

Sandro Marai:«Die Gräfin von Parma»

Mein Blick auf das Ganze meines Lebens begann sich am 8. April 2017 zu öffnen. Es war der Tag, an dem ich meinen, einen knappen Monat zurückliegenden 80. Geburtstag bei meiner SchwesterIrmtraut in deren Leipziger Wohnung im Kreis von Angehörigenfeierte. Erste altersbedingte Ermüdungserscheinungen hatten mich schon vorgängig dazu bewogen, über den Verlauf meinesLebens nachzudenken und es mir versuchsweise in seiner Gänze zu vergegenwärtigen. Gab es etwas, was sich in ihm bei allem Auf und Ab durchgehalten hatte?Waren Zäsuren auszumachen, die in ihren Auswirkungen über die gewöhnlichen Einschnitte zwischen den Lebensaltern hinausgingen?Ineiner kleinen Rede gab ich das erste Resultat solcher Überlegungenpreis:Der Verlauf meines Lebens wurde wesentlich durch vier Ereignissebestimmt:das frühe Verlassen des Elternhauses in Gestalt der Flucht aus der DDR nach Westberlin (1953), der zunächst nur als Wechsel des Studienorts für ein Jahr geplante und dann definitiv werdende Umzug nach Zürich in die Schweiz (1959), die Promotion zum Dr. phil. (1968), die Ernennung zum ordentlichen Professor der Philosophie (1985). Jedes dieser Ereignisse markierte einen Einschnitt und eröffnete eine neue Lebensphase. So weit, so trocken.

Schon 2017 empfand ich das Bedürfnis, auch der inneren Seite meinesLebens gerecht zu werden, also autobiographischdie für mich prägenden Ereignisse und Erfahrungen auszumachen. Einen Entwicklungsroman zu schreiben, beabsichtigte ich allerdings nie, ebenso wenig meine Lebensgeschichte in eine kunstvolle literarische Form zu bringen. Doch was bot sich für die Ausfüllung jenes äusseren Rahmens an?Zunächst einmal aus meiner Kindheit das, was ich siebenund achtjährig im letzten Kriegsjahr durchlebte.Esgerann noch nicht zu einer bewussten Erfahrung. Dass es mir bis heute in Einzelheiten bewusst geblieben ist, deutet aber wohl darauf hin, dass es im Unterbewusstsein präsent blieb.Ein in mein Lebeneinschneidendes Geschehnis stiess mich, gerade 16 geworden, in die Erfahrung, aus familiärer Geborgenheit in die totale Verunsicherungherausgerissen zu werden. Die lebensgeschichtliche Bezugnahme auf solche Grossereignisse war allerdings nur für meine Kinder- und Jugendjahre möglich – ganz einfach, weil es Gott sei Dank später daran mangelte. Dafür gab es bedeutsame Erfahrungen des Glücks wie des Scheiterns. Und ich erlebteÜberraschungen, das heisst unerwartete Begebnisse, die ich heute zum Teil als Glücksfälle, zum Teil als Konsequenz mutigenErgreifens eines günstigen Moments betrachte. Über einen langen Zeitraum hin verlief mein Leben, als es auf einer tragfähigen Basis angekommen war, aber auch gleichförmig und wenig aufregend, so in den Jahren meiner Professur. Statt auf Wundersames stellt meine Darstellung hier auf jene Themen ab, die mich wesentlich beschäftigten, aufgelockert durch Episoden, mit denen schon das akademische Reden und Schreiben selbst Farbe bekommen hatte.

Fand ich bei dieser Arbeit etwas, was mir den Sinn meinesLebens eröffnete, nach dem man so gern in bedrohlichen Situationen zu fahnden scheint?Meine Frage ging und geht eher darauf, ob über mein Leben hin Spuren eines Unverfügbaren,wie man in meinerStudienzeit sagte, auszumachen sind, in religiöser Sprache:Spuren göttlicher Einwirkung.Dafür steht in der nun aus ihren Anfängen entfalteten Geschichte meinesLebens das Wort Wunder. In eine ähnliche Richtung, wenn auch bescheidener und subjektiver, weist die Beobachtung, an dem einen oder anderenPunkt meines Lebens einen Kairos gehabt zu haben, einen günstigen Moment,den zu ergreifen ich auch den Mut fand.

Wenn es schliesslich bei einer chronologischen Gliederung nach Lebensabschnitten gebliebenist, so zeichne ich doch im letzten Kapitel im Blick auf meine religiöse Orientierung einen Bogen über das Ganze meines Lebens. Keinen runden Bogen,gewiss nicht. Eigentlich gar keinenBogen, sondern eine gebrochene Linie, die diese 85 Jahre durchzieht. Sie führt vom Pfarrhaus durch mein Theologiestudium, verblasst – ohne abzubrechen – für den Philosophen fast bis zur Unkenntlichkeit und wird in den letzten 15 Jahren zur Leitlinie. Der Epilog bringt nochmals ein – wenn auch ganz anderes – Wunder als das Kapitel zu meiner Kindheit zur Sprache.

Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten Hilde Domin

An zwei Stellen meiner Lebensgeschichte verwende ich das Wort Wunder,am Anfang und am Ende:für ein Ereignis in meiner Kindheit und für ein Ereignis im Alter von 80. Die beiden Ereignissehaben je einen ganz eigenen Charakter, sodass ihre Kennzeichnung als Wunder kaum auf etwas ihnen Gemeinsames verweist. Das erste Ereignis, meine und meiner ganzen Familie Errettung im September 1944, ist mir mein ganzes Leben hindurch unzweifelhaft als ein Wunder erschienen. Meine Eltern sprachen ganz selbstverständlich von göttlicher Behütung. Mir ergab sich aus der Erinnerungandas frühe Ereignis, auch für anderes Wundersames in meinem Leben ein offenes Ohr zu haben. Gewissermassen für die kleinen Wunder,für die es immer auch Erklärungen gab, bei denen man nicht Gott bemühen musste, ich aber doch den Anflug eines göttlichen Parfums verspürte – so wie mir, zufällig an einem alten Zürcher Abbruchhaus vorbeigehend, der Geruch der Verkleidungder durch die Bombe freigelegten Balken unseres Ruhländer Hauses durch die Nase stob.

Aller kritischen Vorbehalte überdrüssig nehme ich im Epilog das Wort Wunder wieder vollmundig in Anspruch, wenn auch im Wissen, dass das Wunder einer späten Liebe von vornherein nicht den Charakter eines als Wunder zu beglaubigenden Geschehnisses hat. Man braucht ihm nur «leise wie einem Vogel die Hand hinhalten»,umsich von einem wandernd vorbeigehenden Zeugen eines Kusses als von einem Engel angesprochen zu finden.

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