Stadtforschung Statistik - Ausgabe 1/2016

Inhalt

Stadtforschung

Schwerpunkt

Heft 1 | 2016

65 Die Erforschung von Wohnwünschen und ihr Beitrag zur Reurbanisierungsdebatte Philip Engler

Moderation: Hartmut Bömermann 2

Big Data als neuer Weg der Datengewinnung für die amtliche Statistik Susanne Schnorr-Bäcker

11 Potenzial und Nutzung von digitalen Geodaten für die Stadtforschung und Stadtraumbeobachtung Tim Elrick 19 Starting by Starting! Fortschritt im europäischen Open Data Strategieprozess durch das neue Europäische Datenportal Silke Cuno, Matthias Flügge, Benjamin Dittwald 23 Umweltqualität und Umweltgerechtigkeit – Zur Kombination von Internetdaten und Statistikinformationen am Beispiel der Wissenschaftsstadt Darmstadt Günther Bachmann 27 Anwendungsreif? Nutzung und Potenzial von digitalen Geodaten für Stadtforschung und Raumbeobachtung am Fallbeispiel OpenStreetMap Matthias Plennert 35 Datenjournalistische Nutzung üblicher und unüblicher urbaner Daten Michael Hörz 43 Wohnungsmarktanalyse mit Daten von „ImmobilienScout24“ Patrick Hausmann und Arndt von Bodelschwingh 53 Städtische Büros für Statistik und Stadtforschung – zur Umsetzung einer Open Data-Politik gut gerüstet.

Eine Fallstudie zu Helsinki Region Infoshare Asta Manninen 59 Datenschutz im Zeitalter von Big Data. Wie steht es um den Schutz der Privatsphäre?

Alexander Dix

Statistik und Informationsmanagement 72 Studierende in der Wissenschaftsstadt Darmstadt Günther Bachmann 79 Die KOSIS-App – eine Applikation zur Darstellung kleinräumiger Städtedaten für unterwegs!

Andreas Gleich, Benedikt Unger und Michael Fendt

Historie 86 100 Jahre Statistik in der Stadt Ludwigshafen am Rhein Werner Appel

Entdeckt 94 Rezension: Kinderarmut in Deutschland 95 Buchvorstellungen: - Shell Jugendstudie – Das Standardwerk der Jugendforschung in Deutschland - Zensus Kompakt – Endgültige Ergebnisse des Zensus 2011 - Reurbanisierung in baden-württembergischen Stadtregionen - Flüchtlinge und Asylsuchende – Aktuelle kommunale Fachliteratur

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

1

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Susanne Schnorr-Bäcker

Big Data als neuer Weg der Datengewinnung für die amtliche Statistik

Als Big Data werden digitalisierte Informationen nahezu in Echtzeit, in großer Menge und in jeder Form bezeichnet. Dazu gehören auch die notwendigen Methoden und Verfahren zur Gewinnung von Daten, ebenso wie deren Aufbereitung und Auswertung. Im Informationszeitalter sind Big Data-Quellen unverzichtbar, um daraus Wissen zu generieren. Die amtliche Statistik mit ihrem allgemeinen Informationsauftrag und in ihrer Vorreiterfunktion für Open Data und Open Government ist ein Garant für objektive, neutrale und auf wissenschaftlicher Basis gewonnene statistische Daten. Diese Daten werden zur Beurteilung für eine Fülle von sozialen, ökonomischen und ökologischen Erscheinungsformen von unterschiedlichen Nutzergruppen und für verschiedene Zwecke benötigt. Welche Möglichkeiten sich derzeit für die amtliche Statistik, besonders auf europäischer und internationaler Ebene, bieten, soll im Folgenden kurz skizziert werden.

Dr. rer. pol. Susanne Schnorr-Bäcker Leiterin des Referats „Koordinierung, Regionalstatistik, Indikatoren“ im Statistischen Bundesamt, Wiesbaden.

Arbeitschwerpunkte: Politikberatung, Regionalstatistik, GeoInformationssysteme, Fortschrittsmessung (insbes. Indikatorensysteme), Big Data : susanne.schnorr-baecker@destatis.de Schlüsselwörter: Big Data – politikbegleitendes Monitoring – Fortschrittsmessung – Open Government – geografische Informationssysteme

2

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

1

Zum Datenbedarf

Der Bedarf an zuverlässigen Informationen aus der amtlichen Statistik wird immer größer, vor allem aus folgenden Gründen: Immer mehr werden politische Entscheidungen und Strategien von einem qualitativ hochwertigen, zuverlässigen, problemadäquaten und zeitnahen statistischen Monitoring begleitet.1 Es soll nicht nur zur Transparenz politischer Initiativen beitragen, sondern der Erfolg politischer Maßnahmen soll dadurch messbar gemacht werden. Auch bietet es die Grundlage für eine stärkere Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure und soll eine bessere Teilhabe der Betroffenen ermöglichen. Diese verschiedenen Aspekte werden allgemein auch unter „Open Government“ zusammengefasst.2 Sie gelten besonders für umfassende Nachhaltigkeitsstrategien, die ein breites Spektrum von Maßnahmen zur Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen für Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt und das Staatswesen beinhalten.

Umfassende Nachhaltigkeitsstrategien, wie sie für Deutschland bereits eine lange Tradition haben,3 gewinnen zunehmend auf europäischer und internationaler Ebene an Bedeutung. So wurden im September 2015 die so genannten Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen für post 2015 von den Staats- und Regierungschefs für den Zeitraum 2016-2030 verabschiedet. Für diese weltweite Strategie wurden auf politischer Ebene 17 Ziele (Goals) und 169 Subziele (Targets) festgelegt; diese sollen von den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen – unabhängig von ihrem Entwicklungsstand – umgesetzt und regelmäßig anhand von Indikatoren aus der amtlichen Statistik überprüft und gegebenenfalls gesteuert werden. Dies gilt nicht nur für die nationale Ebene, sondern auch subnational, d. h. in verschiedenen Teilräumen – wie städtisch oder ländlich – einer Nation.4 Die amtliche Statistik hat auf UN-Ebene den Prozess der Festlegung der SDG begleitet und die Politik schon frühzeitig bezüglich möglicher statistischer Implikationen beraten. Auch das Statistische Bundesamt ist in diese Arbeiten nicht nur auf der Ebene der Vereinten Nationen, sondern auch bei der OECD5 und der Europäischen Union sowie national eingebunden. Für Deutschland derzeit aktuell ist die Regierungsstrategie „Gut leben – Was uns wichtig ist“, bei der Bürgerinnen und Bürgern in Bürgerdialogen wie auch online6 ihre Vorstellungen von einem guten Leben in Deutschland diskutiert haben. Aufbauend auf

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

diesen Ergebnissen soll ebenfalls ein entsprechendes Indikatorensystem mit Indikatoren überwiegend aus der amtlichen Statistik erarbeitet werden.

mit GDI-DE ein alle Verwaltungsebenen übergreifender Ansatz geschaffen, zum Nutzen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und der Zivilgesellschaft.12

Gerade bei den Arbeiten auf UN-Ebene zu post 2015 wurde relativ früh deutlich, dass die Datenangebote aus der amtlichen Statistik nicht ausreichen werden, um den für eine nachhaltige Entwicklung in all ihren Facetten erforderlichen Bedarf an statistischen Daten zu decken. Ebenfalls zeichnete sich ab – auch vor dem Hintergrund zunehmender Einsparungen bei nationalen statistischen Ämtern – dass für die Schließung der Datenlücken die herkömmlichen Vorgehensweisen (d. h. auf der Grundlage primärstatischer Erhebungen oder sekundärstatistischer, überwiegend administrativer Quellen) zur Gewinnung statistischer Daten kaum ausreichen dürften. Besonders gilt dies für vergleichbare flächendeckende kleinräumige Daten.

Die Prüfung neuer Datenquellen auf ihre Nutzungsmöglichkeiten in der amtlichen Statistik ist, soweit sie die Bundesstatistik betreffen, nicht neu. Denn es ist eine Daueraufgabe der amtlichen Statistik, ihr Programm regelmäßig nutzer- und bedarfsgerecht zu modernisieren und dabei auch neue Datenquellen, Methoden und Verfahren auf ihre Eignung für Zwecke der amtlichen Statistik zu prüfen.

Auch in der Bundesstatistik gibt es bislang nur ein begrenztes Datenangebot aus dem laufenden Programm unterhalb der Länderebene, d. h. überwiegend auf der Ebene der Kreise (NUTS 3). Dies hängt im Wesentlichen mit den in der Bundesstatistik verwendeten Quellen zusammen. Bei primärstatistischen Erhebungen handelt es sich häufig um Stichprobenerhebungen bzw. sind die Abschneidegrenzen aus Gründen der Entlastung der Befragten so hoch, dass sie sich oftmals nicht weiter, d. h. unterhalb der Ebene der Bundesländer, regionalisieren lassen. Sekundärstatistische Quellen hingegen sind vor allem Daten von anderen Verwaltungseinrichtungen, die in der Regel Vollerhebungen (bezogen auf den jeweils zugrunde liegenden Verwaltungsvorgang) darstellen. Diese sind eine wichtige Grundlage für vergleichbare flächendeckende, kleinräumige Angaben aus dem Programm der Bundesstatistik.7 Über die Regionaldatenbank Deutschland sind sie frei und allgemein zugänglich und lassen sich teilweise auch im Regionalatlas, einer weiteren Gemeinschaftsveröffentlichung, kartografisch veranschaulichen.8 Noch genauere Darstellungen erlauben Datenangebote auf Rasterbasis, die nun grundsätzlich aufgrund einer Bundesstatistikänderung im Sommer 2013 für Daten aus der Bundesstatistik zulässig sind.9 Für die beiden Großzählungen in jüngerer Zeit, den Agrarzensus 2010 und den Bevölkerungszensus 2011 gibt es ebenfalls interaktive Datenangebote auf Rasterbasis im Internet.10 Geografische Raster bieten für Big Data-Quellen, vor allem solche, die mit einem Geocode versehen sind, eine wichtige Grundlage für kleinräumige Auswertungen, wie in Abschnitt 4 näher ausgeführt wird. Von Vorteil für vergleichbare kleinräumige Auswertungen ist, wenn diese geografischen Raster nach einheitlichen Vorgaben gebildet werden, was für Deutschland und die Europäische Union zutrifft.11 Weitere Synergieeffekte durch bereichsübergreifende kleinräumige Datenangebote werden in sogenannten Geodateninfrastrukturen oder allgemeiner Geoinformationssystemen (GIS) gesehen. Sie enthalten neben den Angeboten aus der amtlichen Statistik Daten aus verschiedenen Bereichen der öffentlichen Verwaltung.

Eine Grundlage dafür ist die Europäischen Richtlinie INSPIRE für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie ihre nationale Umsetzung in den Geodatenzugangsgesetzen für Deutschland. So wurde z. B. für das Geoportal Deutschland

2

Begriff und Wesen von Big Data

Auch wenn in der Bundesstatistik teilweise großen Datenmengen elektronisch gesammelt und verarbeitet werden, wie zum Beispiel bei den Steuerstatistiken oder dem Zensus, bedeutet das nicht, dass sie mit Big Data arbeitet. Vielmehr beschreibt Big Data ein Phänomen, das mit dem Aufkommen von kaum vorstellbar großen Datenmengen in allen Lebensbereichen sowie steigenden Rechen- und Speicherkapazitäten verbunden ist. Einen Überblick über die derzeit wichtigsten Entwicklungen und Bereiche gibt Abbildung 1.

Abbildung 1: Big Data und aktuelle Entwicklungen

In verschiedenen Bereichen gibt es zunehmend Ansätze, unterschiedliche Aktivitäten elektronisch aufzuzeichnen und u. a. über das Internet zu steuern. Gerade das Internet der Dinge bietet eine Vielfalt verschiedenartiger Informationen und lässt einen großen Erkenntnisgewinn durch kombinierte Auswertungen versprechen. Ob und wie viel davon für Zwecke der amtlichen Statistik nutzbar ist, müssen zukünftige Arbeiten zeigen.

Bei Big Data handelt es sich um digitalisierte Informationen in jeder Form (Ton, Text, Bilder, sensorgenerierte Signale und Informationen). Sie lassen sich im Allgemeinen in Anlehnung an die englischen Begriffe durch mindestens drei,13 manchmal sogar vier oder fünf „V“ kennzeichnen. Dazu gehören (1) „Volume“, also so große Datenmengen, dass sie nicht mehr mit herkömmlichen Methoden und Verfahren aufbereitet und ausgewertet werden können, (2) „Variety“, also die Vielfalt unterschiedlicher Informationen und (3) „Velocity“, d. h. die rasche Veränderlichkeit der Daten. In einigen Studien werden noch

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

3

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

zwei weitere Merkmale als wesensbestimmend betrachtet (4) „Value“, der Nutzwert der diesen Daten innewohnt sowie (5) „Veracity“, also der Wahrheitsgehalt, eine Eigenschaft, die im Falle von großen Datenmengen gemäß dem Gesetz der großen Zahlen plausibel erscheint, auch wenn dies in der Literatur teilweise anders gesehen wird.14 Untrennbar mit Big Data verbunden sind entsprechende Methoden der Datengewinnung, Aufbereitung, Auswertung und Darstellung, die sich durch Begriffe wie Data Mining, Data Analytics und Data Design näher kennzeichnen lassen. Je nach Grad der Strukturierung der Daten in einer konkreten Big DataQuelle können dabei unterschiedliche Verfahren (statistische Methoden, Algorithmen oder komplexere Analyseverfahren) zur Anwendung kommen.

3

Erste Erfahrungen in der amtlichen Statistik mit Big Data

Wie erste Erfahrungen in der amtlichen Statistik mit ausgewählten Big Data-Quellen zeigen, müssen nicht notwendig alle fünf Eigenschaften für die Kennzeichnung einer Datenquelle als Big Data erfüllt sein. Ebenfalls ist deutlich geworden, dass sich grundsätzlich für Big Data entwickelten Methoden und Verfahren auch anderweitig in der amtlichen Statistik nutzen lassen.

Deshalb sollen im Folgenden derzeit als prioritär für die amtliche Statistik erachtete Big Data-Quellen und ihre Verwendungsmöglichkeiten skizziert werden. Im Anschluss soll noch ein Verfahren kurz erläutert werden, das auch im Rahmen der herkömmlichen Datengewinnung in der amtlichen Statistik Anwendung finden kann.

Grundsätzlich können in der amtlichen Statistik Big DataQuellen genutzt werden, um - neue Statistiken zu generieren, - bestehende Statistiken durch ergänzende Informationen zu modifizieren, - bestehende statistische Informationen durch neue Datenquellen und Verfahren zu ersetzen.

Die amtliche Statistik besonders auf europäischer und internationaler Ebene beschäftigt sich bereits seit einiger Zeit mit den Nutzungsmöglichkeiten von Big Data, um vor allem als gravierend erachtete Lücken im statistischen Programm möglichst effizient zu schließen. Auf der Ebene der Vereinten Nationen wie auch ihrer regionalen Organisationen, besonders der UNECE, hat eine erste Bestandsaufnahme gezeigt, dass weltweit bislang weniger als 50 Pilotstudien zu ausgewählten Big Data-Quellen von nationalen statistischen Ämtern durchgeführt worden sind.15 Doch diese Anzahl dürfte relativ schnell ansteigen, wie erste Erfahrungen zumindest für die amtliche Statistik der Europäischen Union zeigen.

Vereinte Nationen Einen recht umfassenden Ansatz zur Nutzung von Big DataQuellen in der amtlichen Statistik haben die Vereinten Nationen unter dem Oberbegriff „data revolution“ etabliert.16 Dabei

4

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

geht es nicht nur darum, verschiedene Big Data-Quellen in fachlich-inhaltlicher oder methodisch technischer Hinsicht zu untersuchen, sondern auch organisatorische und rechtliche Aspekte zu prüfen und zu bewerten. Auf der Grundlage einer ersten Bestandaufnahme hat die UNECE bereits eine Systematisierung vorgenommen: Unterschieden werden nach dem Strukturierungsgrad drei Arten von Big Data-Quellen17 - Soziale Netze: Dazu zählen alle Informationen, die von Menschen in Form von Wort, Ton und Bild über das Internet i. w. S. erzeugt und an Menschen adressiert sind. Beispiele dafür sind Facebook, Twitter, Blogs, die Nutzung von Suchmaschinen im Internet, Textbotschaften, Mobilfunk, von Nutzern selbst erstellte Karten. Charakteristisch für solche Informationen ist, dass sie in wenig strukturierter Form vorliegen. Das bedeutet, dass zu ihrer Extraktion besondere Methoden (wie z. B. Web Scraping oder andere Verfahren auf der Grundlage von Computerlinguistik) notwendig sind. Hinzu kommt, dass der Großteil dieser Datenbestände von privaten Einrichtungen bei Unternehmen bzw. Serviceprovidern gesammelt wird.

- Prozessgenerierte Daten auf der Grundlage von herkömmlichen Geschäftsmodellen: Von Bedeutung sind überwiegend Käufe oder Verkäufe oder die Bereitstellung von Dienstleistungen, die Durchführung von Finanztransaktionen, also Geschäftsvorfälle, die überwiegend über so genannte Plattformen abgewickelt werden. Bei den Anbietern derartiger Plattformen handelt es sich zum Großteil um Unternehmen der Privatwirtschaft. Aber auch für staatliche Dienstleistungen kommen bereits entsprechende Technologien zur Anwendung.

- Maschinengenerierte Daten: Dazu zählen vor allem Sensoren und technische Hilfsmittel, die konkrete Ereignisse, Prozesse oder Situationen aus der realen, physischen Welt digital aufzeichnen. Beispiele dafür sind einmal sensorgenerierte Daten in Form zum Beispiel von Messgeräten zur Aufzeichnung von Wetterdaten, Sensoren für den Verkehrsbereich. Zum anderen gehören dazu Sensoren in mobilen Geräten wie etwa für GPS in Mobiltelefonen oder Autos. Drittens werden dazu auch Informationen aufgrund von Interaktionen zwischen Computern gerechnet, als Beispiele werden vor allem entsprechende Protokolle genannt.18 Diese Systematisierung wurde vorgenommen in Hinblick auf mögliche zur Anwendung kommende Methoden und Verfahren, vor allem bezüglich der Extraktion der Daten und ihrer Verarbeitung. Ziel in der amtlichen Statistik ist es, Muster zu erkennen, die im Hinblick auf ein konkretes Untersuchungsobjekt signifikant sind. Ob dabei die sich abzeichnenden Regelmäßigkeiten oder sogenannte „Ausreißer“ im Fokus stehen, hängt von dem jeweiligen Untersuchungszweck ab.

Ziel auf UN-Ebene ist nicht nur die Produktion amtlicher statistischer Daten auf der Grundlage von Big Data, sondern auch die Art und Weise der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure. Dazu gehört einmal die Zusammenarbeit zwischen den Datenhaltern, vor allem kommerziellen, aber auch nichtkommerziellen, d. h. staatlichen oder Nicht-Regierungsorganisationen, und der amtlichen Statistik als Datenproduzent.

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Zum anderen soll durch den Einbezug von Wissenschaftlern und/oder Forschungseinrichtungen eine möglichst wissenschaftliche Vorgehensweise sichergestellt werden. Diese Zusammenarbeit erscheint aus zwei Gründen notwendig, einmal für eine sachgerechte Gewinnung und Aufbereitung amtlicher statistischer Daten auf der Grundlage von Big Data-Quellen und zum anderen zur Sicherung der für die amtliche Statistik geltenden Qualitätsstandards, insbesondere der Zuverlässigkeit der Daten, dem Abdeckungsgrad, der Repräsentativität, der Genauigkeit, der Wirtschaftlichkeit und der Aktualität.19 Europäische Union Die Direktoren der nationalen statistischen Ämter der Europäischen Union haben auf ihrer Herbsttagung im September 2013 im so genannten Scheveningen-Memorandum den Beschluss gefasst, die neuen Möglichkeiten aufgrund der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche näher für den Bereich der europäischen amtlichen Statistik zu untersuchen.20 Das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet, in der das Statistische Bundesamt neben anderen nationalen statistischen Ämtern, Einrichtungen der Europäischen Kommission der OECD und der UN vertreten ist. Die Task Force hat zunächst einen umfassenden Aktionsplan für das Big Data-Projekt erarbeitet. Es gehört zu den insgesamt fünf herausragenden Projekten im Rahmen der Strategie des Europäischen Statistischen Systems „ESS Vision 2020“ (VIP-Projekt Big Data).21 Dazu war nicht nur eine Beschreibung potenzieller Handlungsfelder (siehe Abbildung 2) notwendig, sondern dazu gehören auch eine detaillierte Bewertung möglicher Risiken im Hinblick auf die geltenden Qualitätsmaßstäbe sowie eine Beschreibung der erforderlichen Fachkenntnisse für die Gewinnung, Aufbereitung und Auswertung statistischer Informationen wie auch eine projektbegleitende, nutzerorientierte Kommunikationsstrategie.

Ziel des europäischen Big Data-Projektes ist es, das ESS zu befähigen und mit entsprechenden Ressourcen auszustatten für eine zeitlich abgestufte und sukzessive Integration von

Big Data-Quellen in das europäische statistische Programm.

Angestrebt wird: - kurzfristig die Identifikation möglicher Big Data-Quellen für die Statistikproduktion; - mittelfristig eine Prüfung der rechtlichen, technischen und infrastrukturellen Voraussetzung; - langfristig (nach 2020) die volle Integration von Big DataQuellen in den regulären Produktionsprozess von amtlichen Statistiken.

Für die konkreten Arbeiten im europäischen VIP-Projekt Big Data sind derzeit folgende Big Data-Quellen von besonderer Bedeutung: - Mobilfunkdaten, vor allem die lokalen Positionsangaben.

Ihre Nutzungspotenziale werden darin gesehen, dass sie für verschiedene Statistikbereiche, besonders die Bevölkerungsstatistiken und die Tourismusstatistiken, von Bedeutung sein können.

- Jobplattformen, die Stellenausschreibungen online enthalten; sie geben nicht nur Aufschluss über die Anzahl der offenen Stellen, sondern die Art der gesuchten Qualifikationen und ggfs. mögliche Branchen mit hohem Personalbedarf.

- Prozessgenerierte Daten. Dazu gehören die Auswertungen von so genannten Smart Meter, also intelligenten und vernetzten Zählern für Energie, Strom oder Gas sowie Sensoren im Verkehrsbereich, zum Beispiel zur Steuerung von Verkehrsabläufen oder Erfassung von ausgewählten Kraftfahrzeugen.22 Statistisches Bundesamt Im Statistischen Bundesamt gibt es bislang kaum Erfahrungen mit der Nutzung neuer Datenquellen wie Big Data, vor allem, was Volumen und Veränderungsgeschwindigkeit derartiger Datenquellen anbetreffen. Allerdings wurde bereits im Rahmen einer Pilotstudie für die Preisstatistiken Web Scraping eingesetzt.23 Dabei wird eine Big Data-Quelle – das Internet – verwendet. Bei der Weiterverarbeitung der gewonnenen Daten werden allerdings traditionelle Verfahren eingesetzt. Web

Abbildung 2: Prioritäre Big Data-Quellen und Anwendungsmöglichkeiten für das ESS Datenquellen

Datentyp

Statistikbereiche

Mobile Kommunikation

Mobilfunkdaten

Tourismus-, Bevölkerungsstatistik

www

Websuche

Arbeitsmarkt-, Wanderungsstatistiken

Spezielle Webseiten

Statistiken zu Verbraucher-, Immobilienpreisen, IKT, Unternehmensregister

Sensordaten

Soziale Netzwerke

Statistiken zum Konsumentenvertrauen, GDP and Beyond, IKT

Verkehrsüberwachung (wie Induktionsschleifen, Lichtschranken)

Verkehrs-, Transportstatistiken

Smart Meter (z. B. intelligente Stromzähler)

Energiestatistiken

Satellitenbilder

Landnutzungs-, Landwirtschafts-, Umweltstatistiken

Automatische Schiffserkennung

Statistiken über Transporte und Emissionen

Transaktionen mittels Flugbewegungen prozessgenerierter Daten Supermarktscanner und Verkaufsdaten

Statistiken über Transporte und Schadstoffeinträge in der Luft

Crowd Sourcing

Geografische Informationen (Open Street Map, GeoWiki)

Landnutzung

Bildsammlungen (Instagram, Flickr)

-

Statistiken über Preise und Haushaltskonsumtion

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

5

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Scraping ist grundsätzlich zur Gewinnung von Informationen, die überwiegend im Internet in Textform vorliegen, geeignet.

Für ausgewählte Bereiche (Flüge, Hotels, Versandhandel mit Bekleidung und Schuhen, Versandapotheken, Mietwagen sowie Bahn- und Städtereisen, Fernbusse) wurde untersucht, ob die aus dem Internet automatisiert gewonnenen Daten für die Verwendung im Verbraucherpreisindex bzw. für die Kaufkraftparitäten geeignet sind. Die gewünschten Informationen, d. h. die aktuellen Preise für vorher genau definierte Produkte und deren preisbestimmende Merkmale, werden unter Verwendung einer speziellen Software, das heißt eines Web Scraping-Tools, ausgewählt und extrahiert. Die Steuerung des Web Scraping-Tools erfolgt durch eine selbst erstellte JavaAnwendung; diese ermöglicht die komplexe Navigation und die Produktauswahl. Da die relevanten Webseiten unterschiedlich gestaltet sind bzw. die Informationen wie Preise und eventuell notwendige Zusatzinformationen wie zum Beispiel die Lage von Hotels oder andere preisbestimmende Merkmale in unterschiedlicher Form auf der jeweiligen Webseite vorliegen, sind webseitenspezifische Vorgehensweisen erforderlich.24 Ziel dieser Pilotstudie war, zu prüfen, inwieweit bislang manuell im Internet durchgeführte Preiserhebungen mittels automatisierter Erhebungen substituiert werden können. Konkret sollte mit dieser automatisierten Preiserhebung untersucht werden, ob der Aufwand für die primärstatistische, herkömmliche Preiserhebung reduziert und ihre Qualität verbessert werden kann, indem Übertragungsfehler reduziert und Stichproben gegebenenfalls mit geringem Zusatzaufwand ausgeweitet werden können.

Web Scraping ist vom Verfahren her prinzipiell für ähnlich gelagerte Fälle wie auch für sehr viel größere Datenmengen technisch geeignet. Die rechtliche Zulässigkeit, vor allem bezüglich des Urheberrechts sowie anderer Rechtsnormen, muss jedoch für jeden Einzelfall gesondert geprüft werden.

4

Anwendungsbeispiele

Pilotstudien in der europäischen Statistik zur Nutzung von Big Data sind bislang auf ausgewählte Quellen beschränkt. Für die Auswahl der Merkmale und die untersuchten Datensätze wird i.d.R. ein begrenztes Spektrum gewählt. Aus methodischen Gründen bietet sich eine solche Vorgehensweise an, um zunächst Erfahrungen mit einer speziellen Quelle, den dafür benötigten Methoden und Verfahren sowie ihrem Informationspotenzial zu gewinnen. Auswertungen unter dynamischen Gesichtspunkten, zum Beispiel im Hinblick auf die Veränderungsgeschwindigkeit („Velocity“) der Daten oder bereichsübergreifende Auswertungen im Sinne von „Variety“, sind nächsten Schritten vorbehalten.

Mobilfunkdaten Großes Potenzial wird in der Nutzung von Mobilfunkdaten gesehen, vor allem den damit verbundenen Geo-Informationen aufgrund von GPS, wie verschiedene Studien von nationalen statistischen Ämtern und Einrichtungen der Europäischen Union zeigen.25 Aufgrund der großen Verbreitung von Mobilfunk-

6

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

geräten lassen sich durch ortsbezogene Angaben Hinweise auf den jeweiligen Standort gewinnen. Mobilfunkdaten könnten einmal aktuelle Anhaltspunkte liefern über die Anzahl von Personen, die sich tagsüber in einem bestimmten Gebiet, zum Beispiel einer Stadt aufhalten, was auch mit „Tagbevölkerung“ bezeichnet wird. Zum anderen ließen sich damit auch Informationen über die Verkehrsströme gewinnen, was unter verschiedenen Gesichtspunkten (zum Beispiel benutzte Verkehrsmittel, Umweltbelastungen, Transportzeiten etc.) wichtig für weiterführende Analysen sein könnte. Derartige Informationen sind in der amtlichen Statistik bisher nicht verfügbar; sie können höchstens aus verschiedenen Einzelstatistiken der verschiedenen Statistikbereiche und eher auf Makroebene angenähert werden, wenn man konzeptionelle und methodische Unterschiede (wie zum Beispiel unterschiedliche Merkmalsdefinitionen, Erhebungsmethoden, Periodizitäten) außer Acht lässt.

Bei Mobilfunkdaten handelt es sich um relativ strukturierte Daten, zumindest wenn sie von einem Mobilfunkanbieter stammen. Wie sich diese Daten für statistische Zwecke nutzen lassen, soll am Beispiel von Estland gezeigt werden, da hier die Arbeiten hierzu am weitesten fortgeschritten sind.26 Besondere Probleme stellen dabei einerseits der Zugang zu den Daten und andererseits die Methodik dar. Da die Daten nicht frei zugänglich sind, sondern bei einem Unternehmen der Privatwirtschaft vorliegen, ist es zunächst notwendig, die Modalitäten des Datenzugangs und ihrer Nutzung einschließlich der verbundenen Kosten, Fragen der Geheimhaltung sowie die Möglichkeiten einer automatisierten Verarbeitung und Aufbereitung für statistische Zwecke zu klären. Abbildung 3 zeigt für Tallinn, die Hauptstadt Estlands, wie viele Personen – hier unterteilt in verschiedene Häufigkeitsklassen – täglich von ihrem Wohnort in die Hauptstadt fahren. Die dunkelroten Punkte stellen die Ausgangsorte dar, von denen aus täglich mehr als 1000 Personen nach Tallinn fahren. Auf dieser Grundlage ließe sich ebenfalls die Anzahl der Einpendler nach Tallinn bestimmen. Zum anderen zeigt die Abbildung die räumlichen Verflechtungen der Hauptstadt mit anderen Orten des Landes und gibt sogar Hinweise auf ihre Intensität.

Anders als bei primärstatistischen Erhebungen, die jeweils für ein konkretes Untersuchungsobjekt passgenau konzipiert sind, vor allem in Hinblick auf Repräsentativität und Zuverlässigkeit, müssen bei Big Data-Quellen weitere Analysen im Hinblick auf die einzelnen Qualitätsmerkmale durchgeführt werden.27 Denn erfasst werden Mobilfunkgeräte, unabhängig davon, wie viele Geräte eine Person nutzt. D. h. zum einen ist mit Mehrfacherfassungen im Falle von mehreren Mobilfunkgeräten pro Person (zum Beispiel privat oder geschäftlich) zu rechnen, zum anderen besteht aber auch das Risiko von Unterfassungen, für den Fall, dass Personen kein Mobilfunkgerät besitzen oder nutzen. Denkbar sind auch Verzerrungen in technischer Hinsicht, z. B. bei der Lokalisation der Daten.

Anhand von Mobilfunkdaten lassen sich auch Informationen über Aufenthaltsorte von Personen mit einem im Ausland registrierten Mobilfunknutzungsvertrag gewinnen. Roaming könnte zum Beispiel Hinweise auf Tourismusregionen geben, wie wiederum das Beispiel für Estland zeigt (siehe Abbildung 4).

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Abbildung 3: Tagbevölkerung, Einpendler und deren Ausgangsorte

Abbildung 4: Regionen mit aus dem Ausland stammenden Besuchern

Quelle: unstats.un.org/unsd/trade/events/2014/beijing/Margus%20 Tiru%20-%20Mobile%20Positioning%20Data%20Paper.pdf, hier S. 14

Quelle: unstats.un.org/unsd/trade/events/2014/beijing/Margus%20 Tiru%20-%20Mobile%20Positioning%20Data%20Paper.pdf, hier S. 13

Danach sind vor allem Regionen um die Hauptstadt Tallinn wie auch Orte an der Küste von besonderem Interesse. Die Abbildung liefert im Weiteren darüber Informationen, auf welchen Wegen Personen einreisen. Solche Informationen lassen sich relativ zeitnah und belastungsarm sowohl für Respondenten wie auch für die amtliche Statistik gewinnen. Ob und inwieweit sie den realen Gegebenheiten entsprechen, müssen weitere Analysen zeigen.

Fernerkundungsdaten Flächendeckende, vergleichbare, kleinräumige, statistische Daten werden zunehmend von verschiedenen Nutzergruppen und für verschiedene Zwecke gefordert. Nicht nur im Rahmen umfassender Nachhaltigkeitsstrategien liefern sie Anhaltspunkte über die Lebensbedingungen und die Lebensqualität in verschiedenen Regionen. Auch geben sie Hinweise auf die Dynamik der Entwicklungen zum Beispiel in Städten oder im ländlichen Raum, wie sie zum Beispiel aufgrund des demographischen Wandels postuliert werden.

Mobilfunkdaten sind ein gutes Beispiel, wie aus einer Big DataQuelle verschiedene Arten von Informationen für verschiedene Bereiche gewonnenen werden können. Sie ermöglichen damit komplexere Auswertungen u. a. im Hinblick auf mögliche Interdependenzen, die bisher mit statistischen Nachweisungen aus der amtlichen Statistik so nicht möglich sind.

Voraussetzung dafür ist allerdings, dass zufriedenstellende Lösungen bezüglich Datenzugang und Datenschutz sowie der für die amtliche Statistik geltenden Qualitätsstandards gefunden werden.

Fernerkundungsdaten, besonders Satellitenbilder, bieten eine Möglichkeit, flächendeckende kleinräumige Daten zu gewinnen. So hat zum Beispiel die OECD eine Studie zur Luftqualität auf der Grundlage von Satellitenbildern vorgenommen. Brezzi und Sanchez-Serra (2014) haben die Luftbelastung mit Feinstaub PM 2,5 für verschiedene Städte in ihren Mitgliedstaaten nach einem einheitlichen Verfahren ermittelt.28 Die Studie basiert auf einer Analyse eines amerikanischen Forscherteams,

Abbildung 5: Feinstaubbelastung (PM 2,5) auf der Grundlage von Satellitenbildern

Quelle: zitiert nach Brezzi, M. et al.; a.a.O., S. 7; van Donkelaar, A., R. V. Martin, M. Brauer und B. L. Boys (2014): Use of Satellite Observations for Long-Term Exposure Assessment of Global Concentrations of Fine Particulate Matter

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

7

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Abbildung 6: Regionale Unterschiede in der Feinstaubbelastung für die Mitgliedstaaten der OECD

Quelle: Brezzi et al., a.a.O., S. 10

das für einen langen Zeitraum (1998 bis 2012) Satellitenbilder mit real in Bodenmessstationen ermittelten jährlichen Messwerten für Feinstaub verglichen und entsprechend modifiziert hat (siehe Abbildung 5).

Aus den von Donkelaar et al. (2015) ermittelten Feinstaubbelastungen29 haben Brezzi und Sanchez-Serra (2014) auf der Grundlage von geographischen Rastern die Feinstaubbelastungen für ausgewählte Städte berechnet (siehe Abbildung 6) und die Spanne für die am wenigsten und am meisten belasteten Städte und Regionen in den Mitgliedstaaten der OECD dargestellt.

Tendenziell sind solche Analysen für alle interessierenden Regionen eines Landes nach einheitlichen Kriterien möglich.

Die Vorgehensweise zeigt, wie heute schon durch eine Kombination verschiedener Datenquellen – hier von tatsächlich gemessenen Werten für die Feinstaubbelastung – mit neuen Datenquellen wie Satellitenbildern vergleichbare flächendeckende Informationen abgeleitet werden können. Auch zeigt das Verfahren, dass möglichst lange Zeitreihen notwendig sind, um entsprechende Muster erkennen zu können.

5

Ausblick

Neue Datenquellen und Verfahren bieten vermutlich ein großes Potenzial für die amtliche Statistik, wie erste Studien der amtlichen Statistik auf europäischer Ebene zeigen. Nach den derzeitigen Erkenntnissen sind allerdings noch einige Herausforderungen zu bewältigen, bevor diese Daten tatsächlich in

8

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

das statistische Programm der amtlichen Statistik aufgenommen werden können. Dazu gehören nicht nur Fragen des Datenzugangs, der Datennutzung und der Vertraulichkeit unter rechtlichen und organisatorischen Gesichtspunkten. Sondern dazu gehören auch sorgfältige Analysen bezüglich der eher datenspezifischen Qualitätsmerkmale. Eine Verbesserung der Aktualität wie auch eine wirtschaftlichere Datengewinnung scheinen Vorteile zu sein, die die Nutzung von Big Data-Quellen für die amtliche Statistik mit sich bringt. Was die weiteren Kriterien wie Repräsentativität, Abdeckungsgrad, Genauigkeit und Zuverlässigkeit anbetrifft, müssen dies weitere Studien zeigen. Diese Kriterien werden wesentlich bestimmt durch die zur Anwendung kommenden Methoden und Verfahren, für die derzeit in der amtlichen Statistik weltweit nach entsprechenden vorbildlichen Vorgehensweisen (Best Practices) gesucht wird. Da die bislang vorliegenden Pilotstudien auf eine begrenzte Auswahl an Merkmalen und Datensätzen beschränkt ist, lassen sich relativ kontrolliert Analysen für ausgewählte Big Data-Quellen bezüglich ihrer Verwendungsmöglichkeiten in der amtlichen Statistik durchführen. Dadurch, dass in verschiedenen nationalen statistischen Ämtern Studien zu inhaltlich vergleichbaren Big Data-Quellen durchgeführt werden, sind auch Vergleiche im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede möglich und erlauben erste Hinweise auf so genannte Best Practices. Erst wenn dazu gesicherte Erkenntnisse und Erfahrungen vorliegen, sind umfassendere Analysen zum gesamten Potenzial von Big Data-Quellen auch in Form kombinierter Auswertungen möglich. Da allerdings auf allen Ebenen in der amtlichen Statistik – von den Kommunen bis hin zu den Vereinten Nationen – das Potenzial derartiger Quellen im Fokus steht, ist damit zu rechnen, dass die Entwicklungen

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

relativ rasch fortschreiten. Wenn neue Wege für eine noch engere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Partnern – vor allem Datenproduzenten, Datenanbietern, Datennutzern und Wissenschaft – gefunden werden, wie von den Vereinten Nationen postuliert, dürfte sich das Potenzial von neuen Datenquellen und Verfahren für alle Beteiligten relativ effizient erschließen lassen als Grundlage für neue Datenangebote und ggfs. neue Formen von Serviceleistungen.

12

13 1

Einen Überblick gibt die Publikation der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg.): Gesellschaftlicher Nutzen der amtlichen Statistik – Mehr als 100 gute Gründe für die amtliche Statistik, o. O., 2005 bzw. www.statistikportal.de/statistik-portal/100Gruende.pdf 2 Siehe dazu auch die Ausführungen auf der Webseite des Bundesministerium des Innern zu den Zielen von „open government“, URL: www.bmi.bund.de/DE/Themen/Moderne-Verwaltung/Open-Government/Regierungs-Verwaltungshandeln/regierungs-verwaltungshandeln_node.html;jsessionid=E20ED874A43DFAC5519BADDC5C3222 6A.2_cid373 3 Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie „Nachhaltige Entwicklung für Deutschland“ wurde bereits 2002 von der Regierung verabschiedet.

Dazu veröffentlicht das Statistische Bundesamt seit 2006 in zweijährlichem Abstand einen Indikatorenbericht. Siehe Statistisches Bundesamt (Hrsg.), URL: www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/ UmweltoekonomischeGesamtrechnungen/Umweltindikatoren/ IndikatorenPDF_0230001.pdf?__blob=publicationFile 4 Wie auf der Ebene der Vereinten Nationen im Rahmen der UNIVERSAL SUSTAINABLE DEVELOPMENT GOALS gefordert wird; siehe dazu besonders Goal 11 „Resilient Cities“; aber auch bei vielen anderen Goals ist zumindest implizit der Regionalbezug gegeben, wie z. B. bei Goal 6 oder Goal 7; URL: sustainabledevelopment.un.org/post2015/ summit 5 Siehe dazu die Arbeiten der OECD zur Veröffentlichung How’s Life in Your Region? Measuring Regional and Local Well-Being for Policy Makers, OECD Publishing bzw. www.oecd-ilibrary.org/docserver/download/0414031e.pdf?expires=1444402894&id=id&accna me=ocid47012051&checksum=25DAE94984CCA66088F3E1B56F 856D57, die Grundlage für eine Studie zu ausgewählten Städten für Deutschland war; siehe Schnorr-Bäcker, S.; Bömermann, H.: Regionalstatistisches Datenangebot zur Fortschrittsmessung, Zum OECD-Ansatz „How’s Life – Measuring Well-Being“, in Zeitschrift für amtliche Statistik Berlin Brandenburg 2/2013, Statistische Monatshefte Niedersachsen 3/2014 bzw. www.destatis.de/GPStatistik/ servlets/MCRFileNodeServlet/NIMonografie_derivate_00000069/ MH_2014_03_Regionalstatistisches%20Datenangebot%20zur%20 Fortschrittmessung%20Zum%20OECD-Ansatz%20_How%20s%20 life-%20Measuring%20Well-Being_pdfa.pdf 6 Siehe dazu auch die Webseite www.gut-leben-in-deutschland.de/ DE/Home/home_node 7 Zum kleinräumigen flächendeckenden Datenangebot siehe auch die jährliche Veröffentlichung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg.): Regio-Stat, Regionalstatistischer Datenkatalog des Bundes und der Länder 2015, München, 2015 bzw. www.destatis.de/ DE/Publikationen/Thematisch/Regionales/Regiostatkatalog.html 8 Siehe zur Regionaldatenbank www.regionalstatistik.de/genesis/ online sowie zum Regionalatlas www-genesis.destatis.de/gis/ genView?GenMLURL=https://www-genesis.destatis.de/regatlas/ AI002-1.xml&CONTEXT=REGATLAS01 9 Siehe Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke (Bundesstatistikgesetz – BStatG) vom 22. Januar 1987 (BGBl. I S. 462, 565), § 1, zuletzt geändert durch Artikel 13 des Gesetzes vom 25. Juli 2013 (BGBl. I S. 2749), www.destatis.de/DE/Methoden/Rechtsgrundlagen/Statistikbereiche/Inhalte/010_BStatG.pdf?__blob=publicationFile 10 Zum Agrarzensus siehe www.atlas-agrarstatistik.nrw.de/, zum Bevölkerungszensus siehe atlas.zensus2011.de/ 11 In der Europäischen Richtlinie INSPIRE und ihrer nationalen Umsetzung in Deutschland in den Geodatenzugangsgesetzen des Bundes und der Länder ist dies erfolgt. Siehe dazu auch Richtlinie 2007/2/

14

15 16

17 18 19 20 21 22

23

24 25

26

EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2007 zur Schaffung einer Geodateninfrastruktur in der Europäischen Gemeinschaft (INSPIRE): eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do? uri=OJ:L:2007:108:0001:0014:de:PDF, hier in Anhang 1 Ziffer 2; für den Bund ist dies geregelt im Geodatenzugangsgesetz vom 10. Februar 2009 (BGBl. I S. 278), das durch Artikel 1 des Gesetzes vom 7.

November 2012 geändert worden ist bzw. www.gesetze-im-internet. de/bundesrecht/geozg/gesamt.pdf, hier § 4, Ziff. 4b Siehe dazu auch die Präsentation von Dr. Georg Thiel, Bundesministerium des Innern: Geoinformationen – Innovationen für Deutschland –, 10. Sächsisches GIS-Forum des GDI-Sachsen e. V. am 30.01.2013, URL: www.gdi-sachsen.de/web/2013/Forum/Georg%20Thiel-Geoinformation-Innovation%20für%20Deutschland.pdf Zur Umschreibung des Begriffs, vor allem zu den drei wesensbestimmenden Merkmalen siehe Wikipedia ‚Big Data‘ bzw. de.wikipedia.org/ wiki/Big_Data „Veracity“ wird üblicherweise übersetzt mit „Wahrheitsgehalt“, „Richtigkeit“. In einigen Studien erfolgt eine andere Auslegung wie z. B. bei IBM; hier wird dies in der Infografik mit „uncertainty of data“ übersetzt, URL: www.ibmbigdatahub.com/sites/default/files/infographic_file/4Vs-of-big-data.jpg?cm_mc_uid=85033156291614454204167&cm_ mc_sid_50200000=1445420501. In der Studie von KPMG: Mit Daten Werte schaffen, Report 2015, www.kpmg.com/DE/de/Documents/ mdws-survey-2015-kpmg.pdf wird „Veracity“ übersetzt mit „Enge regulatorische Leitplanken für die Datennutzung“, S. 4 Einen Überblick über die derzeitig vorhandenen Pilotstudien weltweit für die amtliche Statistik gibt die Webseite der UNECE www1.unece. org/stat/platform/display/BDI/UNECE+Big+Data+Inventory+Home Siehe dazu die Webseite der Vereinten Nationen www.undatarevolution.org/; auf der Ebene der Vereinten Nationen wurde eigens eine Arbeitsgruppe, ein so genanntes High Level Gremium for the Modernization of Official Statistics eingerichtet, das sich allgemein mit Fragen der Modernisierung der amtlichen Statistik beschäftigt.

Zu seinem Arbeitsauftrag siehe auch www1.unece.org/stat/platform/ display/hlgbas/HLG+Terms+of+Reference Siehe UNECE Statistics Wikis: www1.unece.org/stat/platform/display/ bigdata/Classification+of+Types+of+Big+Data Siehe ebenda Siehe dazu auch Fundamental Principles of Official Statistics adopted on 29 January 2014, A/RES/68/261 bzw. unstats.un.org/unsd/dnss/ gp/FP-New-E.pdf Zum Scheveningen-Memorandum siehe ec.europa.eu/eurostat/ documents/42577/43315/Scheveningen-memorandum-27-09-13 Siehe auch ec.europa.eu/eurostat/web/ess/about-us/ess-vision-2020 Siehe dazu besonders die Arbeiten des Statistikamtes des Niederlande zur Nutzung von Big Data-Quellen allgemein www.cbs.nl/NR/ rdonlyres/C602A23B-EE88-414F-BFE4-A67D959E6F8F/0/2011x1009. pdf, von Mobilfunkdaten www.cbs.nl/NR/rdonlyres/4EDB51ED927A-4A69-B8F3-4DC57A44DDE4/0/Timepatternsgeospatialclusteringandmobilitystatistics.pdf, Verkehrsschleifen www.cbs.nl/NR/ rdonlyres/4E3C7500-03EB-4C54-8A0A-753C017165F2/0/afirstforlaunchingstatisticsbasedonbigdata.pdf wie auch die Arbeiten des nationalen Statistikamtes des Vereinigten Königreichs zur Nutzung von Smart Metern www.gov.uk/government/collections/smartmeters-statistics Siehe dazu auch Brunner, K.: Automatisierte Preiserhebung im Internet, in Wirtschaft und Statistik, April 2014, S. 258 ff. bzw. www. destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Monatsausgaben/ WistaApril2014.pdf?__blob=publicationFile Zu Einzelheiten siehe ebenda Siehe dazu z. B. eine Präsentation von Ahas, R.; Tiru, M.; Demunter, C.: Mobile telephones and mobile positioning data as a source for statistics, o. O. und Zeit www.cros-portal.eu/sites/default/files/S19P4_0. pdf. Zur Methodik siehe besonders Ricciato, F.; Widhalm, P.; Craglia, M.; Pantisano, F.: Estimating population density distribution from networkbased mobile phone data, Joint Research Centre (European Commission), Ispra/Italy, 2015 bzw. publications.jrc.ec.europa.eu/repository/ bitstream/JRC96568/lb-na-27361-en-n.pdf Siehe dazu Tiru, M: Mobile Positioning Data, Paper, URL: unstats. un.org/unsd/trade/events/2014/beijing/Margus%20Tiru%20-%20 Mobile%20Positioning%20Data%20Paper.pdf oder Saluveer, E: Ahas, R.: Präsentation für die EFGS-Sitzung 2010 in Tallinn/Estland: www. efgs.info/workshops/efgs-2010-tallinn-estonia/efgs2010/29_Mobile_

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

9

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

telephones%20and%20mobile%20positioning%20data%20as%20 source%20for%20population%20statistics_%20Erki%20Saluveer%20 et%20al.pdf oder andere Veröffentlichungen Ahas, R.; Silm, S., Järv, O., Saluveer, E., Tiru, M.: Using Mobile Positioning Data to Model Locations Meaningful to Users of Mobile Phones, Journal of Urban Technology 17(1), S. 3–27. Zu weiteren Anwendungsmöglichkeiten von Mobilfunkdaten in der amtlichen Statistik siehe beispielsweise die Arbeiten des niederländischen Statistikamtes www.cbs.nl/NR/ rdonlyres/4EDB51ED-927A-4A69-B8F3-4DC57A44DDE4/0/Timepatternsgeospatialclusteringandmobilitystatistics.pdf

27 Dies gilt allerdings auch für von der amtlichen Statistik genutzte sekundärstatistische Quellen 28 Siehe Brezzi, M.; Sanchez-Serra, D.: Breathing the Same Air? Measuring Air Pollution in Cities and Regions, OECD Regional Development Working Papers, 2014/11, OECD Publishing bzw. dx.doi. org/10.1787/5jxrb7rkxf21-en 29 Zur Methodik siehe Donkelaar, A.; Martin, R.V.; Brauer, M.; Boys, B.L.: Use of Satellite Observations for Long-Term Exposure Assessment of Global Concentrations of Fine Particular Matter, February 2015; siehe ehp.niehs.nih.gov/wp-content/uploads/123/2/ehp.1408646.alt.pdf

Literatur Ahas, R.; Silm, S., Järv, O., Saluveer, E., Tiru, M.: Using Mobile Positioning Data to Model Locations Meaningful to Users of Mobile Phones, Journal of Urban Technology 17(1), S. 3-27.

Ahas, R.; Tiru, M.; Demunter, C.: Mobile telephones and mobile positioning data as a source for statistics, o. O. und Zeit http://www.crosportal.eu/sites/default/files/S19P4_0.pdf Brezzi, M.; Sanchez-Serra, D.: Breathing the Same Air? Measuring Air Pollution in Cities and Regions, OECD Regional Development Working Papers, 2014/11, OECD Publishing bzw. http:// dx.doi.org/10.1787/5jxrb7rkxf21-en Brunner, K.: Automatisierte Preiserhebung im Internet, in Wirtschaft und Statistik, April 2014, S. 258 ff. bzw. https://www.destatis. de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/ Monatsausgaben/WistaApril2014.pdf?__ blob=publicationFile Donkelaar, A.; Martin, R.V.; Brauer, M.; Boys, B.L.: Use of Satellite Observations for Long-Term Exposure Assessment of Global Concentrations of Fine Particular Matter, February 2015; siehe http://ehp.niehs.nih.gov/wp-content/ uploads/123/2/ehp.1408646.alt.pdf OECD, How´s Life in Your Region? Measuring Regional and Local Well-Being for Policy Makers, OECD Publishing bzw. http://www.oecdilibrary.org/docserver/download/0414031e. pdf?expires=1444402894&id=id&accname=

10

ocid47012051&checksum=25DAE94984CC A66088F3E1B56F856D57 Ricciato, F.; Widhalm, P.; Craglia, M.; Pantisano, F.: Estimating population density distribution from network-based mobile phone data, Joint Research Centre (European Commission), Ispra/Italy, 2015 bzw. http://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/bitstream/ JRC96568/lb-na-27361-en-n.pdf Saluveer, E: Ahas, R.: Präsentation für die EFGSSitzung 2010 in Tallinn/Estland: http://www. efgs.info/workshops/efgs-2010-tallinn-estonia/efgs2010/29_Mobile_telephones%20 and%20mobile%20positioning%20data%20 as%20source%20for%20population%20statistics_%20Erki%20Saluveer%20et%20al.pdf Schnorr-Bäcker, S.; Bömermann, H. (2013): Regionalstatistisches Datenangebot zur Fortschrittsmessung, Zum OECD-Ansatz „How’s Life – Measuring Well-Being“, in Zeitschrift für amtliche Statistik Berlin Brandenburg 2/2013. https://www.destatis.de/GPStatistik/servlets/ MCRFileNodeServlet/NIMonografie_derivate_00000069/MH_2014_03_Regionalstatistisches%20Datenangebot%20zur%20 Fortschrittmessung%20Zum%20OECDAnsatz%20_How%20s%20life-%20Measuring%20Well-Being_pdfa.pdf;jsessionid=0A 59B41E7563DBC2D65A5D2D10272DEC

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg., 2015): Regio-Stat, Regionalstatistischer Datenkatalog des Bundes und der Länder 2015 bzw. https://www.destatis.de/ DE/Publikationen/Thematisch/Regionales/ Regiostatkatalog.html Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg., 2005): Gesellschaftlicher Nutzen der amtlichen Statistik – Mehr als 100 gute Gründe für die amtliche Statistik bzw. http://www.statistikportal.de/statistik-portal/100Gruende.pdf Statistisches Bundesamt (Hrsg., 2014, 2-jährlich seit 2006): Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie „Nachhaltige Entwicklung für Deutschland“ https://www.destatis.de/DE/Publikationen/ Thematisch/UmweltoekonomischeGesamtrechnungen/Umweltindikatoren/IndikatorenPDF_0230001.pdf?__blob=publicationFile Tiru, M: Mobile Positioning Data, Paper, http:// unstats.un.org/unsd/trade/events/2014/beijing/Margus%20Tiru%20-%20Mobile%20Positioning%20Data%20Paper.pdf Thiel, G. (2013): Geoinformationen – Innovationen für Deutschland –, Präsentation zum 10.

Sächsischen GIS-Forum des GDI-Sachsen e. V. http://gdi-sachsen.de/web/index.php?option =com_content&view=article&id=134:dr-georg-thiel-geoinformationen-innovationenfuer-deutschland&catid=29:forums-vortraege-2013&Itemid=148

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Tim Elrick

Potenzial und Nutzung von digitalen Geodaten für die Stadtforschung und Stadtraumbeobachtung1 Einleitung

Dr. Tim Elrick Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, arbeitet seit 2011 zu Themen der kritischen Geoweb-Forschung (siehe geoweb-studien.de) : tim.elrick@fau.de Schlüsselwörter: Georeferenzierte Daten – VGI – OpenData – SmartCities

Heute liegen immer mehr digitale Daten im städtischen Kontext vor; nicht nur weil 77,1 % der Bevölkerung in Deutschland in Gebieten mit mittlerer oder dichter Besiedlungsdichte wohnen2, sondern vor allem, weil seit ca. Mitte der 2000er Jahre immer mehr digitale Daten produziert werden – einerseits durch Unternehmen und die von ihnen verwendeten Sensoren, andererseits durch Internet- und Smartphone-Nutzerinnen und -nutzer. Letztere werden häufig mit dem Web 2.0 in Verbindung gebracht, also dem Wandel des Internets von einer Informationsplattform einzelner Unternehmen und Institutionen hin zu einem „Mitmachnetz“ (web 2.0) durch Nutzer, die selbst zu Produzenten von Daten werden (Budhathoki et al. 2008). Diese Entwicklungen führen zum Vorliegen immer größerer Datenmengen, die häufig auch als big data bezeichnet werden.

Immer mehr dieser digitalen Daten weisen dabei einen Ortsbezug auf: Hahmann und Burghardt (2012) wiesen nach, dass stellvertretend für „digitale Daten“ mehr als die Hälfte aller Wikipedia-Einträge eine Georeferenzierung beinhalten. Dies macht diese Daten im städtischen Kontext interessant für die Stadtforschung und Raumbeobachtung um bisherige Verfahren und Daten ergänzen zu können.

Rob Kitchin hat in einem Arbeitsbericht seines Forschungsprogramms „The Programmable City“ an der Maynooth University die Chancen für die amtliche Statistik wie folgt zusammengefasst (Kitchin 16.04.2015): Big data aus unterschiedlichsten Quellen könnte zuallererst zeitnähere Statistiken erlauben, da diese Daten heute kontinuierlich vorliegen und von den sammelnden Institutionen bereits vorprozessiert werden, da diese Institutionen die Daten ja auch bereits nutzen. Dies würde auch die Prozessierungszeiten erheblich verringern und somit eventuell Arbeitszeit von der Prozessierung auf die Analyse verlagern lassen. Die Nutzung solcher Daten in der Statistik würde zu fortlaufenden Statistiken führen, da die Daten nicht zu gewissen Stichtagen erhoben werden, sondern dauerhaft und kontinuierlich anfallen. Dies würde auch ein now casting bzw. real time-feedback erlauben, also die Darstellung von statistischen Analysen in Quasi-Echtzeit.

Politische Entscheider und städtische Verwaltungen könnten so schneller auf Veränderungen reagieren. Big data liegen in hoher Granularität, meist auf Individualebene von Menschen, Dingen und Unternehmen vor, was potenziell hochaufgelöste statistische Auswertungen erlaubt, in je nach Anwendungsfall

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

11

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

passenden Gebietseinheiten. Big data erhebt die Phänomene häufig direkt, also ohne die Konstruktion von Variablen, Proxies oder zusammengesetzten Konstrukten und reflektiert sehr unmittelbar die Praktiken und Handlungen der Menschen, Maschinen und Dinge; dies könnte erlauben, dass Statistiken „näher am Menschen sind“, da sie eben nicht auf ex-postBefragungen wie Zensen oder ähnliches angewiesen sind.

Damit einher geht der Vorteil, dass unmittelbar erhobene Daten nicht vom Willen der Interviewpartner abhängig sind und hilft daher die Umfragemüdigkeit in Zeiten einer Proliferation von Umfragen im Alltag auf der Straße wie auch im Internet zu umgehen. Da big data meist nicht auf einzelne geographische Geltungsbereiche eingeschränkt ist wie die kommunale oder amtliche Statistik, könnten diese Daten besser vergleichbare Statistiken über unterschiedliche Hoheitsbereiche erlauben und geographische Einheiten, z. B. Städte, miteinander viel besser vergleichbar machen als bisher. All dieser Mehrwert würde angeblich zu nur marginalen Kosten zu bekommen sein, da die Daten ja sowieso, in anderen Kontexten, bereits produziert worden sind. Letztlich würde eine Anreicherung der amtlichen Daten durch big data eine größere Nutzbarkeit und verbreitetere Nutzung amtlicher Statistiken ermöglichen.

Um das Potenzial des Phänomens big spatial data für die Stadtforschung einschätzen zu können, müssen wir uns zuerst mit den Grundeinheiten, den digitalen Geodaten auseinandersetzen.

Digitale Geodaten Digitale Geodaten sind Daten, die eine Georeferenzierung aufweisen. Der Ortsbezug ist im besten Fall eine geographische Koordinate mit einer metergenauen Präzision, oder auch nur die Erwähnung eines Ortsnamens im Inhalt des Geodatums, der mithilfe von Gazetters (also Ortsverzeichnissen) in Koordinaten umgewandelt werden kann. Gazetters, wie z. B. das öffentlich und kostenfrei nutzbare GeoNames, weisen bestenfalls nicht nur Listen von Gemeindenamen und administrativen Ortsbezügen auf, sondern auch umgangssprachliche Orts- und Landschaftsbezeichnungen. Dies erlaubt selbst semantische Informationen, die nur in textbasierten Daten vorliegen, für eine Georeferenzierung verwenden zu können.

Obwohl es schon seit langem Geodaten aus verschiedensten Quellen gibt, erhalten diese durch ihre digitale Aufbereitung und digitale Vorhaltung neue Nutzungsmöglichkeiten durch eine vielfältige Kombination unterschiedlicher Datenquellen, so dass zum Teil emergente, also nicht vorhersehbare, Ergebnisse entstehen können (Kitchin 2014), die für die Stadtforschung erhebliches Potenzial zur Ergänzung bereits bestehender Datenquellen bedeuten können. Digitale Geodaten entstehen dabei in ganz unterschiedlichen Quellen der Kommunikation/Soziale Medien, durch Sensoren, Finanztransaktionen, Geodatendienste und anderen Internetquellen.

Eine der größten Mengen an digitalen Geodaten dürften als durch Nutzerinnen und Nutzer generierte Kommunikationsdaten anfallen, erzeugt durch die Mobiltelefonie und ihre internetbasierten Variationen (Skype, Hangouts, WhatsApp, etc.) sowie durch Soziale Medien (Facebook, Twitter, Foursquare, etc.). Weitgehend selbständig werden Geodaten durch eine

12

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

immer größer werdende Zahl von Sensoren erhoben, seien es klimatologische Messfühler, verkehrliche Zählsensoren oder RFID-Chipleser, die Produkte und ihre Standorte registrieren.

Finanztransaktionen von Börsendaten bis hin zu Kreditkartenzahlungen hinterlassen immense Mengen von Geodatenspuren, die von Unternehmen gespeichert und verarbeitet werden. Originäre Geodaten werden durch die Geodatendienste wie BingMaps, NokiaHere, OpenStreetMap oder ATKIS3 produziert, aber eben auch durch die bereits angesprochenen Gazetters wie GeoNames oder „Geographische Namen Deutschlands“ (GN-DE) des Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie. Damit nicht genug gibt es eine Vielzahl von weiteren Internetquellen, die Daten mit Ortsbezug erzeugen, allen voran Suchanfragen bei den großen Online-Suchdiensten wie Google, Yahoo oder DuckDuckGo. Um Rückschlüsse auf die Qualität und Nutzbarkeit der Daten zu erhalten, kann man digitale Geodaten nach ihrer Herkunft in von Behörden und Wirtschaftsunternehmen erhobene Daten von denen durch Nutzerinnen und Nutzer freiwillig erhobene Daten (volunteered geographic information, VGI) unterscheiden. Während Behörden bei der Erhebung von Geodaten auf Repräsentativität und Akkuratheit für eine Vielzahl von Einsatzzwecken für die Öffentlichkeit setzen (müssen), liegt der Schwerpunkt bei der Datenerhebung durch Wirtschaftsunternehmen auf der zeitlichen Nähe der Erhebung und der selektiven Nutzung im Wirtschaftsunternehmen selbst; dies hat erhebliche Konsequenzen für die Datenqualität und Nutzbarkeit der privatwirtschaftlich erhobenen Geodaten in anderen Kontexten. Geodaten, die von den Nutzerinnen und Nutzern selbst erhoben werden, werden hingegen für die im jeweiligen Projekt gesetzten Ziele erhoben. Daher ist es notwendig, die VGI-Projekte näher zu betrachten, um Aussagen über die Datenqualität und Nutzbarkeit in Hinblick auf die Stadtraumbeobachtung zu erhalten.

VGI-Projekte sind insbesondere im Kontext der neogeography zu sehen: neogeography beschreibt die Auflösung traditioneller Rollenverteilung zwischen institutionellen Anbietern geo- und kartographischen Wissens z. B. durch die Landesvermessungsämter und Geographischen Institute an Hochschulen und Universitäten auf der einen Seite und den Laien als Nutzern dieses Wissens auf der anderen Seite. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Proliferation des Internets zusammen mit den Entwicklungen in der Informationstechnik dazu geführt, dass immer mehr Menschen Zugang zu Informationen und Informationsverarbeitungs- und Veröffentlichungswerkzeugen erhalten haben, neben geographischen Expertinnen und Experten auch viele Laien. Für Letztere ist der Umgang mit Geodaten und deren Verarbeitungswerkzeugen mittlerweile vielfach sehr geläufig. Neogeography verweist dabei auf die persönliche Interaktion von Individuen mit geographischer Information für meist persönliche Zwecke, wohingegen VGI die Datensammlung für ein überindividuelles Ziel darstellt.

Neogeographische Initiativen, die z. B. VGI-Projekte – eines der prominentesten davon dürfte OpenStreetMap sein – aufbauen, unterscheiden sich dabei von der Beschäftigung mit Geodaten durch Experten, die meist auch in der Analyse und Auswertung überindividuelle Ziele verfolgen; dennoch fühlen sich die geographische Academia als auch behördliche Geodatenanalysten durch diese herausgefordert. Es gilt jedoch das

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Potenzial der neogeographischen Initiativen zu evaluieren, in Austausch mit diesen zu treten und für die Stadtforschung, wo möglich, zu nutzen (vgl. Wilson/Graham 2013).

Zwei der weltweit größten VGI-Projekte sollen hier kurz beispielhaft verglichen werden: zum einen OpenStreetMap (OSM), die 2004 gegründete Initiative, eine freie Alternative zur amtlich topographischen Karte Großbritanniens durch freie Mitarbeit zu erschaffen. Zum anderen Wikimapia, eine 2006 in Russland gegründete Plattform, die angetreten ist, um laut Eigenaussage „die Welt zu beschreiben“. Obwohl beide Plattformen mittlerweile ungefähr gleich viele Nutzerinnen und Nutzer haben (über 2 Millionen Registrierungen) könnten die Intentionen der beiden Projekte unterschiedlicher nicht sein: während OSM eine möglichst präzise Abbildung der Erdoberfläche, von allem, „was man sehen kann“, liefern möchte, möchte Wikimapia „nützliche Beschreibungen aller geographischen Objekte weltweit“4 erreichen. Dies hat natürlich Auswirkungen auf die Datenqualität und Nutzungsmöglichkeiten der beiden Projekte. Während OSM der amtlich topographischen Karte, zumindest in ihrer Akkuratheit nachstrebt, eignet sich Wikimapia eher nicht zum Navigieren, liefert aber viele qualitative Informationen u. a. auch für Gazetters (vgl. Bittner im Druck).

OpenStreetMap eignet sich daher für die Stadtraumbeobachtung eher; die Datenqualität muss jedoch auch hier geprüft werden (siehe hierzu den Beitrag von Matthias Plennert).

Nicht alle durch Nutzerinnen und Nutzer erhobene Geodaten (user generated content oder UGC) sind freiwillig erhoben, also volunteered geographic information (VGI). Nur Geodaten, die Nutzer willentlich und wissentlich erheben, sollten als VGI bezeichnet werden: dies trifft auf alle Geodatendienste wie OpenStreetMap oder Google Map Maker zu, aber auch auf Soziale Medien, Internetseiten und Smartphone-Apps, die nicht nur explizit machen, dass sie Geodaten erheben, sondern bei denen die Nutzerin/der Nutzer z. B. durch das Klicken auf einen Knopf der Sammlung zustimmen müssen (opt in). Dienste, bei denen man sich der Sammlung von Geodaten zwar verweigern kann, dies jedoch z. B. durch Knopfdruck erst erfolgt (opt out), oder Dienste die Geodaten ohne explizite Nachfrage erheben, werden als contributed geographical information (CGI) bezeichnet; hierunter fallen z. B. Mobilfunkdaten (vgl. Harvey 2013). CGI eignen sich nicht besser oder schlechter als VGI für die Stadtraumbeobachtung; Ethikgrundsätze erfordern jedoch eine vorsichtigere Handhabung von CGI, insbesondere deswegen, weil vielen Nutzern dieser Dienste die potenziellen Nutzungsmöglichkeiten der beigetragenen Daten nur zum Teil oder gar nicht bewusst sind.

Zuletzt sind Geodaten auf ihre Zugänglichkeit und rechtliche Nutzbarkeit zu unterscheiden: Geodaten von privatwirtschaftlichen Unternehmen sind zumeist proprietäre Geodaten. Der Zugang ist dabei häufig kostspielig bis unmöglich, die Nutzungsrechte sehr restriktiv. Dies gilt insbesondere für Mobilfunkdaten. Behörden und öffentliche Einrichtungen sind in Deutschland seit 2013 durch das E-Government-Gesetz dazu angehalten, behördlich erfasste Daten als OpenData bereitzustellen. OpenData sind Daten, die frei zugänglich und mit einer Lizenz versehen sind, die eine einfache Weiterverwendung und -verarbeitung ermöglichen. Selbst Unternehmen bieten mittlerweile Geodaten als OpenData an, wie z. B. die Deutsche Bahn. Die meisten Geodaten liegen jedoch immer noch nur als

öffentliche Daten vor, also als für die Allgemeinheit zugänglich und nutzbare Daten, die jedoch zum Teil Restriktionen unterliegen, sei es durch eine Einschränkung in der Lizenz oder der Datenbereitstellung. So bieten z. B. alle großen privatwirtschaftlichen Dienste der sozialen Medien, wie z. B. Facebook, Twitter, Foursquare oder GoogleMaps, Schnittstellen (APIs) an, um auf ihre Geodaten zugreifen zu können.

Proprietäre Geodaten & Stadtforschung Proprietäre Geodaten, also Daten, die nicht frei verfügbar sind, können sich gleichwohl für die Stadtraumbeobachtung eignen. Neben städtischen Behörden und Ämtern, die dies mit den ihnen zur Verfügung stehenden Daten sowieso bereits tun, gibt es auch immer mehr Unternehmen, die Geodaten sammeln, sei es bewusst (wie z. B. im Fall von Facebook, Twitter oder Foursquare) oder beiläufig (wie im Fall von Suchmaschinenabfragen oder Mobilfunkdaten). Gerade Mobilfunkdaten, auch Call Record Data (CDR) genannt, die vor allem aus technischen und Abrechnungsgründen sowieso von den Telekommunikationsanbietern gespeichert werden, stellen sich als spannende Quelle für sozialwissenschaftliche Raumfragen heraus, wie die Forscherinnen und Forscher um Rein Ahas im „Mobility Lab“ an der Universität Tartu, Estland, dem MIT Senseable Lab um Carlo Ratti, USA und der NorthEastern University, USA im Center for Complex Network Research um Albert-László Barabási in ihren Studien seit dem Jahr 2005 zeigen konnten.

Mit CDR lassen sich z. B. Intensitäten von Aktivitäten und Mobilitätsmuster von Menschen in der Stadt analysieren (Ratti et al. 2006) oder Wohn-, Arbeits- und Freizeitorte bestimmen (Ahas et al. 2010) (siehe Abbildung 1). CDR eignen sich damit potenziell für vielfältige Anwendungen im SmartCity-Kontext vom Transportwesen, über Sicherheitsaspekte bei Großveranstaltungen bis hin zur Tourismus- und Wirtschaftsförderung (für einen Überblick siehe Steenbruggen et al. 24.04.2014) und darüber hinaus z. B. für feingliedrigere Bevölkerungsstatistiken wie die Studien der Orange D4D Challenge5 zeigen, jedoch immer abhängig vom Zugang und Qualität der Daten. Zum einen ist der Zugang zu CDR in Deutschland extrem schwierig, da die Telekommunikationsanbieter aufgrund des strengen Datenschutzrechts kaum zu Kooperationen mit unabhängigen Wissenschaftlern bereit sind; da CDR sehr detaillierte Rückschlüsse auf Einzelpersonen zulassen, ist dies zwar einerseits gerechtfertigt, erschwert aber andererseits eine ethisch reflektierte Nutzbarmachung des Potenzials dieser Geodaten.

Zum anderen, selbst wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Zugang erhalten, ist es fraglich, in welchem Grad die Daten vorprozessiert sind und damit eventuell aufgrund von Anonymisierungsmaßnahmen in einigen Kontexten nicht mehr auswertbar sind; je nach Granularität, also der Detailliertheit der CDR sowie der Kontextualität können Auswertungen daher mehr oder weniger gut durchgeführt werden.

Prinzipiell könnten Mobilfunkdaten die Stadtstatistik und Stadtplanung aufgrund ihrer hochaufgelösten raum-zeitlichen Granularität sinnvoll unterstützen, ergänzen und validieren helfen, jedoch vermutlich nur, wenn hochsensible persönliche Standort- und Verbindungsdaten über lange Zeiträume aus-

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

13

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Abbildung 1: Bestimmung von Wohn-, Arbeits- und Freizeitorten durch CDR in der Stadt (Quelle: Ahas et al. 2010)

Abbildung 2: The Neighborhood Project – nutzergenerierte Stadtteilabgrenzungen (Quelle: hood.theory.org)

14

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

wertbar sind. Auch wenn die Ergebnisse anonymisiert genutzt und präsentiert werden, dürfte hierzu erstmal ein Wandel in der gesellschaftlichen Akzeptanz der Analyse solcher Geodaten notwendig sein.

Öffentliche Geodaten & Stadtforschung Öffentliche digitale Geodaten sind, gegenüber proprietären digitalen Geodaten, für jeden und jede mit Internetzugang frei zugänglich. Öffentlich ist dabei nicht gleichbedeutend mit nutzergenerierten Geodaten (GeoUGC); im Rahmen von OpenData bieten z. B. viele Behörden ihre Daten zur öffentlichen Weiternutzung an; ebenso bieten z. B. die meisten Social Media-Unternehmen wie Facebook oder Twitter mittlerweile application programming interfaces (APIs) an, um einen Teil ihrer Geodaten öffentlich zugänglich zu machen. Öffentlich nutzbare GeoUGC müssen auch nicht unbedingt freiwillig erhobene Geodaten, also VGI, sein. Als Beispiel dafür soll das „Neighborhood Project“ von zwei Künstlern, Matt Chisholm und Ross Cohen, dienen (Chisholm/Cohen 2005), in dem sie auf Grundlage von Immobilienanzeigen auf Craigslist6 in San Francisco, USA, eine Zuordnung von Adressen zu Stadtteilen durchführen. Die Nutzer auf Craigslist tragen zu Miet- oder Kaufzwecken die Standortdaten ihrer Immobilien und einen Stadtteil ein, in dem die betreffende Immobilie liegt. Das „Neighborhood Project“ nutzt nun diese öffentlichen Geodaten weiter, um daraus eine kognitive Karte zu Stadtteilen zu erstellen, die aus einer Vielzahl von Vorstellungen Einzelner die Grenzen von Stadtteilen näher beleuchtet. Diese von Neogeographen entwickelte Funktion unterstützt damit die von offizieller Seite häufig vermiedene Abgrenzung von Stadtteilen, die durch unterschiedliche Verständnisse in der Bevölkerung häufig umstritten sind (siehe Abbildung 2).

In dieser Art gibt es vermehrt neogeographische Initiativen, um mit öffentlichen und insbesondere offenen Geodaten den Stadtraum zu beobachten, zu analysieren und Impulse für die Stadtforschung und Stadtpolitik zu geben. Häufig greifen diese im Sinne eines counter-mapping (Rundstrom 2009) Themen oder Sichtweisen auf, die einer behördlichen oder privatwirtschaftlichen Sicht widersprechen oder diese kritisch reflektieren. In Deutschland, aber auch weltweit, treten dabei die Open Knowledge Foundation und ihre lokalen Ableger der Open Knowledge Labore (OK Labs) im Rahmen ihres codeforProjektes (www.codefor.de/oklabs/) verstärkt auf den Plan, die sich offene Daten der jeweiligen Städte vornehmen, um durch kritische Stadtraumanalysen andere Anbieter von Stadtforschungsergebnissen zu ergänzen.

Neben den neogeographischen Initiativen versuchen auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, vor allem aus der Geographie, Soziologie, den Medienwissenschaften und der Ökonomie, öffentliche Geodaten für die Stadtforschung einzusetzen. Dabei greifen sie vor allem auf öffentliche Daten aus der Privatwirtschaft zurück: Twitter, Foursquare und Google Streetview sind bisher die einzigen Unternehmen, deren Geodaten für die wissenschaftliche Analyse zur Stadtforschung verwendet wurden; im VGI-Sektor spielt OpenStreetMap eine Rolle (siehe dazu den Beitrag von Matthias Plennert in diesem Heft). Twitter ist ein Soziales Medium für Kurznachrichten,

Foursquare startete als soziales Netzwerk, ist heute jedoch eher eine standortbezogene Empfehlungsseite und Google Streetview ist ein Straßenatlas mit 360°-Fotoansichten. Alle drei Dienste speichern ihre Daten mit Georeferenzierung oder bieten die Möglichkeit, die Daten mit Georeferenzierung zu speichern. Die digitalen Geodaten aller drei Unternehmen sind per API abruf- und auswertbar.

Die geringe Anzahl an wissenschaftlichen Studien7 zur Stadtraumbeobachtung anhand von digitalen Geodaten ist nur zum Teil durch die Neuheit der auszuwertenden Quellen zu erklären und verweist vielmehr auf die Probleme bei der Datenqualität, Repräsentativität und letztlich ihrer Aussagekraft.

Im Folgenden möchte ich die drei am vielversprechendsten dieser Studien näher vorstellen: eine ökonomische Studie zur städtischen Wirtschaftspolitik anhand von Foursquare-Daten der Universität Amsterdam, Niederlande, sowie zwei Studien zur Gentrifizierung von Stadtteilen, eine davon anhand von Twitter-Daten an der Universität von Südkalifornien, USA, eine andere anhand von Google Streetview-Daten an der HarvardUniversität, USA. In einer Studie zu städtischer Wirtschaftsförderung greifen die Ökonomen der Universität Amsterdam (Arribas-Bel et al.

06.08.2013) neuere wirtschaftsgeographischen Thesen um das Konzept des urban buzz auf, um diese anhand von FoursquareDaten zu testen. Urban Buzz ist ein Konzept aus der geographischen Innovationsforschung, das besagt, dass Innovationen besonders häufig in einem „kreativen Milieu“ entstehen; neben dem Vermögen der Firmen selbst, sei ihre Innovationsfähigkeit insbesondere von den soziokulturellen Ressourcen der sie umgebenden Umwelt abhängig. Dieser Umwelt in ihrer Manifestation in einzelnen Stadtvierteln wird nachgesagt, dass sie mitunter einzigartige geographische Bedingungen und Möglichkeiten herstellen würden, soziokulturelle Ressourcen entstehen zu lassen oder dort zu versammeln. Urban Buzz stellt dabei das Ergebnis von sozialer Dichte, geographischer Nähe und den Verbindungsmöglichkeiten dar, die dadurch entstehen. Urban buzz wird durch eine hohe soziokulturelle Vielfalt in diesen Stadtvierteln unterstützt. Arribas-Bel und seine Kollegen weisen darauf hin, dass urban buzz bisher selten empirisch gemessen worden ist. Hier setzt ihre Studie anhand einer quantitativen Analyse von Foursquare-Daten in der soziokulturell sehr vielfältigen Stadt Amsterdam an.

Foursquare erlaubt Nutzern andere Nutzerinnen und Nutzer im sozialen Netzwerk über ihre Anwesenheit an einem Ort zu informieren (sogenannter check-in). Diese check-ins können in hoher raum-zeitlicher Granularität aus dem Datendienst ausgelesen werden. Rückschlüsse auf den Datenproduzenten sind jedoch dabei nicht möglich. Da die urban buzz-Thesen postulieren, dass der urban buzz insbesondere in soziokulturell diversen Stadtteilen besonders intensiv sei, haben die Wissenschaftler ihre 70.000 für Amsterdam zur Verfügung stehenden Datensätze räumlich mit ethnisch heterogenen Stadtvierteln einerseits korreliert; ethnische Heterogenität wurde hierbei als Proxy für soziokulturelle Vielfalt gewählt. Andererseits wurden die Daten mit der unterschiedlichen Landnutzung in der Stadt korreliert, um ökonomisch besonders aktive Teile der Stadt zu identifizieren. Die verwendeten Regressionsmodelle zeigen eine signifikant hohe positive Korrelation der check-ins mit kreativwirtschaftlicher, touristischer und verkehrlicher

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

15

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Nutzung von Orten oder Vierteln in der Stadt auf, ebenso wie mit Büronutzung insbesondere in Industriegebieten, die in andere Nutzungsformen umgewandelt wurden. Gleichzeitig weisen sie eine signifikant positive Korrelation mit ethnisch vielfältigen Vierteln auf. Die Autoren schließen daraus auf eine Bestätigung ihrer Hypothese, dass soziokulturelle Vielfalt urban buzz verursacht, und dies insbesondere in stark wirtschaftlich genutzten Gebieten Amsterdams. Sie schlagen daher die Förderung soziokultureller Vielfalt in Stadtvierteln vor, die sich für eine kreativwirtschaftliche Nutzung besonders eignen, um das innovationsgesteuerte Wirtschaftspotenzial der Stadt bestmöglich ausschöpfen zu können.

Diese erste Studie zeigt das Potenzial von big spatial data auf, indem neue Wege der empirischen Verifikation von wirtschaftswissenschaftlichen Hypothesen im städtischen Umfeld getestet werden. Gleichzeitig zeigt die Studie auch einige Limitationen der Arbeit mit diesen Daten auf: obwohl die Geodaten eine hohe Präzision aufweisen, sind sie nur eingeschränkt wissenschaftlich analytisch nutzbar, da Kontextinformationen, wie z. B. soziodemographischer Hintergrund der Produzentinnen und Produzenten dieser Daten oder der Bedeutungsgehalt der check-ins fehlen.

Bryan Schaefer verwendet Twitter-Daten in seiner Studie zum Risiko einer gentrifizierungsbedingten Verdrängung von Wohnbevölkerung in Los Angeles und vergleicht diese mit einer etablierten zensus-basierten Methode (Schaefer Dec 2014). Obwohl Verdrängung auch ohne Gentrifizierungsprozesse auftreten kann, sind diese doch meist daran beteiligt; also Prozesse, in denen durch einen Anstieg der Nachfrage nach Wohnraum, die Immobilien- und Mietpreise so stark steigen, dass die angestammte Mieterschaft und z. T. auch Hauseigentümer ihren Wohnstandort aufgeben müssen und fortziehen. Da es jedoch bisher keine Möglichkeit gibt, die Fortzüge, sowohl dem Grund nach, als auch dem neuen Wohnort nach zu verfolgen, hatten sich Analysen bisher auf die verfügbaren Daten der amtlichen Statistik, in den USA insbesondere auf die regelmäßig jede Dekade vorliegenden Zensen, bezogen.

Abbildung 3: Kerneldichte-Karte georeferenzierter schlüsselwortgefilterter Tweets (Quelle: Schaefer 2014)

16

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Die Stadt Portland, Oregon, hat hierzu 2012 eine Analysemethode entwickelt, die anhand vier verschiedener Variablen für die zensusbezogenen statistischen Raumeinheiten (census tracts) der Stadt einen Vulnerabilitätsindikator hinsichtlich eines Verdrängungsrisikos ermittelt hat. Datengrundlage sind die Variablen „Mieteranteil“, „Anteil farbiger Bevölkerung“, „Anteil der Bevölkerung mit Bachelorabschluss“ und „Anteil der Haushalte, deren Haushaltseinkommen unter 80 % des Median-Familieneinkommens ist“ auf Grundlage des Zensus und der demographischen Daten des U.S. Department of Housing and Urban Development. Schaefer hat nun in seiner Studie zum einen die Methode der Stadt Portland auf Los Angeles übertragen und gleichzeitig digitale Geodaten verwendet, um eine alternative Herangehensweise zu testen. Rund 340.000 Twitter-Daten, die er innerhalb eines halben Jahres in Los Angeles als georeferenzierte Kurznachrichten gesammelt hat, hat er auf Verdrängung und Gentrifizierung hinweisende Wörter durchsucht. Die so gefilterten Geodaten wurden dann als Kerneldichte-Karte gezeichnet (vgl. Abbildung 3).

Der Vergleich der beiden Methoden zeigt, dass der auf dem Zensus basierende Vulnerabilitätsindikator gut die Stadtbezirke in Los Angeles mit hohem Verdrängungsrisiko einschätzt, die von der Stadtverwaltung als aufzuwertende Gebiete eingestuft und gefördert werden. Die schlüsselwort-bezogene Tweet-Dichte konnte hingegen keine Risikogebiete ausweisen, sondern nur Gebiete in denen Gentrifizierung bereits stattgefunden hatte; dies aber dann mit deutlich höherer geographischer Genauigkeit und daher auch Eingrenzbarkeit als es die zensusbasierte Methode erlaubt.

Schaefer evaluiert seine Studie selbst: Die Methode des Vulnerabilitätsindikators ist limitiert durch die Datenverfügbarkeit. Obwohl statistische Daten von amtlicher Seite bis auf census blocks erhoben werden (250 x 250 Fuß entspricht ca.

75 m²), liegen die im Indikator verwendeten Daten nur auf den sehr viel größeren census tracts vor. Dazu werden die Zensen nur alle zehn Jahre erhoben und haben daher auch einen bis zu zehnjährigen Versatz, was die Aussagekraft der Daten erheblich einschränkt. Twitter-Daten hingegen haben sich als ungeeignet für den Einsatz als Früherkennungsindikator für drohende Verdrängung erwiesen; Schaefer erklärt dies durch die „reaktionäre Nutzerbasis“ des Kurznachrichtendienstes.

Daneben gibt es technische Einschränkungen: historische Twitter-Daten sind für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur schwer und kostspielig zu erhalten.

Die letzte hier vorgestellte Studie von Hwang und Sampson (2014) beschäftigt sich auch mit Gentrifizierung in den USA, nimmt jedoch den Einfluss von Rasse bzw. Hautfarbe unter die Lupe. In ihrer Studie in Chicago führen sie eine Wiederholungsuntersuchung einer Studie aus den 1990er Jahren durch, um Veränderungen des gleichen Phänomens zu detektieren.

Digitale Geodaten verwenden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Bestimmung von gentrifizierten städtischen Räumen und der sichtbaren Veränderung dieser Räume im Vergleich zur Vorgängerstudie; in dieser wurden Anzeichen von Gentrifizierung noch durch händische Aufzeichnungen bei einer physischen Begehung sowie durch Videoaufzeichnungen erhoben. Hwang und Sampson nutzen dazu nun Google Streetview-Daten, durch die sie die einzelnen städtischen Nachbarschaften anhand von drei wissenschaftlichen

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Konstrukten klassifizieren und so in den „GentrifizierungsLebenszyklus“ von Stadtvierteln einordnen (vgl. Abbildung 4): die „strukturelle Mischung“ einer Gegend aus alten und neuen Elementen, die auf sichtbare Aufwertung hinweisen; sichtbare „Verschönerungsmaßnahmen“; und das Nicht-Vorhandensein von Unordnung und Verfall. Alle drei Konstrukte wurden definiert, operationalisiert und intersubjektiv validiert (inter-rater validity). Die Google StreetView-Beobachtungen wurden in einen Indikator aus diesen drei Konstrukten überführt und mit weiteren Datenquellen verglichen, um die Gültigkeit der Zuordnungen sicherzustellen. Der Geolytics Neighborhood Change Database wurde auf census tract-Ebene die Armutsrate, der Anteil an Hauseigentümern und die Leerstandsrate entnommen; die Datenbank der Polizei Chicago steuerte die Mordraten und die Chicago Community Adult Health Study „beobachtete Unordnungsdaten“ bei. Die Studie kommt nach aufwendigen Analysen, die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen, zu dem Schluss, dass ein Prozentsatz von mehr als 40 % an Schwarzen die Gentrifizierungsprozesse in Chicagoer Stadtteilen stoppt oder verhindert, und sich somit rassenspezifische Ungleichheit in städtischen Transformationsprozessen fortsetzt.

Hwang und Sampson sehen in der Nutzung von Google Streetview-Daten eine gute Möglichkeit aufwendige Begehungen in der Realwelt zu vermeiden, da die 360°-Stadtansichten in US-amerikanischen Städten spätestens nach vier Jahren aktualisiert werden.

Ob eine virtuelle Begehung, die einen Bias von immerhin bis zu vier Jahren aufweisen kann, tatsächlich arbeitsökonomischer ist, sei dahingestellt – immerhin lässt sich so eine inter-rater validity erreichen ohne die vergleichenden Wissenschaftler auch „ins Feld“ schicken zu müssen. Für Deutschland ist die Nutzung dieser digitalen Geodaten jedoch nicht möglich, da Google 2008 am Widerstand von Datenschützern gescheitert ist, Deutschland flächendeckend zu fotografieren. Mittlerweile verfolgen weder Google noch andere Unternehmen die Idee weiter, Straßenansichten in Deutschland flächendeckend zur Verfügung zu stellen. Offene Geodatendienste für Straßenansichten sind gerade erst im Aufbau, wie z. B. OpenStreetView. org; eignen sich daher erstmal nicht für die Stadtforschung.

Evaluation des Einsatzes von digitalen Geodaten für die Stadtforschung In die euphorischen Stimmen des Einsatzes von digitalen Geodaten für die Stadtforschung mischen sich immer mehr Misstöne: Michael Batty, renommierter Stadtforscher und Verfechter sozial-statistischer Stadtraumbeobachtung am University College London (UCL) stellt, zum Beispiel, in seinem Aufsatz (2014) zu SmartCities, die auf einem hohen Einsatz und Verflechtung einer Vielzahl von digitalen Geodatensätzen aufbauen, ernüchtert fest, dass bisherige informationstechnische Verfahren sogar daran scheitern, die Verkehrsflüsse im öffentlichen Nahverkehr von London zu analysieren, obwohl mehrere große Datensätze zum Nutzerverhalten und den Verkehrsmittelbewegungen vorliegen.

Obwohl, wie Kitchin (16.04.2015) in seinem Bericht zum Stand der Forschung der Nutzung von big data im Rahmen behördlicher Statistik deutlich macht, das Potenzial digitaler Geodaten für eine Ergänzung der amtlichen Statistik groß und verlockend erscheint, gibt es doch einige Herausforderungen, insbesondere im Zusammenhang mit proprietären Geodaten, aber auch mit öffentlich zugänglichen.

Proprietäre Geodaten sind für die Stadtforschung nur schwer zugänglich, da diese Daten für Unternehmen häufig ihren strategischen ökonomischen Vorteil darstellen und die Unternehmen somit die Daten nur ungerne teilen. In Fällen, in denen sie anderen Zugang gewähren, ist dies meist mit hohen Kosten verbunden oder mit Public-Private-Partnership-Verträgen, die häufig zu Ungunsten der öffentlichen Verwaltung geschlossen werden. Der Zugang ist bei weitem nicht die einzige Herausforderung: viel komplexer stellt sich die Datenprüfung dar, die sich häufig alleine dadurch als schwierig herausstellt, da Unternehmen ihre Erhebungsmethodik der Daten nicht offenlegen wollen oder können. Amtliche Daten und wissenschaftlich erhobene Daten setzen hohe Qualitätsstandards, da sie vor allem einen objektiven bzw. unabhängigen Blick auf die Welt liefern und potenziell Aussagen über die gesamte Bevölkerung treffen wollen. Dies trifft auf von Unternehmen erhobene Daten häufig nicht zu, sind diese doch maßgeschneidert auf die spezifischen Verwertungsbedürfnisse ausgelegt. Die Daten sind daher zuerst auf die Zweckmäßigkeit, Repräsentativität, Präzision und Verlässlichkeit zu prüfen. Durch die verwertungsspezifischen Erhebungskontexte proprietärer Geodaten, lässt die Kohärenz der Daten häufig auch zu wünschen übrig, da Dienste und Sensoren unterbrochen sein können, was insbesondere bei Stromgrößen (streaming data) wie Mobilfunk-

Abbildung 4: Typologie des Gentrifizierungs-Lebenszyklus von Stadtvierteln

Quelle: Hwang und Sampson 2014

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

17

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

daten oder Daten sozialer Medien durchaus vorkommen kann.

Das Nutzungsverhalten vieler Dienste privatwirtschaftlicher Geodaten-Anbieter ist häufig durch Alter und Technikaffinität verzerrt, so dass Analysen dieser Daten einen erheblichen bias enthalten, wodurch die Nutzung dieser Daten einschränkt sein kann. Neben Zugang, Kosten und Datenprüfung kann es auch noch Probleme beim technischen Umgang mit digitalen Geodaten geben, vom Datentransfer über die Datenhaltung bis zur Verknüpfung mit bestehenden Datenbanken, die in wissenschaftlichen Einrichtungen mit technischer Expertise vermutlich leichter zu lösen sind, als in Behörden.

Auch auf öffentlich zugängliche Geodaten treffen viele der gerade angesprochenen Herausforderungen zu, insbesondere die des technischen Zugangs und der Datenqualität. Darüber hinaus steht der dauerhafte öffentliche Zugang zu digitalen Geodaten immer in der Gefahr, dass privatwirtschaftliche Anbieter den Zugang aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen kappen oder neogeographische Initiativen nicht weiter fortgesetzt werden.

daten, allen voran Mobilfunkdaten, würden sich gut für die Beobachtung von stadträumlichen Prozessen eignen; eine breite Anwendung ist jedoch vorerst aufgrund der hohen datenschutzrechtlichen Herausforderungen nicht zu erwarten. Öffentlich zugängliche, und hierbei vor allem offene Geodaten, hingegen werden voraussichtlich in den nächsten Jahren die Stadtforschung erheblich unterstützen können, da sie eine hohe Datenaktualität und raum-zeitliche Auflösung haben, sowie zu geringen Kosten weiter verarbeitbar sind. Hierzu ist es jedoch notwendig Datenqualität und Entstehungskontext der jeweiligen digitalen Geodaten mit zu berücksichtigen.

1

2 3 4

Fazit Obwohl es mittlerweile eine immer größer werdende Menge an proprietären und öffentlichen digitalen Geodaten gibt und damit potenziell immer mehr Analysen der Stadtforschung und Stadtraumbeobachtung darauf zugreifen könnten, sehen wir eine eher schleppende Entwicklung in diesem Feld. Sie ist der Komplexität und den Herausforderungen im Umgang mit diesen digitalen Geodaten geschuldet. Proprietäre Geo-

5

6 7

Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag des Autors im Rahmen der Sitzung "Jenseits von Registern und Umfragen: Nutzung und Potenzial von neuen Datenquellen für Planung und Politik" aus dem Programm des VDSt zur Statistischen Woche 2015 in Hamburg.

Statistisches Bundesamt 2015: Daten aus dem Gemeindeverzeichnis.

Grad der Verstädterung nach Fläche und Bevölkerung auf Grundlage des Zensus 2011 und Bevölkerungsdichte. Wiesbaden.

ATKIS = Amtlich topographisches Karteninformationssystem http://wikimapia.org/docs/About_Wikimapia#What_is_Wikimapia (20.12.2015) Die Studien des Forschungswettwerbs „Data for Development Senegal“ des Telekommunikationsanbieters Orange haben vielfältige Möglichkeiten aufgezeigt, Mobilfunkdaten produktiv im Statistikund Entwicklungskontext in Wert zusetzen, siehe http://www.d4d. orange.com Craigslist ist ein Online-Kleinanzeigennetzwerk Stand September 2015 konnte der Autor nur weniger als zehn publizierte wissenschaftliche Studien explizit zur Stadtforschung mit öffentlichen Geodaten identifizieren.

Literatur Ahas, R. et al. (2010): Using Mobile Positioning Data to Model Locations Meaningful to Users of Mobile Phones. In: Journal of Urban Technology 17 (1), 3–27.

Arribas-Bel, D., Kourtit, K. und Nijkamp, P. (2013): Socio-cultural Diversity and Urban Buzz. – Tinbergen Institute Discussion Paper.

Batty, M. (2014): Deconstructing Smart Cities. In: Pinto, N.N. (Hrsg.): Technologies for urban and spatial planning. Virtual cities and territories.

– Advances in civil and industrial engineering (ACIE) book series 2326-6139. Hershey: Information Science Reference, 1–13.

Bittner, C. (Im Druck): Diverse crowds, diverse VGI? Comparing OSM and Wikimapia in Jerusalem. In: Geoforum.

Budhathoki, N. R., Bruce, B. und Nedovic-Budic, Z. (2008): Reconceptualizing the role of the user of spatial data infrastructure. In: GeoJournal 72 (3–4), 149–160.

Chisholm, M. und Cohen, R. (2005): The Neighborhood Project. hood.theory.org/ (22.12.2015).

18

Hahmann, S. und Burghardt, D. (2012): Forschungsergebnisse zur Frage: Haben 80 % aller Informationen einen Raumbezug? In: GIS.SCIENCE. Die Zeitschrift für Geoinformatik 25(3), 101–108.

Harvey, F. (2013): To Volunteer or to Contribute Locational Information? Towards Truth in Labeling for Crowdsourced Geographic Information. In: Sui, D., Elwood, S. und Goodchild, M.F. (Hrsg.): Crowdsourcing geographic knowledge.

Volunteered geographic information (VGI) in theory and practice. Dordrecht, New York: Springer, 31–42.

Hwang, J. und Sampson, R.J. (2014): Divergent Pathways of Gentrification. Racial Inequality and the Social Order of Renewal in Chicago Neighborhoods. In: American Sociological Review 79 (4), 726–751.

Kitchin, R. (2014): Big Data, new epistemologies and paradigm shifts. In: Big Data & Society 1 (1).

Kitchin, R. (2015): Big data and official statistics.

Opportunities, challenges and risks. – The Programmable City Working Paper.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Ratti, C. et al. (2006): Mobile Landscapes. Using Location Data from Cell Phones for Urban Analysis. In: Environ Plann B Plann Des 33 (5), 727–748.

Rundstrom, R. (2009): Counter-Mapping. In: Kitchin, R. und Thrift, N. (Hrsg.): International Encyclopedia of Human Geography. Amterdam, London, Oxford: Elsevier, 314–318.

Schaefer, B. (2014): Social media to locate urban displacement:. Assessing the risk of displacement using volunteered geographic information in the city of Los Angeles. Master Thesis.

Los Angeles.

Steenbruggen, J., Tranos, E. und Nijkamp, P. (2014): Data from mobile phone operators: A tool for smarter cities? Amsterdam. – Research Memorandum.

Wilson, M. W. und Graham, M. (2013): Neogeography and volunteered geographic information: a conversation with Michael Goodchild and Andrew Turner. In: Environment and Planning A 45 (1), 10–18.

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Silke Cuno, Matthias Flügge, Benjamin Dittwald

Starting by Starting!

Fortschritt im europäischen Open Data Strategieprozess durch das neue Europäische Datenportal Open Data im Digitalen Binnenmarkt

Dr. -Ing. Matthias Flügge leitet den Geschäftsbereich Digital Public Services (DPS), der die Kompetenzen rund um die Themen eGovernment und öffentliche IT bündelt, am Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme (FOKUS). : matthias.fluegge@fokus.fraunhofer.de Silke Cuno Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DPS. : silke.cuno@fokus.fraunhofer.de Benjamin Dittwald Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DPS. : benjamin.dittwald@fokus.fraunhofer.de Schlüsselwörter: Open Data – Europäisches Datenportal – Metadaten-Profil DCAT-AP

Die Europäische Kommission bereitet den EU-Binnenmarkt auf das digitale Zeitalter vor. Sie arbeitet daran, regulierungsbedingte Barrieren zu beseitigen, die 28 nationalen Märkte zu einem einzigen zusammenzuführen und Start-ups, Unternehmen sowie Behörden in die Lage zu versetzen, die Vorteile digitaler Technologien für ihre Geschäftsentwicklung umfänglich zu nutzen.

Im Mittelpunkt der „Digitalen Agenda Europas“1 stehen Daten als Basisressource der neuen wissensbasierten Wirtschaft sowie darauf aufbauend neue branchenübergreifende Geschäftsmodelle und innovative Dienste. Daten und datengetriebene Dienste verschaffen Überblick, verhelfen zu neuen Schlussfolgerungen, bringen mehr Informiertheit und Rationalität in politische und wirtschaftliche Diskurse. Es ergeben sich weiterhin neue Zugänge und Möglichkeiten der Teilhabe am wirtschaftlichen, politischen und sozialen Geschehen.

Unter dem Begriff „Open Data“ werden Daten verstanden, die der Allgemeinheit in maschinenlesbarer Form und unter freien Lizenzen zur Weiterverwendung bereitgestellt werden – zumeist von öffentlichen Stellen. Der wirtschaftliche Wert dieser „offenen Daten“ wird hoch eingeschätzt. Man verspricht sich neben dem Entstehen ganz neuer Dienstleistungen eine verbesserte Qualität der Dienste. Internationale Studien erwarten, dass Open Data zur Steigerung des Wirtschaftswachstums in den G-10-Staaten um 1,1 Prozent innerhalb von fünf Jahren beitragen wird. Außerdem verspricht man sich erhebliche Effizienzgewinne für bestehende staatliche und private Dienstleistungen2.

Eine flankierende Maßnahme beim Aufbau des Digitalen Binnenmarktes besteht in der Förderung und Entwicklung der Innovationspartnerschaft „Smart Cities und Communities“.

Offenen, urbanen Daten wird in diesem Kontext eine bedeutende Rolle für innovative „Smart Cities“-Dienstleistungen und -Anwendungen zugeschrieben. Von besonderem Interesse sind dabei georeferenzierte Daten und Echtzeitdaten – z. B. von Infrastruktur-Sensoren in Straßen, Parkplätzen, Luftmessstationen und Energienetzen. Für Unternehmen ist der Aspekt der unentgeltlichen Bereitstellung dabei häufig untergeordnet. Als erfolgskritisch wird von dieser Zielgruppe hingegen angesehen, dass Datenressourcen dauerhaft und zuverlässig verfügbar sind. Die Erarbeitung von Vorgaben für die Datenqualität und von Geschäftsmodellen, die Open Data praktisch nutzbar machen, ist komplex und erfordert iterative

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

19

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Abstimmungsprozesse unter Beteiligung der Stakeholder aus Politik, Verwaltung, Datenschutz, Wirtschaft und Technologie.

Das von der Kommission im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung beauftragte Europäische Datenportal dient als zentraler Einstiegspunkt für die Suche nach Daten des öffentlichen Sektors in Europa. Das Portal basiert auf gemeinsamen Datenstandards, Metadatenmodellen, Datenverknüpfungen, Nutzungsregeln und Best Practice-Beispielen. Durch den einfacheren grenzüberschreitenden Zugang zu und durch die Wiederverwendung von (offenen) Datenbeständen in hoher Qualität sollen Anreize zur Umsetzung neuer Dienstleistungen und Geschäftsmodelle im europäischen Raum geschaffen werden.

Seit November 2015 ist nun die erste Betaversion des Europäischen Datenportals online verfügbar.3 Sie startete mit über 250 000 Datensätzen aus über 30 europäischen Ländern. Somit kommen die Daten nicht nur aus den 28 EU-Mitgliedsstaaten, sondern auch aus den Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums und von EU-Beitrittskandidaten.

Open Data im Vergleich Art, Menge und Herkunft der offenen Daten sind nicht beschränkt. So sollen im Idealfall alle Daten öffentlich zugänglich sein, wenn nicht explizite Gründe, wie z. B. Personenbezug oder Sicherheitsbedenken dagegen sprechen. Es kann sich dabei um geographische, klimatische, soziale, wirtschaftliche, Gesundheits- und Mobilitätsdaten sowie um Echtzeitdaten oder auch historische Daten handeln.

Zahlreiche Untersuchungen deuten darauf hin, dass über Open Data gesellschaftliche Wohlfahrtseffekte erzielt werden könnten. Steuerliche Einnahmen, die die neuen, auf Open Data basierenden Dienste mit sich bringen, sollen zur Entlastung kommunaler Haushaltsdefizite beitragen, und damit eventuelle Ausfälle von Einnahmen aus zuvor kostenpflichtig bereitgestellten Daten zu kompensieren. Offene Daten sollen auch innerhalb der Verwaltung zur besseren Zusammenarbeit beitragen und Aufwände reduzieren, z. B. durch einen Rückgang von Rückfragen/Auskunftsbegehren seitens der Bürgerinnen und Bürger. Die genauen Auswirkungen sind in ihrer Gesamtheit wissenschaftlich jedoch noch nicht umfänglich erschlossen.4 Um den Open Data Prozess in Gang zu bringen, erfolgten seitens der Politik im vergangenen Jahrzehnt etliche Maßnahmen, u. a. die Erarbeitung von Roadmaps, die Entwicklung und Ausarbeitung neuer rechtlicher Rahmenbedingungen, und die Vergabe von Mitteln zum Aufbau von technischen Open Data Portalinfrastrukturen auf nationaler, kommunaler oder auch auf Fachebene. Maßgebliche rechtliche Grundlage von europäischer Seite war die „Public Sector Information Richtlinie“(PSI-Directive)5 aus dem Jahre 2003. Die im Jahre 2013 grundlegend überarbeitete Richtlinie gibt konkrete Rahmenbedingungen für die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors vor. Im Juni 2013 unterzeichneten die G8-Staaten – darunter auch Deutschland – die Open Data Charta6 und sprachen sich darin für eine breite Veröffentlichung von Verwaltungsdaten im Sinne von „Open Data“ aus. Die Basisforderung: „Offene Daten als Standard“ setzen. Haushaltsdaten, Unternehmensregister und andere

20

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Regierungsinformationen sollen öffentlich zugänglich sein und dabei neben Innovation auch den Transparenzgedanken im Sinne von „Open Government“ umsetzen.

Der internationale Umsetzungsstand von Open Data variiert.

Diesen bewertet u. a. seit 2014 der „Open Data Index“7, der nun auch durch die Existenz nationaler Datenportale leichter zu evaluieren ist. Es wird u. a. ermittelt, ob in Ländern staatliche Daten aus insgesamt 13 gesellschaftlich relevanten Bereichen in digitaler Form vorliegen und öffentlich zugänglich sind. Darüber hinaus wird bewertet, ob die Daten online und kostenfrei verfügbar sind und in regelmäßigen Abständen aktualisiert werden. Pluspunkte gibt es für die Anwendung offener Lizenzen, Maschinenlesbarkeit und für große, zusammenhängende Datenmengen.8 In Europa sind Großbritannien, Dänemark und Finnland führend.9 Finnland wird als europäischer Vorreiter in der Digitalisierung angesehen. Helsinki gilt mit seinen berühmten „Hackathons“ als eine der erfolgreichsten „Open Data Cities“ weltweit. Besonders das finnische Verkehrs- und Kommunikationsministerium fördert Open Data im Kontext von MaaS-Servicekonzepten (Mobility as a Service). Besonderes Gewicht legt man in Finnland dabei auf „Inklusion“, das heißt, die Regierung unterstützt die Einbindung von Bürgern, Verwaltung, Start-ups und Privatwirtschaft in den digitalen Entwicklungsprozess der neuen Services.

Deutschland liegt derzeit im weltweiten Open Data Index auf Platz 26. Im November 2014 veröffentlichte die Bundesregierung einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Open-Data-Charta der G810. Zusätzlich zum nationalen Portal govdata.de verfügen viele Bundesländer in Deutschland über ein eigenes Open-Data-Portal und zum Teil auch eine Open Data-Strategie sowie über gesetzliche Grundlagen zur Umsetzung, z. B. mit dem „Informationsfreiheitsgesetz“ oder dem sehr weitgehenden „Hamburger Transparenzgesetz“. In vielen Bereichen hat Deutschland noch Nachholbedarf. Als stark verbesserungswürdig werden u. a. die Landeigentumsdaten, Daten zu Wasserqualität, Wetterdaten und Daten zu Regierungsausgaben gesehen.11 Auch auf kommunaler Ebene ist die Bereitstellung von offenen Daten durchaus noch ausbaufähig. Längst sind noch nicht alle Daten von öffentlichem Interesse auch als Open Data verfügbar. So werden z. B. Umweltdaten zu Emissionen oder Klimaindikatoren nur sehr spärlich bereitgestellt. Auch Daten, die im Rahmen von PublicPrivate-Partnerships auf Basis der bestehenden öffentlichen Infrastruktur entstanden sind, gehören meist nur den an der Partnerschaft beteiligten Industrieunternehmen.

Grundsätzlich ist die öffentliche Hand mit der freien Bereitstellung ihrer Datenbestände noch zurückhaltend. Hier ist ein Kulturwandel von „Daten sind geschlossen, wenn die Öffnung nicht explizit verlangt wird“ hin zu „Daten sind offen, wenn nicht explizit Gründe dagegen sprechen“ notwendig. Zudem bringt die konsequente Öffnung von Daten auch Änderungen verwaltungsinterner Prozesse und neue Verantwortlichkeiten mit sich. Ein wichtiger Hinderungsgrund ist weiterhin die Tatsache, dass die Bereitstellung und Pflege von Open Data sowie die Entwicklung und Verbesserung der Dateninfrastruktur Aufwände und Kosten verursachen.12 Die Open Data-Forderung gilt auch für Daten, die durch öffentlich geförderte Forschung entstanden sind. Hierbei sind nicht nur Veröffentlichungen gemeint, sondern es geht um

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

den Zugriff auf die wertvollen Rohdaten, die öffentlich geförderte Projekte produziert haben, zum Beispiel im Rahmen von aufwändigen und breit angelegten Erhebungen, Befragungen oder Messungen. Diese Daten sollten weiteren, möglicherweise völlig anders ausgerichteten wissenschaftlichen Untersuchungen nutzbar gemacht werden. Noch fehlt eine klare Veröffentlichungsstrategie für die sog. „Wissenschaftsdaten“.

Komponenten des Europäischen Open Data Portals Obwohl Open Data gesellschaftlich und wirtschaftlich noch als ein Entwicklungsprojekt angesehen werden kann, ist die technologische Basis bereits gut entwickelt. Mit der Freischaltung der Betaversion des Europäischen Datenportals im November 2015 ist ein fachübergreifendes System am Start, das Daten der öffentlichen Hand in Europa grenzüberschreitend nach einheitlichen Kriterien auffindbar und nutzbar macht.

Die Version 1.0 des Europäischen Portals ist seit dem 18. Februar veröffentlicht – im Frühjahr 2017 soll die Version 2.0 fertiggestellt werden.

Das Europäische Datenportal selbst beinhaltet keine Daten, es ist ein Verzeichnis von Metadaten13, mit Verweisen auf die eigentlichen inhaltlichen Daten. Dazu „harvestet“ also „erntet“ es automatisiert Metadaten aus nationalen und fachspezifischen Datenportalen, die von öffentlichen Institutionen bereitgestellt werden. Stark vertreten sind Geodatenportale, die durch die INSPIRE-Initiative14 und entsprechend standardisierte Metadaten technologisch bereits gut auf Open Data vorbereitet sind.

Das Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme (FOKUS) hat die Kernkomponenten dieses Europäischen Datenportals in einem Konsortium aus 8 Partnern15 entwickelt.

Hauptelemente sind das „Metadaten Repository“ (basierend auf der Open Source Software CKAN) und ergänzende Unterstützungsdienste für die nutzerfreundliche Suche und Weiterverwendung von Daten.

Technologisch baut das Portal auf bereits früher von FOKUS entwickelten Datenportalen auf und bietet folgende Neuerungen: 1. Das Harvester-System des Europäischen Portals „erntet“ nach der initialen Bestandsaufnahme kontinuierlich die Datensätze der „angeschlossenen“ nationalen Datenportale und übernimmt Änderungen und Neuerungen in den Metadaten. Europaweit gesammelt werden die Metadaten der nationalen Datenportale, also der „Quellportale“ aus bis zu 39 europäischen Ländern. Den nationalen Portalbetreibern soll zukünftig eine Oberfläche zur Anpassung ihrer eigenen Harvester angeboten werden. Damit sind sie selber handlungsfähig und können bei Änderungen der eigenen Metadatenstrukturen durch Anpassung der Harvester selber das weitere reibungslose Zusammenspiel mit dem europäischen Datenportal sicherstellen.

2. DCAT-AP-Standard. Nationale Portale und Fachportale verwenden z. T. stark unterschiedliche Metadatenspezifikationen. Um die Einheitlichkeit bei der Suche zu gewährleisten werden diese im Europäischen Datenportal auf die von der Europäischen Kommission empfohlenen Spezifi-

3.

4.

5.

6.

kation „DCAT-AP“16 abgebildet. DCAT-AP wurde im Rahmen des europäischen ISA-Programmes entwickelt. Durch konsequente Verwendung des DCAT-AP Standards können Daten des öffentlichen Sektors besser über Grenzen und Regionen hinweg gesucht werden. Das Europäische Portal ist eine der ersten offiziellen Implementierungen (nach Spanien), die dieses neue Metadatenbeschreibungsformat auf Basis von Linked Data einsetzt. Es könnte damit auch eine Vorbildfunktion für andere nationale Portale einnehmen.

Datenqualität: Metadaten der Herkunftsdatenportale sind nicht selten fehlerbehaftet. Existierende Links sind z. T. unterbrochen und/oder veraltet. Das Europäische Portal soll die zu durchsuchenden Portale automatisch auf diese Fehlerquellen hin überprüfen und über Fehler informieren. Somit verfügt das Europäische Datenportal über eine entsprechende Komponente, die diese gebrochenen Links identifiziert und auflistet. Automatisch und systematisch wird die Metadatenqualität der öffentlichen Datenbestände inspiziert, und es werden Möglichkeiten zur „Datenreinigung“ und Verbesserung aufgezeigt. Die derzeitige Version überprüft die Schemakonformität gegenüber DCAT-AP und überprüft die Verfügbarkeit der Links. Mit den weiteren Versionen des Portals ist geplant, die Verwendung von offenen Lizenzen und Formaten der Datensätze automatisiert zu überprüfen. Diese Funktionalität soll zu einer permanenten Verbesserung der Qualität der Metadaten auf den unterschiedlichen länderspezifischen Portalen beitragen.

Lizenzassistent: Die auf dem europäischen Portal bereitgestellten Metadaten beschreiben den Inhalt der Datensätze, aber enthalten noch weitere Informationen über die Daten, wie die veröffentlichende Institution und die entsprechenden zu dem Datensatz gehörenden Nutzungsrechte. Damit der Nutzer bei der korrekten Interpretation der einzelnen Lizenzbestimmungen unterstützt wird, beinhaltet das Europäische Portal als neue Komponente den sogenannten Lizenzassistenten. Er ermöglicht den Nutzern, die spezifischen Lizenzbedingungen zu überprüfen und bietet konkret drei Informationen: a) eine kurze Erläuterung zur Bedeutung der Lizenz, b) Informationen zur Kompatibilität der Lizenz (relevant z. B. bei der Kombination von Daten, die unter unterschiedlichen Lizenzen stehen) und c) einen „Wizard“, der bei der Auswahl einer Lizenz für bereitzustellende Daten hilft.

Zugänglichkeit: Ein weiteres, neues Funktionsmerkmal ist die sogenannte „Cross-linguale Abfrage“ Die Ergebnisse der Metadatenabfrage über das Europäische Datenportal sollen in 24 Sprachen über ein Webinterface zugänglich gemacht werden. Dadurch ist es möglich, Datensätze zu finden, die nicht in der Sprache des Nutzers veröffentlicht wurden. In der derzeitigen Betaversion werden Ergebnisse der Suche (wie Titel und Beschreibung der Datensätze) auf Wunsch in den Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch ausgegeben.

Die Abfrage nach Datensätzen kann auch geolokationsbzw. kartenbasiert durchgeführt werden. Dafür kann in einer Karte auf dem Webinterface der geographische Bereich oder die Region eingeschränkt werden. Außerdem

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

21

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

wurde seitens des deutschen Konsortialpartners conterra eine Komponente entwickelt, die die Daten auf einer Karte visualisiert. Das funktioniert natürlich nur, wenn die Daten entsprechende Informationen in standardisierten Formaten enthalten.

7. Das europäische Portal beinhaltet eine Feedback-Funktion. Gemäß den oben erläuterten politischen Anforderungen nach Inklusion im Open Data-Kontext, soll die Weiterentwicklung des Portals nicht ausschließlich der Spezifikation des Auftraggebers folgen, sondern den „Nutzern“ Möglichkeiten zum Feedback geben. Fragen und Kommentare aus Nutzersicht und Rückmeldungen der anderen europäischen Portalbetreiber sind willkommen!

1 2 3 4

5 6 7

Das Fraunhofer- Institut für Offene Kommunikationssysteme (FOKUS) entwickelt in seiner Abteilung „Digital Public Services“ (DPS) Strategien, Architekturen und Infrastrukturen für sichere und kooperative eGovernment-Lösungen. Fraunhofer FOKUS begleitet die Open Data Bewegung von Beginn an und hat zahlreiche Open Data Portale auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene konzipiert und umgesetzt.

8 9 10 11

Starting by Starting17

12

„Damit Open Data erfolgreich ist, muss man den Mut haben, es auszuprobieren und bereit zu sein, mehrere Anläufe zu machen.“18 Open Data befindet sich noch in den Kinderschuhen. Mit dem Europäischen Datenportal ist ein weiterer Schritt in Richtung der flächendeckenden Umsetzung von Open Data im europäischen Raum gemacht. Im Rahmen dieses Prozesses werden noch viele politische und wirtschaftliche Abstimmungen und Maßnahmen sowie technologische Verbesserungen erforderlich sein.

Die Herausforderungen liegen u. a. darin, das Bewusstsein für die Chancen und den Nutzen von offenen Daten bei Datenbereitstellern und –nutzern zu schaffen, praktische Hilfestellung für beide Seiten zu bieten und gemeinsam, neue Open Databasierte Geschäftsmodelle und Anwendungen zu entwickeln.

Flankiert wird das europäische Projekt deshalb von weiteren Aktivitäten, die der Unterstützung von Datenbereitstellern und Datennutzern dienen. Das reicht von der Erstellung von Trainingsunterlagen und der Durchführung von Workshops bis hin zu High-Level-Veranstaltungen, bei denen fortgeschrittene EU-Länder die „Anfänger“ in Sachen Open Data an ihren Erfahrungen und Erfolgsrezepten teilhaben lassen. Hier bringt auch das „Open Data Institute“19 als Partner des Gesamtkonsortiums seinen Erfahrungsschatz ein. Insbesondere ist eine bessere Verschaltung der Angebots- und Nachfrageseite notwendig.

Datenbereitsteller müssen in die Lage versetzt werden, ihre Daten zuverlässig zur Verfügung zu stellen und besser beurteilen zu können, welche Daten die Nachfrageseite benötigt.

22

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

13 14

15 16

17

18

19

Vgl: Communications Networks, Content and Technology, European Commission Directorate General, DG Connect, What we do, unter: https://ec.europa.eu/dgs/connect/en/content/dg-connect.

Vgl. Open for Business: How Open Data Can Help Achieve the G20 Growth Target, June 2014 at: https://www.omidyar.com/sites/default/ files/file_archive/insights/ON%20Report_061114_FNL.pdf.

Das Portal ist erreichbar unter: http://www.europeandataportal.eu/.

Vgl. State of the Art in Open Data Research: Insights from Existing Literature and a Research Agenda, by Mohammad Alamgir Hossaina, Yogesh K Dwivedib* & Nripendra P. Rana, Chapter Impediments/ Challenges/Risks, Page 23, in: Journal of Organizational Computing and Electronic Commerce, ISSN: 1532-7744. 2015, URL: http://www. tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/10919392.2015.1124007.

PSI – Public Sector Information see: http://ec.europa.eu/digitalagenda/en/european-legislation-reuse-public-sector-information Vgl. deutsche Übersetzung des G8 – Gipfelkommuniqués (URL: http:// www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/G8_G20/g8-lougherne-communique-de.html).

Vgl. Aktueller Open Data Index der Open Knowledge Foundation 2015, URL: http://index.okfn.org/place/.

Vgl. https://okfn.de/blog/2015/12/veroeffentlichung_opendataindex/.

Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen mit anderen Spitzenreitern, siehe jüngst: https://www.capgemini-consulting. com/resource-file-access/resource/pdf/open_data_value.pdf.

Vgl. https://www.verwaltung-innovativ.de/SharedDocs/Publikationen/Pressemitteilungen/nationaler_aktionsplan_open_data_ deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=5.

Zitat von der OKF Knowledge Foundation Deutschland, URL: https:// okfn.de/blog/2015/12/veroeffentlichung_opendataindex/.

Vgl. State of the Art in Open Data Research: Insights from Existing Literature and a Research Agenda, by Mohammad Alamgir Hossaina, Yogesh K Dwivedib* & Nripendra P. Rana, Chapter Impediments/ Challenges/Risks, Page 23, in: Journal of Organizational Computing and Electronic Commerce, ISSN: 1532-7744. 2015, URL: http://www. tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/10919392.2015.1124007.

Unter Metadaten oder Metainformationen versteht man dabei Daten, die Informationen über Merkmale anderer Daten oder Datensammlungen enthalten.

Vgl: RICHTLINIE 2007/2/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 14. März 2007, zur Schaffung einer Geodateninfrastruktur in der Europäischen Gemeinschaft (INSPIRE), http://inspire. ec.europa.eu/.

Das Konsortium besteht aus den Firmen Capgemini, Intrasoft International, Fraunhofer FOKUS, con terra, Sogeti, Open Data Institut, Time.Lex und der University of Southampton.

Vgl: DCAT-AP empfiehlt die Daten so strukturiert zu veröffentlichen, dass diese bei Suchabfragen verknüpft werden können und semantische Abfragen sinnvolle Ergebnisse liefern können. Der Standard dient der portal-, sprach- und grenzübergreifenden Datensatzsuche.

URL:https://joinup.ec.europa.eu/asset/dcat_application_profile/description.

Der Ausdruck wurde übernommen aus dem Konferenzbericht der Konrad Adenauer Stiftung zur Veranstaltung: „Wir müssen den Wert der offenen Daten erkennen“ Experten diskutierten über die Nutzung und Herausforderungen von Open Data, Berlin, 14. Dez. 2015, Ausdruck von Volker Buscher, Direktor bei ARUP in London. Arup ist ein Ingenieurbüro mit Firmensitz in London. Es stellt für den Bereich Bauwesen Dienstleistungen wie Engineering, Design, Planung, Projektmanagement und Beratung zur Verfügung. Unter: http://www. kas.de/wf/de/33.43706/.

Vgl: Zitat aus dem Konferenzbericht. Veranstaltungsbeiträge der Konrad Adenauer Stiftung, „Wir müssen den Wert der offenen Daten erkennen“ Experten diskutierten über die Nutzung und Herausforderungen von Open Data, Berlin, 14. Dez. 2015, unter: http://www. kas.de/wf/de/33.43706/.

Open Data Institute (ODI), unter: http://opendata.institute/.

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Günther Bachmann

Umweltqualität und Umweltgerechtigkeit – Zur Kombination von Internetdaten und Statistikinformationen am Beispiel der Wissenschaftsstadt Darmstadt1 Aufgrund der hohen Verkehrsbelastung im Stadtgebiet Darmstadts mit etwa 75 000 Einpendlern täglich sowie Durchfahrten von LKW und PKW aus den anliegenden Kreisen ist die Stadt stark von Umweltproblemen, insbesondere von Straßenverkehrslärm und Feinstaub belastet. In mehreren Kooperationen von Technischer Universität, Hochschule, städtischen Verkehrsbetrieben, kommunalen Ämtern und des Regierungspräsidiums Südhessen wurden in mehrjährigen Prozessen eine Vielzahl von Lösungen erarbeitet, die zur Verbesserung der Umweltqualität in Darmstadt beitragen sollen. Eines der wichtigsten Ziele der Kooperationen ist die Erhebung von Lärm-, Temperatur- und Umweltdaten mittels eines Umweltnetzwerkes. Voraussetzung für die erarbeiteten Lösungsvorschläge war das Aufstellen eines komplexen Sensornetzwerkes im Stadtgebiet, die Koordination der Datenerfassung und die Auswertung der gesammelten Daten.

Trotz schwieriger Ausgangslage durch verschiedene Interessenslagen aus Politik, Forschung, Nahverkehr und städtischen sowie übergeordneten Behörden konnten die Projekte zu einem Erfolg werden. Der Beitrag beschreibt die Ausgangslage, die Rolle der amtlichen Darmstädter Statistik im Prozessverlauf, den Aufbau des Umweltnetzwerkes und an einem Beispiel die soziale und demografische Situation der Bürger in einer hochbelasteten Hauptverkehrsstraße.

Günther Bachmann M. A., Abteilungsleiter im Amt für Wirtschaft und Stadtentwicklung, Abteilung für Statistik und Stadtforschung der Wissenschaftsstadt Darmstadt. : guenther.bachmann@darmstadt.de Schlüsselwörter: Verkehr – Umweltqualität – Umweltdaten – Feinstaub – Sensorik

1

Ausgangslage: Wachsende Stadt mit hoher Verkehrs- und Umweltbelastung

Die Wissenschaftsstadt Darmstadt liegt im südlichen Teil der Metropolregion Frankfurt-Rhein-Main und zählt mit ihren vielen wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen, ihren drei Universitäten bzw. Hochschulen, den europäischen bzw. internationalen Einrichtungen und einer Vielzahl gut aufgestellter IT- und Dienstleistungsfirmen sowie einem modernen industriellen Kern zu den europäischen Wissenschaftsstädten. „Darmstadt ist Schwarmstadt“ – unter diesem Motto kann die Entwicklung der Stadt in den letzten zwei Jahrzehnten betrachtet werden. Denn neben einer Steigerung der Einwohnerzahl um mehr als 20.000 Personen von 1995 bis 2015 nahm auch die Zahl der Arbeitsplätze, der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und die Zahl der Erwerbstätigen2 drastisch zu. Auch die zunehmende Integration der Stadt in die Metropolregion Frankfurt-Rhein-Main sowie das Anwachsen des Agglomerationsraumes rund um Darmstadt führten zu erheblichen Pendlerbewegungen im Großraum, die zu größeren Teilen durch den Individualverkehr mittels eigenen PKWs durch die Betroffenen gelöst wurde.

Zur Verschärfung der Situation zu Beginn der 2000er Jahre hatten mehrere Fehlentwicklungen vergangener Jahrzehnte beigetragen: so das Modell der „Autostadt“ Darmstadt aus den 1960er Jahren, die Schwierigkeit der Politik, moderne und angemessenere Lösungen für die wachsende Mobilität zu finden und die Lage Darmstadts mit starken Pendlerbewegungen von Ost nach West durch die Stadt sowie von Nord nach Süd und umgekehrt ebenfalls durch die Stadt.

Das Modell „Autostadt“ geriet Ende der 1970er Jahre in eine schwere Krise, da sich Bürgerinnen und Bürger mit einer der ersten Bürgerinitiativen erfolgreich gegen eine „Autobahn“ durch Darmstadts Stadtviertel wehrten und damit das Modell in Teilen zu Fall brachten. Endpunkt dieser Entwicklung war das Scheitern des letzten großen Neubau-Straßenprojektes, der Nordostumgehung Darmstadts, im Jahr 2011, als im Rahmen eines Bürgerentscheids die Spaltung der Bürgerschaft bezüglich des Projekts offensichtlich wurde und dies letztendlich auch zum Ende sozialdemokratischer Stadtregierungen – nach mehr als 60 Jahren politischer Dominanz in der Stadt – führte.

Die Suburbanisierung der 1960er und 1970er Jahre hatte jedoch zu einem deutlichen Auseinanderreißen von „Arbeiten“,

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

23

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

„Wohnen“, „Bildung“ und „Freizeit“ für die Bürgerinnen und Bürger im gesamten Agglomerationsraum geführt, vor allem jedoch zur Problematik des Hineinpendelns in die Stadt zum Arbeitsplatz, aber auch zum Einkaufen, in die höheren Schulen, die Universitäten u. v. m.

Die mit dem Konzept der „Wissenschaftsstadt Darmstadt“ verfolgte Strategie der 90er Jahre mit erhöhter Wohnbautätigkeit im „Innenbereich“, Verbesserung der Innenstadtlagen, Ansiedlung moderner Industrien und Dienstleister führte zu einem Anwachsen der Bevölkerung in den eher vernachlässigten innenstadtnahen Bezirken und zum Entstehen der „Schwarmstadt“, die in erheblichem Maße junge Hochqualifizierte sowie junge Familien in diesen Quartieren anzog und damit die Kehrtwende der Suburbanisierung3 einleitete.

Die hier nur angedeuteten sozialstrukturellen Veränderungen, das Scheitern des Konzepts „Autostadt Darmstadt“ und die erheblichen Mobilitätsprobleme führten zu einer politischen und konzeptionellen Wende, die im deutlichen Zuwachs der Stimmen für die Partei der Grünen bei den Kommunalwahlen und der Oberbürgermeisterwahl in 2011 ihren Ausdruck fanden.

Die Stadtentwicklung Darmstadts musste sich den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts stellen; sie musste versuchen, mit neuen Methoden, Ansätzen und Technologien die Herausforderungen der stark wachsenden Stadt mit ihren Verkehrs- und Umweltproblemen zu lösen. Dies konnte nur in einer Vision der „smarten Stadt der Zukunft“ gelingen, die sich modernster Verfahren der Bürgerbeteiligung, der Problemanalyse, der Umweltsensoren-Netzwerke und anderer Möglichkeiten bediente. Dabei zeigten sich insbesondere zwei bedeutende Herausforderungen: zum einen mussten Lösungen wegen der wachsenden Feinstaubbelastung in der Stadt, auch durch das erhöhte Verkehrsaufkommen mit verursacht, gefunden werden, zum anderen gab es Bürgerproteste wegen Lärm in mehrfach belasteten städtischen Teilräumen.

2

Big Data und das Lärmproblem in einem mehrfach belasteten städtischen Teilraum

Seit Jahren ist die enorme Lärmbelastung in einer Darmstädter Hauptverkehrsstraße, der Heinrichstraße, für Anwohnerinnen und Anwohner ein Problem. Hohe Lärmbelastungswerte sind in dieser Hauptverkehrsstraße nicht nur tagsüber, sondern auch nachts festzustellen. Dies wurde bereits 2009 im Lärmaktionsplan, Teilplan Straßenverkehr des Regierungspräsidiums Darmstadt festgestellt: „Aufgrund der hohen Verkehrsbelastung im Stadtgebiet mit rund 75.000 Einpendlern täglich sowie Durchfahrten des Umlandes ist die Stadt Darmstadt stark von Straßenverkehrslärm belastet. Hohe Lärmbelastungswerte sind nicht nur tagsüber, sondern auch nachts festzustellen.“ Die Heinrichstraße ist eine Bundesstraße und das „Eintrittstor“ für Pendler aus dem Osten des Landkreises DarmstadtDieburg und Odenwaldkreis mit täglich etwa 24.000 PKW, somit eine der höchst belasteten Straßen in Darmstadt. Die in 2011 vorgenommene Schallausbreitungsrechnung ergab (nach RLS 90 Heinrichstraße) Tageswerte von 75 dB und mehr.

Auch die Nachtwerte lagen mit 70 bis 75 dB weit über den erträglichen Grenzen. Damit war offensichtlich geworden, dass Umweltbelastungen in Darmstadt sozial und räumlich

24

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Abbildung 1: Lage der Heinrichstraße im Stadtgebiet Darmstadts

Abbildung 2: Typische Lärmbelastung entlang der Heinrichstraße tagsüber

Daten: www.da-sense.de

ungleich verteilt sind. In städtischen Gebieten, wie z. B. der Heinrichstraße mit starkem Verkehrsaufkommen, sind deshalb die gesundheitlichen Belastungen durch Umwelteinflüsse wie Lärm und Feinstaub besonders hoch.

So ergab es sich, dass 2011 das „Projekt Heinrichstraße Arbeitsgruppe Lärm“ gegründet wurde, mit der Absicht, als Pilotprojekt in Darmstadt verschiedene Verfahren zur Lärmverminderung zu testen und durchzuführen. Ein wichtiges Ziel war die Einführung von Tempo 30 nachts in der Heinrichstraße, dafür war jedoch die Genehmigung durch das Regierungspräsidium nötig. Als Folgerung ergab sich die Notwendigkeit, ein aufwendiges Verfahren mit Messungen zu Geschwindigkeiten der PKW und LKW, zur Lärmmessung, zu umfangreichen Verkehrszählungen und des erstmaligen Einsatzes von Flüsterasphalt als Straßenbelag zu testen und umzusetzen.

Die damalige CDU-FDP-Landesregierung wollte aus verschiedenen Erwägungen heraus keine Einschränkungen auf Bundesstraßen zulassen, dennoch konnten immerhin drei Pilotprojekte in Hessen durchgesetzt werden, davon zwei in Frankfurt am Main und eben eines in Darmstadt in der Heinrichstraße.

Als Besonderheit wurde in Darmstadt die Beteiligung der Anwohnerinnen und Anwohner sowie eine Bürgerbefragung der betroffenen Straßenabschnitte geplant und durchgeführt.

Das Modellprojekt „Heinrichstraße in Darmstadt“ zur Verminderung des Verkehrslärms in dieser hoch belasteten Straße sollte dann in Kombination mit Daten der amtlichen Statistik zur Bevölkerungsstruktur, zu sozialen und gesundheitlichen Daten sowie einer umfangreichen Bürgerbeteiligung durchgeführt wer-

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

den, was letztendlich auch erfolgreich gelang.

Voraussetzung jedoch war die Erhebung bzw.

Ermittlung der möglichst kleinräumigen Daten zu Lärmbelastungen, zu Verkehrsdaten, zu Bevölkerungsdaten; einzig die kleinräumig nicht vorhandenen Gesundheitsdaten mussten aus den Lärmmessungen abgeleitet werden.

Die Auswertung dieser kleinräumigen Bevölkerungs- und Sozialdaten entlang der gesamten Heinrichstraße ergab folgende sozialräumliche Analyse: - in der Heinrichstraße lebt ein hoher Anteil älterer Mitbürger/innen, sowohl Deutsche wie Ausländerinnen und Ausländer; - ferner lebt dort ein hoher Anteil junger Familien mit Kindern, zumeist deutscher Staatsangehörigkeit; - der Anteil der Studierenden ist ebenfalls deutlich über dem Quartiers- und Stadtdurchschnitt, insbesondere sind dies Studierende mit nichtdeutscher Nationalität und - dort wohnt ein hoher Anteil an Ausländer/innen, die in Erwerbstätigkeit in der Stadt tätig sind.

Alle Daten wurden in einem Gemeinschaftsprojekt von amtlicher städtischer Statistik und der Hochschule Darmstadt erhoben und insbesondere – auf Darmstadts Durchschnittswerte bezogen – ausgewertet. Detaillierte Ergebnisse der Befragung wurden auf der Statistischen Woche 2015 in einem Vortrag vom Autor vorgestellt und werden differenziert im Tagungsband der Vorträge, herausgegeben vom Verband deutscher Städtestatistiker, dargestellt.

Abbildung 3: Beispiel Verkehrsbelastung

Abbildung 4: Beispiel für Visualisierung von da_sense

Sehr neu war der Aufbau eines Sensornetzwerkes zur Erfassung der Umweltdaten, insbesondere der Lärmmessungen. So wurden diese anfänglich mit punktuellen Messstationen von der Hochschule Darmstadt durchgeführt, später kam der Aufbau des neuen Umwelt-Sensornetzwerkes der Messtätigkeit sehr zur Hilfe.

Die Maßnahmen zur Verbesserung der Lärmproblematik in diesem mehrfach belasteten städtischen Teilraum der Heinrichstraße führten zur Erarbeitung und Umsetzung eines Maßnahmenkataloges: - Lärmminderung durch Tempo 30 in den Nachtstunden (22 bis 6 Uhr) - Aufbringen von sogenanntem Flüsterasphalt auf bestimmten Straßenabschnitten - Installation einer Geschwindigkeits-Messsäule zur Überwachung des Verkehrsflusses - Begrünung bestimmter Bereiche des Straßenumfeldes - eine Anwohnerbefragung mit Vollerhebung sowohl vor als auch nach Maßnahmen)

Nach rund vier Jahren Arbeit am Projekt Heinrichstraße kann folgendes Resümee gezogen werden, welches Darmstadts Lokalzeitung „Darmstädter Echo“4 schön zusammengefasst hat: „Anwohner der Heinrichstraße wollen Tempo 30 nicht mehr missen.“ Erreicht wurden folgende Ziele: - deutliche Reduzierung der Lärmbelastung, insbesondere nachts - Verbesserung der Nachtruhe (ca. 61 dB [A] statt 68 bis 70 dB [A]) - deutliche Reduzierung des Schallpegels (generell 3 bis 4 dB [A] alleine durch Flüsterasphalt) – Kontrolle der „Verkehrssünder“ durch stationäre Messsäule

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

25

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

-

Kontrolle der aktuellen Lärmwerte durch Internet-Seite www.da-sense.de Ferner ergab sich ein Folgeprojekt „Tempo 30“ für die ebenfalls hoch belastete Frankfurter Straße in Darmstadt.

3

Aufbau und Betrieb des Umwelt-Sensornetzwerks

Um in Darmstadt Umweltdaten zu erheben, haben die Technische Universität und die Wissenschaftsstadt Darmstadt im Zuge der oben dargestellten Umorientierung der Umwelt- und Mobilitätsanforderungen acht Darmstädter Straßenbahnen der städtischen Straßenverkehrsbetriebe HEAG mobilo mit speziellen Messgeräten ausgestattet. Die auf den Straßenbahnwagen montierten Sensoren messen entlang der Straßenbahnlinien verschiedene Umweltdaten und übermitteln diese auf die Internet-Plattform www.da-sense.de. Auf dieser Plattform führen Informatiker der TU Darmstadt zudem weitere Umwelt- und Verkehrsdaten zusammen, unter anderem von allen 171 Ampelanlagen aus dem Stadtgebiet.

Die Sensoren messen während jeder Straßenbahnfahrt kontinuierlich Temperatur, Luftfeuchtigkeit sowie Helligkeit, die so erfassten Messwerte werden an einen Rechnerknoten in Darmstadts Rheinstraße übermittelt. Die gesammelten Daten nutzt das Darmstädter Umweltamt, um eine aktuelle Mikroklimakarte der Innenstadt zu erstellen, ferner können die aktuellen Werte im Internet auf der Sensornetzwerkseite aktuell abgerufen werden. Über die Informationen der Straßenbahnen-Sensoren hinaus führt das Fachgebiet Telekooperation der TU Darmstadt in dem Projekt „da-sense“ weitere Daten aus dem Darmstädter Stadtgebiet zusammen. Sämtliche Daten des Sensornetzwerks sind im Internet frei verfügbar und werden automatisch visuell aufbereitet. So wurde in Darmstadt mittlerweile ein bundesweit einzigartiges Sensornetzwerk aufgebaut, das sich durchaus zum Vorbild für andere Städte entwickeln könnte, wie der Leiter der Fachgruppe Telekooperation, Prof. Dr. Max Mühlhäuser bei der Einführung des Sensornetzwerks5 feststellte.

Das Straßenverkehrs- und Tiefbauamt der Wissenschaftsstadt Darmstadt liefert via Glasfasernetzwerk in Echtzeit die Daten von 171 an Ampeln in den Straßen eingelassenen Induktionsschleifen auf die Internetplattform. Diese messen die Zahl der Überfahrten und lassen damit Rückschlüsse auf die Verkehrsdichte und den Verkehrsfluss im Stadtgebiet zu. Das ist in der Fülle der Daten und in der Schnelligkeit der Datenerhebung ein sicherlich bundesweit sehr besonderes Projekt.

Für die oben angesprochenen Lärmmessungen haben die Wissenschaftler der TU Darmstadt ein weiteres Verfahren mit dem Sensornetzwerk aufgebaut. Um die Lärmbelastung in Darmstadt möglichst flächendeckend zu erheben, ist die Lärmkarte des Projekts „da-sense“ auch auf die Unterstützung interessierter Darmstädter Bürger angewiesen. So kann sich zur Projektunterstützung jeder Besitzer eines Smartphones kostenlos eine von den TU-Informatikern programmierte App6 herunterladen. Das kleine Programm macht das Smartphone zum mobilen Sensor – auf Knopfdruck misst es den aktuellen Lärmpegel in der Umgebung und überträgt die Daten auf die Internet-Plattform7.

26

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

4

Zusammenfassung

Mit den Herausforderungen durch die Verkehrs- und Umweltsituation hat sich in der Wissenschaftsstadt Darmstadt eine neue Art der modernen Sensortechnik etabliert, die der Vermeidung von Lärmbelastungen und der Reduzierung von Umweltbelastungen dienen wird. Durch das hybride Sensornetzwerk wurden eine deutlich höhere Sensoren-Dichte und die Vernetzung verschiedener Sensoren zur Umwelt- und Verkehrsbelastungsmessung erzielt.

Bisher wurden in Darmstadt Umweltdaten mit wenigen sehr teuren stationären Sensoren an nur einigen ausgewählten Punkten einer Stadt gemessen und diese Ergebnisse dann für die gesamte Stadt hochgerechnet. Durch ein mobiles und hybrides Netz, in dem sehr viele kleine und sehr günstige Sensoren und eine gewisse Anzahl höherwertiger Sensoren die Messungen der teuren Sensoren ergänzen, ist es möglich, ein insgesamt deutlich präziseres Gesamtbild zu erhalten.

Von besonderer Bedeutung ist die Anonymität der Daten, die Berücksichtigung des Informationsrechts der Bürgerinnen und Bürger und der erhebliche Nutzen für die Stadtgesellschaft, die mit den gewonnenen Daten über die weiteren Ziele der Stadtentwicklung auf sachlicher Grundlage diskutieren und entscheiden kann. „Denn schließlich ist es Aufgabe einer Administration, auf ihre Bürger zu hören und mit ihnen zusammen Visionen zu entwickeln. Zwar führen manche Experimente zu Musterlösungen für alle, doch jede Gemeinde hat einzigartige Bedingungen und Ressourcen.“8

1

2

3 4 5 6

7

8

Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag des Autors im Rahmen der Sitzung „Jenseits von Registern und Umfragen: Nutzung und Potenzial von neuen Datenquellen für Planung und Politik“ aus dem Programm des VDSt zur Statistischen Woche 2015 in Hamburg.

Siehe die ausführlichen Berichte zur Darmstädter Beschäftigungssituation in: Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Arbeitsmarkt in Darmstadt – Die Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Arbeitslosigkeit in der Wissenschaftsstadt Darmstadt im Überblick (1990–2000), Statistische Berichte 1. Halbjahr 2000, Darmstadt 2000; ders., Die Beschäftigungssituation in der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Statistische Berichte 2. Halbjahr 2002, Darmstadt 2003; ders., Darmstadts Ein- und Auspendler, Statistische Berichte 1. Halbjahr 2007, Darmstadt 2007; ders., Erwerbstätigkeit und Beschäftigung in Darmstadt, Statistische Berichte 2. Halbjahr 2009, Darmstadt 2010 sowie aktuell: ders., Geringfügig Beschäftigte in der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Statistische Berichte 1. Halbjahr 2015, Darmstadt 2015 Siehe dazu den Demografiebericht, in: Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Demografiebericht, Statistische Mitteilungen, Heft 1/2011, Darmstadt 2012 Darmstädter Echo vom 03.09.2015 05.10.2012 Presseerklärung der Wissenschaftsstadt Darmstadt anlässlich der Eröffnung des Sensornetzwerks vom 05.10.2012 Die App „Noisemap“ der TU Darmstadt ist für Android-Geräte frei verfügbar und kann unter dem folgenden Link heruntergeladen werden: https://play.google.com/store/apps/details?id=de.tudarmstadt. tk.noisemap Siehe dazu die Veröffentlichungen von Immanuel Schweizer, Mitarbeiter am Fachgebiet Telekooperation, und seinem Team auf den Internetseiten https://www.tk.informatik.tu-darmstadt.de/de/research/ und smart-urban-networks/da-sense/ Carlo Ratti, Anthony Townsend, Die smarte Stadt der Zukunft, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft April 2012, S. 67

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Matthias Plennert

Anwendungsreif? Nutzung und Potenzial von digitalen Geodaten für Stadtforschung und Raumbeobachtung am Fallbeispiel OpenStreetMap1 In diesem Beitrag wird OpenStreetMap (OSM) als ein Beispiel für digitale Geodaten vorgestellt. OSM ist ein VGI-Projekt, das nicht mit amtlichen Organisationen und Strukturen zu vergleichen ist.

Das zeigt sich schon beim Zugang: OSM steht unter der Open Database License und ist sowohl dem Open Data, als auch den Open Source Bewegungen zuzuschreiben. Die Daten selbst werden von der sehr heterogenen community freiwillig erhoben. Durch die offene Datenhaltung bietet sich OSM als Ausgangspunkt für Nutzungsszenarien in der Stadtforschung und Raumbeobachtung an. In Rahmen des Beitrags soll erörtert werden, welche Besonderheiten bei der Nutzung von OSM-Geodaten zu beachten sind und welche Chancen diese bieten können. Insgesamt haben die OSM-Geodaten bereits heute, vor allem in großen Städten, einen hohen Detailgrad erreicht. Zuverlässige Aussagen, die mehrere Jahre in die Vergangen reichen, sind allerdings bisher nur in Ausnahmen möglich. Wenn die OSM-Beitragenden in den kommenden Jahren weiterhin so aktiv bleiben, sind in Zukunft detaillierte raum-zeitliche Analysen auf Basis von OSM-Daten möglich.

Matthias Plennert M. A., seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kulturgeographie des Instituts für Geographie, FAU ErlangenNürnberg : Matthias.plennert@fau.de Schlüsselwörter: Geodaten – OpenStreetMap

Das OpenStreetMap-Projekt Das OpenstreetMap-Projekt (OSM) ist eines der am häufigsten genannten Beispiele für nutzergenerierte Geodaten. Dabei nimmt OSM eine Sonderstellung ein: das Projekt startete 2004 mit dem Ziel, eine offen zugängliche Alternative für den Ordnance Survey, das britische Vermessungsamt, zu erstellen.

OSM gehört heute zu den gut organisierten und strukturierten Projekten, welche das Ziel der Datenerhebung und -bereitstellung verfolgen. Durch die offene Datenhaltung bietet sich OSM als Ausgangspunkt für Nutzungsszenarien in der Stadtforschung und Raumbeobachtung an. In diesem Beitrag soll erörtert werden, welche Besonderheiten bei der Nutzung von OSM-Geodaten zu beachten sind und welche Chancen diese bieten können.

Nutzergeneriete Daten, sogenannter User Generated Content (UGC), können auf verschiedene Weisen kategorisiert werden. Dabei spielt für UGC in erster Linie das Kriterium der Datenerstellung eine Rolle: die Daten werden von Nutzern und Nutzerinnen im Internet erhoben. Andere Kriterien wie die Freiwilligkeit oder die Intention der Datenerhebung sind dafür zunächst irrelevant. Dasselbe gilt auch für geographic User Generated Content (gUGC) im geographischen Kontext.

Volunteered Geographic Informationen (VGI), ein Begriff der ursprünglich durch Goodchild (2007) geprägt wurde, bildet eine Teilmenge von gUGC. Nach längerer Diskussion in Fachkreisen hat sich inzwischen ein ausdifferenziertes Verständnis von VGI gebildet. Sowohl gUGC als auch VGI beschreiben nutzergenerierte Geodaten. Im Unterschied zu gUGC sind VGI jedoch freiwillig und bewusst gesammelt worden, um sie anschließend offen zur Verfügung zu stellen (Elwood et al. 2012: 575).

Mit dem erklärten Ziel, digitale Geodaten zu erheben und diese offen zur Verfügung zu stellen, ist OSM ein VGI-Projekt.

Bei der Geodatenerhebung, dem sogenannten mapping, gibt es in OSM keine räumlichen oder thematischen Grenzen. OSM hat sich so zum erfolgreichsten Anbieter von VGI entwickelt.

Dabei ist OSM in erster Linie als eine wiki-community zu verstehen: es besteht aus einer Gemeinschaft aus Beitragenden, die das gemeinsames Ziel verfolgen, ihre erstellten Inhalte zu teilen. Sie arbeiten freiwillig aus einer intrinsischen Motivation heraus. Die Beitragenden teilen das gemeinsame ideelle Ziel, Geodaten frei verfügbar zu machen.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

27

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Seit 2004, dem Gründungsjahr von OSM, hat die community eine umfangreiche technische Infrastruktur entwickelt. Neben den Editoren oder Kartendarstellungen stellt dabei vor allem die Datenbank das Herzstück des Projekts dar. Hier werden die gesammelten Geodaten gespeichert. Die Datenbank dient als Basis für alle Anwendungen von OSM-Daten. Die bekannteste Anwendung ist dabei wahrscheinlich die Kartendarstellung auf der Website www.osm.org. Sucht man nach OSM, so stößt man in der Regel zuerst auf diese Karte. Dabei handelt es sich beim Standard Mapnik-Style (wie auf www.osm.org zu sehen) zwar um die bekannteste Visualisierung von OSM-Geodaten, diese ist jedoch nur eine unter vielen. So existieren Visualisierungen, die bestimmte Aspekte hervorheben, wie die Fahrradkarte (www.opencyclemap.org), die Rollstuhlkarte (www. wheelmap.org), oder die Wintersportkarten (www.openpiste. org). Ferner finden OSM-Geodaten in Anwendungen Einsatz, wie bspw. dem Routingdienst Graphhopper (www.graphhopper.com).

Neben der Datenbank und darauf basierenden Anwendungen, gibt es Schnittstellen und Editoren, wie den JOSM-Editor, IDEditor, Potlatch-Editor oder der Overpass-API, die das Abrufen und Bearbeiten der Geodaten in OSM strukturieren. Diese sind unterschiedlich komplex aufgebaut um den Nutzern und Nutzerinnen mit ihrer unterschiedlichen technischen und fachlichen Expertise gerecht zu werden. Dadurch werden sowohl einfachere Vorgänge als auch komplexe Zugriffe ermöglicht.

Alle OSM-Geodaten verfügen über eine Versionierung, die es möglich macht, vergangene Inhalte abzurufen. Das bedeutet, dass man sehr einfach rekonstruieren kann, welche Inhalte zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit bereits in die Datenbank eingetragen waren. Somit lässt sich der zeitliche Verlauf der Eintragungen rekonstruieren. Daneben verfügen die Inhalte des OSM-Projekts über keine abgeschlossene Struktur oder Klassifizierung. Die Geodaten werden durch eine offene Attributierung, auch Social Tagging genannt, mit Semantik versehen. Das Social Tagging arbeitet dabei mit einem Schlüssel-Wert Paar (Key-Value pair). Ein Tag, bestehend aus Key und Value, beschreibt genau eine Eigenschaft eines Objekts. Ein Objekt kann mit mehreren Tags versehen werden.

Ein Punkt, repräsentiert durch eine Koordinate, wird somit erst durch das Tag amenity = cafe zu einem Café. Da dieses Tag bereits als offizielles Attribut zur Benennung von Cafés in die Dokumentation aufgenommen wurde, wird es systematisch verwendet, um auf die Geodaten „Cafés“ zuzugreifen.

OpenStreetMap – Open Data Initiativen mit dem Ziel, Daten frei verfügbar zu machen, erlebten u. a. mit der Etablierung des Web 2.0 einen Aufschwung.

Diese Initiativen werden häufig den „Open“ Bewegungen zugeordnet, wie bspw. Open Source, Open Content, Open Access oder Open Data, wie beim Beispiel OpenStreetMap. Die Website OpenDefinition.org (Open Definition o. J.) definiert in diesem Kontext in zahlreichen Sprachen den „Open“-Begriff: „Wissen ist offen, wenn jedeR darauf frei zugreifen, es nutzen, verändern und teilen kann – eingeschränkt höchstens durch Maßnahmen, die Ursprung und Offenheit des Wissens bewahren.“

28

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Aus den Open Movements sind verschiedene Lizenzen hervorgegangen, welche versuchen, genau diese Idee umzusetzen. Bei den Lizenzen handelt es sich in der Regel um technische Spezifizierungen, die die Offenheit gewährleisten.

Das OpenStreetMap-Projekt verwendet die Open Database License (ODbL). Diese Lizenz wurde von der Open Knowledge Foundation entwickelt und findet seit 2012 Verwendung in OSM-Daten. Diese Lizenz ist in erster Linie eine technische Spezifizierung für die Umsetzung von offenen Datenbanken.

Daher muss die Original-Lizenz zunächst von dem rein technischen Format in eine menschenlesbare Form umgewandelt werden. Die Übersetzung hat der Open Data Commons Beirat (Open Data Commons o. J.) sinngemäß vorgenommen: „You are free: To Share: To copy, distribute and use the database.

To Create: To produce works from the database.

To Adapt: To modify, transform and build upon the database.

As long as you: Attribute: You must attribute any public use of the database, or works produced from the database, in the manner specified in the ODbL. For any use or redistribution of the database, or works produced from it, you must make clear to others the license of the database and keep intact any notices on the original database.

Share-Alike: If you publicly use any adapted version of this database, or works produced from an adapted database, you must also offer that adapted database under the ODbL. Keep open: If you redistribute the database, or an adapted version of it, then you may use technological measures that restrict the work (such as DRM) as long as you also redistribute a version without such measures.“ Mit der ODbL wird ein umfassender Zugang zu den Daten des OSM-Projekts gewährleistet. OpenStreetMap hat damit ganz wesentlich von Web 2.0 Technologien profitiert und ist eines der erfolgreichsten Projekte der Open Movements, bzw.

Open Data Projekte. Der einfache Zugang zu OSM-Daten steht zudem im starken Kontrast zu proprietären Geodaten, welche häufig nur unter Einsatz von großen finanziellen Ressourcen verwendet werden können (siehe dazu Artikel von Tim Elrick in diesem Heft). Gleichzeitig bietet die umfangreiche Datenbank großes Potenzial für Anwendungen mit Geo-Bezug.

Qualität digitaler Geodaten Die Datenqualität von digitalen Geodaten spielt bei jeder Art der Nutzung eine zentrale Rolle. Um diese beurteilen zu können werden häufig Kriterien verwendet, welche sich direkt auf die erhobenen Daten beziehen. Dazu zählen bspw. Integrität, Präzision, oder Aktualität (DGIQ o. J.). Behörden betreiben viel Aufwand, um diesen Kriterien bei ihrer eigenen Datenerhebung und -verarbeitung gerecht zu werden: es werden elaborierte Klassifizierungssysteme entwickelt, um inhaltlich

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

überschneidungsfreie Daten zu erzeugen, komplexe Kontrollmechanismen angewendet, um die Integrität der Daten zu wahren oder teure Messgeräte verwendet, um ausreichend präzise Messungen vornehmen zu können. Neben den Kriterien, die sich direkt auf die Daten beziehen, gibt es Gesichtspunkte, die sich auf den Kontext der Datenerhebung beziehen.

Dazu zählen bspw. Informationen zu den Methoden und ihrer Zuverlässigkeit. Der große monetäre und organisatorische Aufwand für die Erhebung von Geodaten ist grundsätzlich wichtig und richtig. Die so erhobenen Geodaten sind belastbar und dienen als Grundlage für weitreichende Entscheidungen.

Betrachtet man nutzergenerierte Daten mit erstgenannten Kriterien, so schneiden diese häufig nicht gut ab. Dabei ist OSM keine Ausnahme. Zwar belegen einige Studien eine höhere Datendichte von OSM-Geodaten gegenüber einigen Anbietern aus der Navigationsbranche (Ludwig et al. 2010; Neis u. Zipf 2012; Roick et al. 2011). Eine hohe Datendichte ist allerdings nicht ausreichend um Daten eine hohe Qualität zuzuweisen, zumal Datendichte kein Kriterium der DGIQ ist.

Trotzdem darf man deshalb OSM als hochwertige Geodatenquelle nicht verwerfen.

OSM ist ein außerordentlich heterogenes Projekt, was sich in den Daten und der Beteiligung deutlich zeigt (Wood 2014).

Dieser Umstand muss bei der Bestimmung der Datenqualität berücksichtigt werden. Somit ist es nicht ausreichend, nur die erhobenen Daten zu betrachten, man muss vielmehr das gesamte Projekt und damit den Kontext der Datenerhebung verstehen, um es einschätzen zu können. Erst wenn man Transparenz bezüglich der Datenerhebung geschaffen hat, kann man mit Kriterien arbeiten, welche sich direkt auf die Daten beziehen.

Datenqualität in OSM: Community verstehen Möchte man OSM verstehen, so ist es nicht ausreichend, sich die formalen Strukturen anzusehen, zumal diese kaum vorhanden sind. Es existieren zahlreiche informelle Strukturen und Hierarchien, welche das Projekt regeln. So hat OSM im Jahr 2015 mehr als 2 Millionen Mitglieder. Obwohl nur wenige formalisierte Strukturen vorhanden sind, die Entscheidungen oder Konflikte regulieren, ist OSM weiterhin erfolgreich: die Mitgliederzahlen nehmen weiter zu, es werden immer mehr Geodaten erhoben und Entscheidungen sowie Konflikte werden zur Zufriedenheit des Großteils der community gelöst. Um also Transparenz bezüglich des Kontexts der Datenerhebung herzustellen, ist es wichtig zu verstehen, welche Aspekte, formelle und informelle Strukturen, Abläufe und Prozesse bei der Organisation des Projekts und insbesondere bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen.

Das OSM Projekt wird formal durch die OSM Foundation vertreten, welche 480 Mitglieder hat (Glasze u. Perkins 2015: 153 f.).

Es ist jedem möglich, gegen einen Beitrag der Foundation beizutreten. Die Foundation selbst wählt einen Vorstand aus sechs Mitgliedern. Neben dem Vorstand existieren acht Arbeitsgruppen, die sich den Themen Kommunikationen, Daten, Lizenz, Ortsgruppen, Entwicklung, der „State of the Map“ Konferenz und Strategie widmen. Diese formale hierarchische Struktur spiegelt jedoch nicht die tatsächlichen Machtverhältnisse in

der community wider. Die Arbeitsgruppen und der Vorstand treten eher moderierend auf. Wenn es zu Konflikten oder Problemen in der community kommt, fordert in der Regel eine Arbeitsgruppe eine Lösung der direkt betroffenen (lokalen) Beitragenden. Bisher sind keine Fälle bekannt, in denen eine Arbeitsgruppe direkt und kompromisslos in einen Konflikt eingegriffen und diesen durch ein „Machtwort“ beendet hätte.

Die formale Struktur und die mit ihr verbundene Macht wird mit dem Begriff der Bürokratie zusammengefasst (Glasze u.

Perkins 2015: 153 f.; Ramm 2013).

Die Zurückhaltung der OSM Foundation und damit die geringe Bedeutung der Bürokratie in OSM spiegelt die communityPriorität des Projekts wider. Alle formalen Entscheidungen sollen, zumindest theoretisch, demokratisch und unter Beteiligung der gesamten community gefällt werden. Unter formale Entscheidungen fallen bspw. der Lizenzwechsel 2012, neue Tagging-Schemata oder Bestimmungen für die Datenerhebung. Jedes OSM-Mitglied ist stimmberechtigt und kann sich an den teilweisen regen Diskussionen beteiligen. Dass Abstimmungen jedoch nur theoretisch demokratisch sind, hat verschiedene Gründe, wobei das Long-Tail Phänomen wohl der wichtigste ist. Das Long-Tail Phänomen beschreibt, im Zusammenhang mit OSM, die ungleiche Beteiligung der Nutzer und Nutzerinnen am Projekt. Einfach ausgedrückt tragen sehr wenige Nutzer sehr viel und sehr viele Nutzer sehr wenig zu OSM bei. Dieses Phänomen zieht sich durch alle Bereiche des Projekts: von der Datenerhebung über die Dokumentation bis hin zur Entwicklung neuer Software (Wood 2014).

Das Long-Tail Phänomen spiegelt sich jedoch nicht nur in der ungleichen Verteilung der Beiträge wider, sie beeinflusst auch die community-Struktur in OSM. Nutzer bzw. Nutzerinnen, die besonders viel beitragen, erfahren eine höhere Wertschätzung. Gleichzeitig sind es vor allem diese Beitragenden, die sich an Diskussionen und Abstimmungen beteiligen. Dadurch ergibt sich eine informelle Hierarchie, die besonders aktive Beitragende an die Spitze setzt. Diese Art der communityStruktur wird von Glasze und Perkins (2015: 153) mit dem Begriff Meritokratie beschrieben.

Da innerhalb des OSM-Projekts neben der Erstellung von Daten (bspw. Dokumentation im OSM Wiki oder Erhebung von Geodaten) auch die dafür notwendige Software entwickelt wird, sind informatische, bzw. technische Kenntnisse von besonderer Bedeutung. Auch diese Wertschätzung findet in Form einer Technokratie Einfluss in die informelle Hierarchie. Technokratie bedeutet in OSM, dass Nutzer bzw. Nutzerinnen mit besonderen technischen Kenntnissen (z. B. Softwareentwicklung) ein höheres Gewicht bei der Meinungsbildung haben (Glasze u. Perkins 2015: 153).

Somit ergibt sich ein Konglomerat aus Bürokratie, Meritokratie und Technokratie, die die de facto Entscheidungsfindung prägen. Neben den genannten Kategorien der Entscheidungsfindung gibt es noch andere Prinzipien, anhand derer Entscheidungen getroffen werden.

Da OSM über keine umfassenden, festgelegten Strukturen und Abläufe verfügt, gibt es zahlreiche Bereiche, die keine formalisierten Entscheidungsprozesse vorgeben. In diesen Bereichen werden in der Regel Fakten geschaffen: kommt ein Beitragender in eine bisher noch nicht geregelte Situation, entscheidet er sich für eine Lösung. Wenn die Mehrheit der Bei-

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

29

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

tragenden seinem Beispiel folgt, ergibt sich automatisch eine Entscheidung und eine Struktur etabliert sich. Dieses Prinzip wird auch als Do-ocracy bezeichnet (Community Wiki o. J.). Dabei handelt es sich um Entscheidungen, die ohne direkte Abstimmung, sondern vielmehr durch die Ausführung getroffen werden. Grundsätzlich ist es auch bei Do-ocracy möglich, seine Meinung zu äußern und über Entscheidungen zu diskutieren.

In der Regel sind von dieser Art der Entscheidungsfindung weniger grundlegende Bereiche im OSM-Projekt betroffen, wie beispielsweise Dokumentationseinträge im OSM Wiki.

Vor allem bei der Entwicklung von Software-Komponenten spielte von Anfang an das community-building eine wichtige Rolle: das gesamte Projekt sollte so gestaltet werden, dass es einfach zu verstehen und zu bedienen ist. Klassische informatische Kriterien wie Performance oder Datenintegrität spielten daher eine eher zweitrangige Rolle. Diese communityOrientierung spiegelt sich in dem Prinzip wieder, das mit „Look for the simplest useful thing“ umschrieben wird (Glasze u.

Plennert 2015). Es werden also einfach Lösungen gesucht, die einen schnellen und problemlosen Einstieg in das Projekt gewährleisten.

Ein weiteres Prinzip bezieht sich direkt auf die Geodatenerhebung in OSM. Um Geodaten nach dem Tagging-Schema richtig einzutragen, gibt es verschiedene Dokumentationen, an denen man sich orientieren kann. Ist ein Objekt nicht eindeutig zuordenbar oder es besteht Uneinigkeit bei der Einteilung, gilt das Ground-Truth-Prinzip. Dieses Prinzip besagt, dass die Daten in der Geodatenbank so eingetragen werden, wie sie vor Ort erkennbar sind. Baustellen werden also auch als Baustellen eingetragen und nicht bereits als fertiges Gebäude. Das dieses Prinzip nicht immer eindeutig ist, haben bereits Glasze und Elrick (2015) in ihrem Vortrag „Maps & Mosques: (k)eine kleine Signatur und die Transformation von Geoinformation und Kartographie im digitalen Zeitalter“ offengelegt. Darin beschreiben sie die Kartierung von religiösen Andachtsstätten in OSM. Sie berichten von einer Diskussion unter OSM-Beitragenden, welche sich uneins über die Kartierung einer Hinterhof-Moschee waren. Da sie vor Ort nur als Kulturverein zu erkennen war, so argumentierten die Mapper, darf sie auch nur als Kulturverein kartiert werden. An diesem Beispiel erkennt man, wann das Ground-Truth-Prinzip an seine Grenzen stößt.

Die Entscheidungsfindung in OSM erscheint zunächst sehr komplex und undurchsichtig. Jedoch ist der Prozess der Entscheidungsfindung meist relativ kurz: in der Regel dauert der gesamte Zeitraum vom Anstoßen einer Diskussion bis zur Abstimmung nicht länger als einige Monate (wie man aus der Mailing List entnehmen kann, hat bspw. die Diskussion und Etablierung über den Key „product“ weniger als einen Monat gedauert). Hinzu kommt, dass das Tagging-Schema flexibel ist und somit offen für neue Beitragende mit neuen Ideen.

Zudem ist die gesamte Kommunikation und Dokumentation frei einsehbar, was den Prozess transparent macht. Das führt zu einer großen Flexibilität des Tagging-Schemas: es kann schnell neuen Anforderungen angepasst werden.

Insgesamt darf OSM nicht als eine Organisation missverstanden werden. OSM als community ist vielmehr die Summe seiner zahlreichen verschiedenen Mitglieder und Mitgliederinnen.

Diese verfügen über mehrere Wege, Meinungen zu bilden und Entscheidungen zu treffen: Meritokratie, Bürokratie und Tech-

30

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

nokratie. Abstimmung erfolgen demokratisch-formalisiert oder als informelle Do-ocracy. Dabei orientieren sich die Mitglieder an Prinzipien wie Ground-Truth oder „Look for the simplest useful thing“, die jedoch nicht formal festgelegt sind. Ist man sich diesen verschiedenen Formen der Entscheidungsfindung und -bildung bewusst, wird es möglich, die Qualität von Daten anhand dessen Entscheidungskontexts einzuschätzen.

OSM-Datenqualität am Beispiel von Cafés Bisher wurden die Mechanismen der Entscheidungsfindung, welche die Struktur und Methodik des OSM-Projekts bestimmen, erläutert. Nun soll mit diesem Verständnis gezeigt werden, wie genau eine Einschätzung der Datenqualität aussehen könnte. Das soll am Beispiel von erhobenen Cafés geschehen.

Möchte man Cafés aus der OSM-Datenbank auswerten und zuvor die Güte dieser Daten klären, gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese festzustellen. Zunächst kann man recherchieren, ob es eine „offizielle“ Struktur für das Eintragen von Cafés gibt.

Diese werden im OSM Wiki unter der Subseite „Map Features“ gelistet. Im besten Fall existiert hier eine detaillierte Vorgabe mit genauer Bezeichnung, einer Beschreibung des Objekts, dem Kartensymbol sowie einem Beispielfoto des Objekts. Eine Auflistung im OSM Wiki bedeutet, dass über die Empfehlung diskutiert und mehrheitlich dafür gestimmt wurde. Im Fall des Café wurde Ende 2007 über ein Tagging-Schema diskutiert und abgestimmt. Mit 18:0 Stimmen wurde das Schema amenity = cafe angenommen. In dem Beispiel lassen sich bereits indirekt Einflüsse des Long Tail-Phänomens erkennen: obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits ca. 10.000 Beitragende bei OSM registriert waren, haben sich nur wenige, besonders aktive und sozial vernetzte Beitragende an der Abstimmung beteiligt. Diese werden auch als heavyweight-user bezeichnet (Budhathoki u. Haythornthwaite 2013: 2 ff.). Durch ihre Beteiligung an der Abstimmung ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass das neue Schema schnell in der Datenbank Anwendung findet.

Nach der Abstimmung wird das neue Schema in die Dokumentation aufgenommen und als Grundlage für Eintragungen und Korrekturen verwendet. Jedoch kann man aus einer Eintragung in der Dokumentation keine sicheren Aussagen über die tatsächliche Verwendung in der Datenbank treffen. Dafür ist die Website taginfo.openstreetmap.org hilfreich. Diese stellt die Häufigkeit aller verwendeten Eintragungen dar, unabhängig davon, ob sie bereits dokumentiert wurden oder nicht. Somit ist es möglich zu erkennen, welche verschiedenen Eintragungsarten von Cafés existieren. Auf Taginfo lassen sich u. a. folgende Eintragungen in Zusammenhang mit Cafés erkennen: building = cafe, amenity = internet_cafe oder shop = cafe. Die mit großen Abstand am häufigsten verwendete Art ist jedoch dieselbe, die auch in der Dokumentation empfohlen wird: amenity = cafe.

An dem Beispiel der Eintragungen von Cafés in OSM kann man erkennen, dass es in OSM relativ früh eine „offizielle“ Empfehlung für das Eintragen gab. Mit der Website Taginfo lässt sich zudem belegen, dass das festgelegte Tagging-Schema, bis auf einige Ausnahmen, beim Großteil der Eintragungen umgesetzt wurde. Es existieren also wenige Einträge, die dem Tagging-Schema widersprechen. Die „offizielle“ Dokumentation schafft außerdem die Voraussetzung für das Redigieren

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

von Inhalten: Beitragende können sich bei der Korrektur von Inhalten auf das OSM Wiki und der darin enthaltenen Dokumentation berufen.

Mit dem beschriebenen Beispiel lassen sich Aussagen über die räumlich-globale Gesamtheit der eingetragenen Objekte machen. TagInfo sagt dabei nichts über die räumliche Heterogenität der Daten aus. Um bei dem Beispiel der Cafés zu bleiben: die Dokumentation und die zahlreichen „richtigen“ Eintragungen in der Datenbank geben erste Hinweise auf die Güte der Daten. Inwiefern Cafés in einem bestimmten Raum wie Berlin, München oder Köln nach demselben Schema tatsächlich eingetragen wurden, kann man so jedoch nicht klären.

Nun soll gezeigt werden, wie man sich dann der regionalen Güte der Daten anhand von lokalen Beitragenden nähern kann.

Abbildung 1: OSM-Geodaten in Norddeutschland, eingefärbt nach dem jeweiligen Beitragenden der Geodaten

Map-Guarding: Territoriale Administration von Geodaten Die community in OSM ist sehr heterogen aufgebaut, wie mit dem Long-Tail Phänomen bereits beschrieben wurde. Es gibt nicht nur eine ungleiche Beteiligung unter den Mitgliedern, diese sind auch räumlich heterogen verteilt. Betrachtet man die Verteilung der Editierungen der Mitglieder (Abb. 1), ergibt sich folgendes Bild: die Geodaten, welche nach den jeweiligen Nutzer bzw. Nutzerinnen eingefärbt wurden, erzeugen einen Flickenteppich.

Quelle: Screenshot http://bl.ocks.org/lxbarth/raw/6545162/#8/53.046/10.239

Abbildung 2: Editierungen und tägliche Wege eines Beitragenden im Raum Erlangen Quelle: Eigene Darstellung

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

31

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Abbildung 3: Gastronomische Eintragungen und deren Dokumentation im OSM Wiki

Quelle: Screenshot http://wiki.openstreetmap.org/wiki/DE:Map_Features

Abbildung 4: Kategorie „office“ und deren dokumentierten Ausprägungen

Dieser Flickenteppich zeigt die verschiedenen Aktionsgebiete der heavyweight user, die von Napolitano und Mooney (2012: 6 ff.) als pet-locations umschrieben wurden. Pet-locations sind Räume, für die sich heavyweight user verantwortlich fühlen.

Dabei bilden sich diese Räume nicht zufällig, sie spiegeln vielmehr die lokale Expertise des heavyweight users wieder.

Das bedeutet, dass sie die Geodaten in ihrem persönlichen räumlichen Umfeld pflegen. Sie kennen sich innerhalb der pet-locations aus. Häufig sind die Räume durch ihre täglichen Wege durchzogen, wie in Abbildung 2 zu erkennen ist (Plennert 2014: 18 ff.).

Die Geodaten in diesen Räumen werden besonders intensiv gepflegt. Dieses Pflegen von Daten kann auch als map-guarding, bzw. territoriale Administration bezeichnet werden (Plennert 2014: 18 ff.). Das Administrieren von Inhalten umfasst „das Melden und Korrigieren von Fehlern, das Aktualisieren und Pflegen von Inhalten bis hin zum Kommunizieren mit anderen community-Mitgliedern, um sie über Fehler aufzuklären“ (Plennert 2014: 50). Heavyweight user, welche territorial administrieren, können auch als Map-guards bezeichnet werden.

Map-guards nehmen im Bezug zur Datenqualität eine Schlüsselstellung ein. Sie können den ausführenden Arm der community verkörpern. Werden neue Bestimmungen bezüglich des Datenschemas beschlossen, sind es vor allem die Map-guards, die die Daten einpflegen und anpassen. Sie stellen gatekeeper dar, die versuchen, die Datenintegrität zu wahren (Plennert 2014: 49 f.). In Aktionsgebieten von Map-guards kann eine hohe Datenqualität erreicht werden, bezogen auf Kriterien, die sich direkt auf die Daten beziehen. Jedoch sind die Bereiche mit hoher Datenqualität, genauso wie Map-guards, räumlich heterogen verteilt. Gelingt es, diese zu identifizieren, ist es jedoch möglich, auf hochwertige Daten zurückgreifen zu können.

Nutzungspotenzial/Nutzungsbeispiele Ist für OSM die Frage der Datenqualität geklärt, so ergibt sich ein großes Nutzungspotenzial. Durch den einfachen Datenzugang, der Offenheit, der Flexibilität, der hohen Datendichte und der Aktualität ergeben sich viele Szenarien, in denen sich OSM-Geodaten gewinnbringend einsetzen lassen. Im Folgenden sollen drei Nutzungsbeispiele erläutert werden.

Quelle: Screenshot http://wiki.openstreetmap.org/wiki/DE:Map_Features

Abbildung 5: Die Tags eines Restaurants

Quelle: Screenshot https://overpass-turbo.eu/

32

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Detaillierte Datengrundlage Betrachtet man den Standard OSM-Kartenstil, so fällt im Vergleich zur amtlichen topographischen Karte die hohe Informationsdichte auf. Wie man in Abbildung 3 erkennen kann, hat allein die Kategorie „Gastronomie“ auf der OSM-Karte viele verschiedene Ausprägungen: Bar, BBQ, Biergarten, Café, Fast Food, Food Court und Pub. Dabei wird nur ein Bruchteil der hinterlegten Informationen im Standard-Stil visualisiert. Die Datenbank bietet ein noch ausdifferenzierteres Datenschema.

Das Zeigt das Beispiel der Kategorie „Office“ in Abbildung 4, welche allein 25 verschiedene Ausprägungen aufweisen kann. Keine davon wird auf der OSM-Karte abgebildet; sie wären jedoch für eine Analyse über entsprechende Werkzeuge/ Software abrufbar.

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Die Vielfalt dieser „versteckten“ Informationen wird noch deutlicher, wenn man ein spezifisches Objekt auf der Karte genauer betrachtet. Abbildung 5 zeigt ein Restaurant-Symbol auf der OSM-Karte in Hamburg. Hinter dem Symbol verbergen sich jedoch noch zahlreiche weitere Informationen: Adressdaten (Land, Stadt, Postleitzahl, Straße, Hausnummer), Küche des Restaurant (portugiesisch), Name des Restaurants, Öffnungszeiten, Website, Eignung für Rollstuhlfahrer und sogar einen Hinweis darauf, dass es ein weiteres Restaurant in Hamburg mit demselben Namen und Inhaber gibt.

Diese Beispiele zeigen, welche Informationsfülle in der Datenbank zu finden ist. Die detaillierte Datengrundlage bietet neue Möglichkeiten für Anwendungen, die auf ausdifferenzierte Kategorien zurückgreifen.

Dies wurde hier am Beispiel von München im Zeitraum von 2010 bis 2013 erstellt. Abbildung 6 zeigt die so entstandenen Karten. Die Karten der Jahre 2010 und 2011 zeigen noch sehr wenige Daten, weshalb man hier davon ausgehen kann, dass der Datenbestand noch erhoben wurde. Ab dem Jahr 2012 hingegen lassen sich erste räumliche Konzentrationen erkennen. Durch die zeitliche Auflösung kann man gleichzeitig die dynamischen Veränderungen nachverfolgen. Dabei ist zu beachten, dass das Beispiel des Monitoring ohne die Berücksichtigung auf Map-guards und deren Gewährleistung von Datenintegrität und Aktualität gezeigt wurde. Grundsätzlich kann man jedoch erkennen, dass die Verteilung von Leerständen und damit auch anderer OSM-Daten über einen Zeitraum hinweg verfolgt werden kann.

Leerstandsmonitoring Die detaillierte Datengrundlage kann Informationen bieten, welche von Behörden nicht erhoben werden. Der Leerstand von Gebäuden ist eine Kategorie, welche in OSM über ein dokumentiertes Datenschema verfügt und die gleichzeitig nicht auf der OSM-Karte angezeigt wird. Zugleich werden Leerstände von Behörden nicht systematisch erhoben. Somit ergibt sich das Potenzial eines Leerstandsmonitoring auf Basis von OSM-Daten.

Landnutzungskarte In einer Arbeit von Vaz und Arsanjani (2015) wurde gezeigt, wie man auf Basis von OSM-Daten Landnutzungskarten erstellen kann. Wie man in Abbildung 7 erkennen kann, verfügt die so entstandene Karte für den Raum Toronto über mehr Details als offizielle, von Behörden herausgegebene Karten. Gleichzeitig stellt eine auf diese Weise erstellte Landnutzungskarte eine kosteneffiziente Lösung dar. Zudem ist sie, aufgrund der dynamischen OSM-Daten, zeitlich skalierbar.

Abbildung 6: Zeitliche und räumliche Verteilung von Leerständen in München, basierend auf OSM-Geodaten von 2010 bis 2013

Eigene Darstellung

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

33

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Landnutzungskarten aus OSM-Daten können also eine Alternative zu behördlichen Landnutzungskarten darstellen. Durch das Ground-Truth-Prinzip erlauben diese Karten zudem einen Einblick, wie die Lage vor Ort tatsächlich ist, nicht wie sie laut Bebauungsplan oder Flächennutzungsplan sein müsste.

tiert aufgebaut. Das heißt, alle Aspekte werden in erster Linie community-freundlich ausgerichtet. Erst danach kommt z. B. Benutzerfreundlichkeit für Endnutzer außerhalb der community. Das zeigt sich auch bei den Entscheidungsprozessen: zwar wirken diese auf den ersten Blick komplex und undurchsichtig.

Sie sind jedoch grundsätzlich demokratisch und transparent aufgebaut. Gleichzeitig erlauben die Strukturen eine hohe Offenheit und Flexibilität, wodurch OSM sich neuen HerausforFazit derungen und Ideen schnell anpassen kann. Auch die DatenIn diesem Artikel wurde OpenStreetMap als ein Beispiel für qualität ist stark community-abhängig. Sind lokal besonders digitale Geodaten vorgestellt. OSM ist ein VGI-Projekt, das aktive Beitragende vorhanden, sogenannte Map-guards, welnicht mit amtlichen Organisationen und Strukturen zu vergleiche die Daten administrieren, kann von einer hohen Aktualität, chen ist. Das zeigt sich schon beim Zugang: OSM steht unter Datendichte und -integrität ausgegangen werden. Die Idender Open Database License und ist sowohl dem Open Data, tifizierung und Lokalisierung von Map-guards ist dabei eine als auch den Open Source Bewegungen zuzuschreiben. Die wichtige Herausforderung für die Nutzung von OSM-Daten.

Daten selbst werden von der sehr heterogenen community Dies muss das Ziel für zukünftige Forschungsarbeiten sein. freiwillig erhoben. Das gesamte Projekt ist community-orienInsgesamt haben die OSM-Geodaten bereits heute, vor allem in großen Städten, einen hohen Detailgrad erreicht. Zuverlässige Aussagen, die mehreAbbildung 7: Landnutzungskarte von Toronto. Basierend auf OSM-Geodaten (links) re Jahre in die Vergangen reichen, sind alund amtlicher Erhebung (rechts) lerdings bisher nur in Ausnahmen möglich.

Wenn die OSM-Beitragenden in den kommenden Jahren weiterhin so aktiv bleiben, sind in Zukunft detaillierte raum-zeitliche Analysen auf Basis von OSM-Daten möglich.

1

Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag des Autors im Rahmen der Sitzung „Jenseits von Registern und Umfragen: Nutzung und Potenzial von neuen Datenquellen für Planung und Politik“ aus dem Programm des VDSt zur Statistischen Woche 2015 in Hamburg.

Glasze, Georg; Plennert, Matthias (2015): Die Rolle von software für digitale Geoinformation: das OpenStreetMap-Geodatenmodell. Deutscher Kongress für Geographie. Deutsche Gesellschaft für Geographie. Berlin, 2015.

Goodchild, Michael F. (2007): Citizens as sensors: the world of volunteered geography. In: GeoJournal 69 (4), S. 211–221.

Ludwig, Ina; Voß, Angi; Krause-Traudes, Maike (2010): Ein Vergleich der Straßennetze von OpenStreetMap und NAVTEQ. In: Josef Strobl (Hg.): Angewandte Geoinformatik 2010. Beiträge zum 22. AGIT-Symposium Salzburg. Berlin, Offenbach: Wichmann.

Mooney, Peter; Napolitano, Maurizio (2012): MVP OSM: A Tool to identify Areas of High Quality Contributor Activity in OpenStreetMap. In: The SoC Bulletin.

Neis, Pascal; Zipf, Alexander (2012): Analyzing the Contributor Activity of a Volunteered Geographic Information Project – The Case of OpenStreetMap. In: IJGI 1 (2), S. 146–165. DOI: 10.3390/ijgi1020146.

Open Data Commons: ODC Open Database License (ODbL) Summary. Online verfügbar

unter http://opendatacommons.org/licenses/ odbl/summary/ Open Definition: The Open Definition. Online verfügbar unter: http://opendefinition.org/ Plennert, Matthias (2014): Vom Map-Gardening zum Map-Guarding. Territoriale Administration in OpenStreetMap. Ramm, Frederik (2013): Wer ist der Boss bei OpenStreetMap? Online verfügbar unter: http://wiki.openstreetmap.org/wiki/FOSSGIS_2013/Videomitschnitte.

Roick, Oliver; Neis, Pascal; Zipf, Alexander (2011): Volunteered Geographic Information – Datenqualität und Nutzungspotentialeam Beispiel von OpenStreetMap. Deutsche Gesellschaft für Kartographie. Königslutter, 2011.

Vaz, Eric; Jokar Arsanjani, Jamal (2015): Crowdsourced mapping of land use in urban dense environments. An assessment of Toronto. In: The Canadian Geographer/Le Géographe canadien 59 (2), S. 246–255. DOI: 10.1111/cag.12170.

Wood, Harry (2014): The Long Tail of OpenStreetMap. Online verfügbar unter: http:// harrywood.co.uk/blog/2014/11/17/the-longtail-of-openstreetmap/

Quelle: Vaz, Arsanjani 2015: 8

Literatur Budhathoki, Nama Raj; Haythornthwaite, C. (2013): Motivation for Open Collaboration Crowd and Community Models and the Case of OpenStreetMap. In: ABS 57 (5), S. 548–575.

Community Wiki: DoOcracy. Online verfügbar unter: https://communitywiki.org/de/DoOcracy.

Elrick, Tim; Glasze, Georg (2015): Maps & Mosques: (k)eine kleine Signatur und die Transformation von Geoinformation und Kartographie im digitalen Zeitalter. Neue Kulturgeographie. Bamberg, 2015.

Elwood, Sarah; Goodchild, Michael F.; Sui, Daniel Z. (2012): Researching Volunteered Geographic Information: Spatial Data, Geographic Research, and New Social Practice 102 (3), S. 571–590. DOI: 10.1080/00045608.2011.595657.

Glasze, Georg; Perkins, Chris (2015): Social and Political Dimensions of the OpenStreetMap Project: Towards a Critical Geographical Research Agenda. In: Jamal Jokar Arsanjani, Alexander Zipf, Peter Mooney und Marco Helbich (Hg.): OpenStreetMap in GIScience. Experiences, Research, and Applications. Cham: Springer International Publishing (Lecture notes in geoinformation and cartography), S. 143–166.

34

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Michael Hörz

Datenjournalistische Nutzung üblicher und unüblicher urbaner Daten

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der systematischen journalistischen Nutzung üblicher und unüblicher Datenquellen in Berlin.

Als übliche sind statistische Daten zu verstehen, die etwa das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg zur Verfügung stellt, ebenso solche Daten aus den einzelnen Senatsbehörden. Unübliche Quellen sind etwa Internetangebote wie das Portal Airbnb. Vorgestellt wird zum einen das Projekt Airbnb vs. Berlin, das Studenten der FH Potsdam umgesetzt haben, zum anderen das Projekt sowirdberlin.de, das Volontäre der Evangelischen Journalistenschule in Berlin realisiert haben.

Michael Hörz Politikwissenschaftler (M. A.), seit 2012 freier Datenjournalist und Trainer, davor Online-Redakteur bei Rundfunk BerlinBrandenburg und Tagesspiegel. Schwerpunkte: Geodaten, Transparenzdaten, Open Data, Informationsfreiheit. : hoerz@michael-hoerz.de Schlüsselwörter: Datenjournalismus – Visualisierung – neue Datenquellen – Airbnb

Was ist Datenjournalismus?

Die Branche operierte für längere Zeit ohne eine spezifische Definition, demzufolge ist das Verständnis von Datenjournalismus recht breit. Verwendet wird der Begriff seit 2005, im breiteren Kontext seit 2010. In einer minimalen Definition geht es darum, „mit Daten Journalismus zu betreiben“. Die Abgrenzung zu anderen Bereichen des Journalismus ergibt sich daraus, dass Journalisten mit strukturierten Daten arbeiten (Kayser-Bril 2015). Das bloße Erwähnen einer oder weniger statistischer Werte in einem größeren Fließtext begreifen Datenjournalisten nicht als Beispiel für ihr Metier.

Eine erweiterte Definition liefern die Journalismusforscher Royal und Blasingame auf Basis von Literaturauswertung und der systematischen Befragung von Datenjournalisten. Demzufolge ist Datenjournalismus „a process by which analysis and presentation of data are employed to better inform and engage the public. Its roots are in the fields of computer-assisted and investigative reporting, but data journalism products may add engagement through customization and user contribution made possible by web development and programming techniques.“ (Royal und Blasingame 2015).

Grundsätzlich zeichnet sich Datenjournalismus durch die Präsentationsform und die Analyse und Einordnung aus: Essenziell sind Visualisierungen, überwiegend in interaktiver Form, verbunden mit Analysen und Bereitstellen des Kontexts. Eine reine Darstellung von Datenpunkten auf einer Karte oder eine aufwändige Visualisierung fällt nicht unter Journalismus. Zwar fügt die Möglichkeit, die datenjournalistischen Ergebnisse selbst in vielfältiger Weise interaktiv zu explorieren, einen Mehrwert hinzu, doch das Aufzeigen der Geschichte in und hinter den Daten spielt die wesentliche Rolle.

Die Veröffentlichung der genauen Datenquelle inklusive Verlinkung gehört zur guten Praxis des Datenjournalismus (z. B. New York Times, Los Angeles Times, Guardian, Zeit Online, Spiegel Online). Im besten Fall veröffentlichen Datenjournalismus-Teams auch die Daten in der konkret von ihnen verwendeten Form. Damit ermöglichen sie einerseits, ihre Arbeit zu überprüfen, andererseits können andere von der Vorarbeit profitieren. Insbesondere wenn ein Medium nicht allgemein verfügbare Daten nutzt oder sogar selbst Daten erhoben hat, ist der Mehrwert für Dritte erheblich. Darüber hinaus können Nachnutzer solcher vorbearbeiteter Daten Zeit sparen, denn die Erfahrung zeigt, dass im Datenjournalismus oft ein erheblicher Anteil (bis zu 50 Prozent) für die Umwandlung und

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

35

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Säuberung von Daten verwendet werden muss. Häufig liegen die gewünschten Daten nicht in maschinenlesbarer Form vor und/oder sind schlecht und inkonsistent formatiert.

Projekt A: „Airbnb vs. Berlin“ Rahmen Das Projekt „Airbnb vs. Berlin“ entstand im Wintersemester 2014/15 in der Lehrveranstaltung „From Reading to Exploring – Visuelles Geschichtenerzählen im Datenjournalismus“ am Bereich Interfacedesign der FH Potsdam. Dozenten waren Jan-Erik Stange (Akademischer Mitarbeiter) und Michael Hörz als Lehrbeauftragter. Die Studierenden bekamen in der ersten Semesterhälfte Einführungen in Datenjournalismus und Datenvisualisierung, Praktiker wie etwa Sascha Venohr von Zeit Online hielten Gastvorträge. In der zweiten Semesterhälfte ging es um die Umsetzung konkreter Projekte. Dazu fanden zwei Workshops mit zahlreichen Datenjournalismus-Experten statt, die in einer Art „Speeddating“ alle studentischen Teams berie-

ten. Am Ende des Seminars entwickelten die Teams insgesamt sechs datenjournalistische Projekte, von denen hier dasjenige mit städtestatistischem Hintergrund herausgegriffen wird.

Das Projekt nähert sich der Debatte über die Vermietung von Privatwohnungen über Internetportale wie Airbnb mittels einer Datenauswertung. Der Titel lautet „Airbnb vs. Berlin – Was sagen die Daten?“. Die Studenten sind Alsino Skworonek, Lucas Vogel und Jonas Parnow. Ihr Projekt veröffentlichten sie unter www.airbnbvsberlin.de, wegen des starken internationalen Interesses auch in einer englischen Version unter www. airbnbvsberlin.com. Das Veröffentlichen auf einer dezidierten Website in Kombination mit auf anderen Websites einbettbaren interaktiven Grafiken hat das Projekt sehr erfolgreich gemacht. Zahlreiche, auch überregionale Medien haben über das Projekt berichtet. Sowohl Gegner wie Befürworter von Airbnb verweisen auf „Airbnb vs. Berlin“. Die Seite ist für mehrere Preise nominiert worden und wurde bereits ausgezeichnet.

Grundsätzlich empfiehlt es sich, das Projekt online anzusehen, da viele Details nur in der interaktiven Version nutzbar sind.

Abbildung 1: Anzahl der Airbnb-Inserate in Berlin auf Kiez-Ebene

0

300

www.airbnbvsberlin.de

Die Karte zeigt die Anzahl aller Airbnb-Inserate in Berlin auf Kiez-Ebene. Je dunkler die Einfärbung, desto mehr Angebote gibt es. Zur Orientierung ist der „Große Hundekopf“ (S-Bahn-Ring) eingezeichnet.

36

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Anzahl Anbieter

Anzahl Angebote

Daten Abbildung 2: Preisverteilung der Berliner Airbnb-Angebote Die Website airbnbvsberlin.de 800 verwendet als Hauptbestandteil 600 Daten des Portals airbnb.com. Das Unternehmen stellt diese Daten 400 nicht zum Download bereit, weder 200 als gesammelte historische Daten Preis („Dump“) noch über eine konfigu20 40 60 80 100 120 140 rierbare Web-Schnittstelle (API). Da www.airbnbvsberlin.de jedoch ein Kernelement von Airbnb das Anzeigen aktueller ÜbernachDie Grafik zeigt die Preisverteilung der Berliner Airbnb-Angebote in Euro. Für jeden Preis (xtungsangebote im Browser und in Achse) wird die Anzahl der angebotenen Unterkünfte dargestellt (y-Achse).

Smartphone-Apps ist, bekamen die Studenten beim zweiten Projektentwicklungs-Workshop den Tipp, die Abbildung 3: Anbietern nach Anzahl der bereitgestellten Schlafplätze Abfragen mittels der Anwendung 5000 „Charles“ zu untersuchen. Damit 4000 ließ sich sehr schnell die interne API-Struktur von Airbnb erschlie3000 ßen, sodass die Studenten zu einem Stichtag am Ende Januar 2015 sämt2000 liche Angebote für Berlin mit allen 1000 verfügbaren Daten herunterladen Durchschnitt an Schlafplätze konnten.

2 4 6 8 10 12 14 Beachtet werden muss, dass Airbnb nicht die exakte Geoposition der inwww.airbnbvsberlin.de serierten Wohnungen übermittelt, Die Grafik zeigt die Menge an Anbietern, die eine bestimmte Anzahl an Schlafplätze zur sondern eine Anonymisierung vorVerfügung stellen. nimmt: Eine zufällige Koordinate in einem Radius von ca. 200 Metern um die eigentliche Position der gibt es die meisten Wohnungen für etwas weniger als 50 Euro Wohnung wird angegeben. Demzufolge sind Abweichunpro Nacht, der Durchschnittspreis ist ähnlich (55–60 Euro). gen etwa bei der Zuordnung zu einem kleinräumigen Gebiet Einzig München reißt nach oben aus, hier finden sich mehr möglich. höherpreisige Übernachtungsangebote, der DurchschnittsAls weitere Daten zur Kontextualisierung dienten die Umrisse preis liegt mit 71 Euro ebenfalls höher. der Ebene Planungsräume der Lebensweltlich Orientierten Die Daten zeigen auch eine deutlich andere Nutzung durch Räume (LOR). Diese sind verfügbar beim Amt für Statistik die Anbieter als ursprünglich von Airbnb intendiert, nämlich Berlin-Brandenburg in dessen Open-Data-Bereich. ungenutzten Raum der eigenen Wohnung zu vermieten. So bieten in Berlin zehn Prozent aller Anbieter mehr als eine WohAnalysen und visuelle Aufbereitungen nung an (rund 1.200 Anbieter). Die zehn größten Anbieter Die Website nimmt zahlreiche Analysen vor, unter anderem haben 240 Wohnungen im Angebot. Eine tendenziell gewerbzeigt eine Choroplethenkarte die Zahl der Angebote je Leliche Nutzung legt auch die Zahl der angebotenen Schlafbensweltlich Orientiertem Raum. Auffällig ist dabei eine Konplätze nahe. Während 46 Prozent der Anbieter einen oder zentration auf innerstädtische Bereiche und auf bestimmte zwei Schlafplätze offerieren, hat der Rest mehr Schlafplätze Kieze. Die meisten Angebote gibt es im Reuterkiez in Neukölln im Angebot. Zehn Anbieter vermieten sogar 10 Schlafplätze.

(476), in der Umgebung des Helmholtzplatzes in Prenzlauer Die Grafik zeigt allerdings, dass der größere Teil zwischen drei Berg (345) und im Gräfekiez in Kreuzberg (314). Die Studenten und sechs Plätze bereitstellt (siehe Abbildung 3). errechneten für die drei Spitzenreiter eine Dichte von 16 bis Mithilfe der Geopositionen ermittelten die Studierenden, 17 Angeboten pro 1.000 Einwohner. Für die Choroplethendass sich die Wohnungen der Top-10-Vermieter über ganz karte verwendeten die Studenten das Online-Tool CartoDB Berlin verteilten – einige hatten ein enges Netz innerhalb (siehe Abbildung 1). eines eingegrenzten Gebiets, zahlreiche verteilten ihre Wohnungen aber auch über die ganze Stadt. Darüber hinaus ließ Auch die Preisverteilung der Angebote ist aufschlussreich. sich feststellen, dass die (Groß-)Vermieter offenbar WohnunSo kostet ein durchschnittliches Angebot in Berlin 55 Euro gen in noch nicht ganz so populären Gegenden bevorzugen, pro Nacht, gut 7.000 Angebote (von 11.000) kosten weniger wo sich Immobilien günstiger und in größerer Zahl erwerben als 55 Euro pro Nacht. Das folgende Histogramm zeigt die lassen.

Preisverteilung (siehe Abbildung 2).

Ebenfalls die Geopositionen nutzten die Studenten für eine Eine Einordnung mit weiteren deutschen Großstädten zeigt Analyse besonders populärer Straßen. Sie kartierten – mit eine ähnliche Preisverteilung, in Hamburg, Köln und Frankfurt

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

37

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Abbildung 4: Straßen in Berlin mit mehr als 20 Airbnb-Angeboten

Die Karte zeigt alle „Airbnb-Straßen“ in Berlin mit mehr als 20 Angeboten. Je dunkler die Farbe, desto mehr Angebote.

Abbildung 5: Anzahl der Airbnb-Inserate in den zwanzig größten deutschen Städten

Anzahl der Airbnb-Inserate in Deutschlands größten Städten 10 000

Hamburg

5000 2500 1000 500 100

Anzahl Wohnungen regulärer Vermieter

Bremen Hannover

Anzahl Wohnungen mehrfacher Vermieter

Münster Duisburg Essen

Düsseldorf

Berlin

Bielefeld Bochum Dortmund Wuppertal

Köln

Dresden

Leipzig Bonn

Frankfurt Nürnberg Stuttgart

München

www.airbnbvsberlin.de

Die Grafik zeigt einerseits mit der Größe der Kreise die Anzahl der Inserate der zwanzig größten deutschen Städte. Die Aufteilung in den Kreisen zeigt andererseits das Verhältnis von regulär vermieteten Wohnungen und mutmaßlich professionell betriebenen Inseraten.

38

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

den gegeben Einschränkungen – sämtliche Angebote auf Straßenebene. Dabei konnten die Studenten feststellen, dass sich Ferienwohnungen auf touristische Hotspots konzentrieren, die „Szenebezirke“ Mitte, Prenzlauer Berg, Neukölln und Kreuzberg-Friedrichshain. Allein in Sonnenalle und Weserstraße in Neukölln gibt es 200 Inserate (siehe Abbildung 4).

Zur Gesamteinordnung verglichen die Studenten für die zwanzig größten Städte Deutschlands die jeweilige Gesamtzahl von Inseraten mit der Anzahl von gewerblichen Inseraten (Anbieter mit mindestens zwei Inseraten). Berlin sticht absolut in beiden Kategorien heraus, mit absolut über 10.000 Angeboten als auch dem Anteil gewerblicher Einheiten (29 Prozent). Auffällig ist dabei auch, dass München absolut gesehen mehr Angebote hat als das deutlich größere Hamburg – der gewerbliche Anteil liegt in beiden Fällen ähnlich hoch (18 und 20 Prozent).

Ebenfalls auffällig sind die Städte Hannover und Essen, die mit 60 und 52 Prozent Gewerbeanteil herausstechen. Allerdings ist hier auch die Betrachtung der absoluten Angebote wichtig, denn diese beträgt bei Hannover 446, bei Essen 167. In Frankfurt, Düsseldorf, Leipzig, Dresden und Nürnberg werden zwischen 400 und 1.000 Wohnungen offeriert, unterhalb der obersten zehn sinkt die Zahl rasch. Die letzten fünf auf der Liste bewegen sich zwischen 105 (Dortmund) und 26 Inseraten (Wuppertal) (siehe Abbildung 5).

Vor allem aber die Relation der Inserate zur Einwohnerzahl ist aufschlussreich: Auch hier liegt Berlin mit etwa 300 Inseraten pro 100.000 Einwohnern an der Spitze, während Hamburg mit gut 150 Inseraten pro 100.000 Einwohnern nur halb so viele Angebote hat. München liegt mit etwa 235 Inseraten pro 100.000 Einwohnern an zweiter Stelle.

Einordnung Als neue Datenquelle ist Airbnb interessant – auch wenn die Daten nicht unmittelbar angeboten werden. Die Studenten berichteten allerdings, dass die Firma entspannt mit dem Auslesen über die API umging. So fragte Airbnb direkt nach der Veröffentlichung, woher die Daten stammten, und bekam die Antwort: „Von Ihrer Seite“. Das Unternehmen ließ es dabei bewenden, und lud die Studenten zu sich ein, um ihr Projekt vorzustellen.

Aus statistischer Sicht handelt es sich zwar um eine Vollerhebung zu einem Stichtag, jedoch gibt es dabei mehrere Caveats.

So ist nicht eindeutig auszumachen, ob die Inserate an diesem Tag wirklich im Angebot waren oder nur als grundsätzlich existent angezeigt wurden. Weiterhin ist eine einzelne Tagesprobe nicht sicher repräsentativ. Dazu ist das systematische Erheben der Daten über einen längeren Zeitraum nötig, was die Studenten inzwischen auch tun. Für eine weitergehende Analyse stünde also das Material zur Verfügung. Ebenfalls interessant könnte eine ausführlichere lokale Untersuchung in Städten wie Berlin oder München sein.

Anfang Dezember 2015 hat Airbnb in New York eine erhebliche Menge seiner Daten in anonymisierter Form zur Verfügung gestellt. Noch immer ist kein Online-Abruf möglich, sondern ein Besuch der New Yorker Niederlassung der Firma nötig (Isaac 2015). Trotzdem ist dies eine Änderung der bisherigen Firmenpolitik, die auch für Berlin als Stadt mit den Abstand meisten Angeboten Hoffnung macht.

Projekt B: „So wird Berlin“ Rahmen „So wird Berlin“ ist zwischen Mai und Juni 2015 an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin entstanden. Der 11.

Volontärsjahrgang (2015–2017) durchlief im Rahmen seiner Grundausbildung einen dreiwöchigen Kurs „Datenjournalismus“, den der Autor mit der Designerin Cornelia Geissler leitete. Eine solche Dauer ist für ein datenjournalistisches Modul bislang eine Ausnahme. Der Zeitrahmen ermöglichte eine ausführliche Recherche, Analyse und Visualisierung der Daten.

Der Fokus lag auf Berlin um das Jahr 2030, was eine datenbasierte Betrachtung erschwert – schließlich beruhen die meisten datenjournalistischen Geschichten auf der Auswertung vergangener oder gegenwärtiger Daten. Durch intensive Recherche konnten die Volontäre trotzdem genügend Datenquellen erschließen. Insgesamt veröffentlichten die Volontäre auf der eigens eingerichteten Website www.sowirdberlin.de sechs Geschichten, die die folgende Themen abdeckten: - Klima („So warm – Wo es 2100 so heiß wie am Mittelmeer wird“) - Bildung („So knapp – Wie viele Lehrer bis 2023 an den Schulen fehlen werden“) - Nahverkehr („So mobil – Wo bis 2030 neue Bahnhöfe entstehen“) - Arbeitsmarkt („So beschäftigt – Welche Jobs bis 2030 entstehen und wegfallen“) - Demographie („So viele – Welche Kieze bis 2030 schrumpfen oder wachsen“) - Bauen („So bebaut – Wie viele Kleingärten bis 2020 Wohnungen weichen müssen“) Das Interaktiv-Team der Berliner Morgenpost unterstützte das Projekt, setzte einige Geschichten ausführlicher um und veröffentliche diese in Print und Online.

Vorgestellte Teilprojekte Diese Darstellung wird auf zwei Themen fokussieren, da eine ausführliche Darstellung aller Themen im Rahmen der Veröffentlichung nicht möglich ist. Vorgestellt werden die Themen Klima („So warm“) und Demographie („So viele“). Am KlimaThema beteiligt waren Florian Zimmer-Amrhein und Florian Haenes, am Demographie-Thema Max Dinkelaker, Martin Nejezchleba, Timo Nicolas und Gesa Steeger.

Daten – „So warm“ Für Berlin gibt es verschiedene Klimaszenarien und Klimaprojektionen. Im Mittelpunkt des Artikels über Berlins künftiges Klima stehen Daten, die die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt in ihrem Stadtentwicklungsplan (StEP) Klima verwendet. Die Daten wurden von der GEO NET Umweltconsulting erfasst und modelliert (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2011). Die Klimaexperten verwendeten dazu ein Raster von 25x25 Metern. Oberflächenbeschaffenheit und Gebäudehöhe als wichtige Parameter gingen in die Modellierung ein. Die Daten betrachten Berlin in den Zeiträumen 2001–2010, 2045–2055 und 2091–2099. Mehrere Ausprägungen wurden für die Zeiträume berechnet, unter anderem Sommertage (maximale Temperatur über 25°C), heiße

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

39

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Tage (maximale Temperatur über 30°C) und Tropennächte (Minimaltemperatur über 20°C).

Die Daten sind nicht zum direkten Herunterladen erhältlich, sondern wurden den Volontären von der Senatsverwaltung zur Verfügung gestellt. Maßgabe war hierbei, die Temperatur-

werte nicht im 25-Meter-Raster zu veröffentlichen, sondern auf die granularste Ebene der Lebensweltlich Orientierten Räume (LOR) umzurechnen (447 Planungsräume). Grund dafür waren nach Verständnis der Volontäre und des Autors mögliche Rückschlüsse auf die künftige Hitzebelastung einzelner Immobilien,

Abbildung 6: Durchschnittliche Zahl der Hitzetage

Die Karte zeigt die durchschnittliche Anzahl an Hitzetagen pro Jahr für die Zeiträume 2001 bis 2010 sowie 2090 bis 2099. Je dunkler die Kieze eingefärbt sind, desto höher ist die Zahl der Tage.

Abbildung 7: Anzahl der Nächte, an denen die Temperatur von 20°C nicht unterschritten wird

Anzahl der Nächte, an denen 20°C nicht unterschritten werden (= Tropennächte). Die Projektion bis ins Jahr 2100 beruht auf Messdaten der drei Wetterstationen in Tegel, Tempelhof und Dahlem.

40

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

was deren Marktwert negativ beeinflussen könnte. Für die Daten wurde mit QGIS der Durchschnittswert für jeden LOR errechnet. Verwendet wurden am Ende nur die Werte für heiße Tage und Tropennächte.

Analyse und Visuelle Aufbereitung – „So warm“ Zentrales Element der Darstellung und Analyse war eine interaktive Choroplethenkarte, die es für jeden der 447 Planungsräume ermöglicht, die Zahl der Hitzetage und Tropennächte im Jahr 2100 zu sehen und mit den Werten für 2001–2010 zu vergleichen. Die Planungsräume wurden im journalistischen Kontext als “Kiez” bezeichnet, da dies näher am Verständnis der alltäglichen Nutzer ist. Essenzielle Funktion ist die straßengenaue Suche des Kiezes, da ein gewöhnlicher Nutzer keinen Einblick hat, in welchem Planungsraum er wohnt (siehe Abb. 6).

Bei der Darstellung mithilfe der Choroplethenkarte zeigt sich, dass im Zeitraum 2090–2099 die Kieze in der Regel doppelt so viele heiße Tage erleben wird wie am Anfang des Jahrhunderts.

Die absolute Zahl ist in den Innenstadt-Kiezen deutlich höher als in den Randlagen, am wenigsten betroffen sind durch den ausgleichenden Effekt waldreiche Gebiete. Im Kiez Wilhelmstraße in Mitte etwa steigt die Zahl der Hitzetage von 11 auf 25, während im Grunewald die Zahl von drei auf neun steigt.

Deutlicher ausgeprägt sind die Unterschiede bei den Tropennächten, hier zeigen sich die eigentlichen Aufheizungseffekte bei Gebäuden und versiegelten Flächen. Im Beusselkiez (Mitte) etwa steigt die Zahl der Nächte mit einer Mindesttemperatur von 20 Grad von vier auf 15, während die Zahl in vielen grüneren Gebieten von null auf vier oder fünf steigt. Bei zahlreichen innerstädtischen Kiezen tendiert Zahl der Tropennächte 2090–2099 gegen zehn bis 15.

Außerdem verwendeten die Volontäre eine weitere Simulation, die für drei Berliner Klimastationen (Tegel, Tempelhof, Dahlem) existiert. Sie basiert auf einem weiteren Klimamodell.

Die Entwicklung von Hitzetagen zwischen 1960 und 2100 zeigt auf Liniendiagrammen einen grundsätzlichen Anstieg spätestens ab 2050, der für alle drei Stationen annähernd gleich ist. Bei den Tropennächten hingegen steigt die Zahl für alle drei Stationen, jedoch entwickeln sich Tegel und Tempelhof nahezu identisch, während die Zahlen für Dahlem weit unter denen der anderen beiden Stationen bleiben. Dies bestätigt letztlich die grundsätzliche Tendenz des anderen, granularen Modells (siehe Abbildung 7).

Für die datenjournalistische Aufbereitung solch komplexer Daten ist die Einordnung durch Experten von großer Wichtigkeit.

Die Volontäre führten ein Videointerview mit dem Physiker Matthias Lüdeke vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der erklärte, wie das Klima der Zukunft berechnet wird. Ebenso sprachen sie mit dem Klimatologen Wilfried Endlicher vom Geografischen Institut der Berliner Humboldt Universität, der erläuterte, wie sich Städte dem Klimawandel anpassen können.

Grundsätzlich möglich wäre auch eine Betrachtung der Sommertage statt der Hitzetage möglich gewesen. Dies hätte unter Umständen durch die stärker divergierende Zahl pro Kiez eine ausdifferenziertere Analyse ermöglicht.

Daten – „So viele“ In einem deutlichen kleineren Zeitraum bewegte sich die Bevölkerungsprognose für Berlin. Sie ist für die Jahre 2011 bis

2030 angelegt und beruht auf dem Einwohnermelderegister.

Die Daten liegen auf Ebene der 60 Prognoseräume (gröbste Granularität der Lebensweltlich Orientierten Räume) vor. Für jeden der Prognoseräume ist die Anzahl der Bewohner aufgeschlüsselt nach einzelnen Kalenderjahren und Altersjahren, etwa Anzahl der 67-Jährigen in Friedrichshain-Ost im Jahr 2021.

Die verwendete Bevölkerungsprognose (von 2012) war bei Umsetzung des Projekts die aktuellste, jedoch hat die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung eine Korrektur der Zahlen nach oben angekündigt, da die Zuwanderung nach Berlin zwischen 2012 und 2015 höher war als erwartet.

Analyse und Visuelle Aufbereitung – „So viele“ Die Volontäre arbeiteten in der Analysephase die für sie relevanten Kerntendenzen der Bevölkerungsprognose heraus, nämlich die Veränderungen bei Älteren (65+) und Kleinkindern (0–6 Jahre). Dazu verglichen sie die absoluten Werte für 2011 und 2030 und berechneten die prozentualen Unterschiede.

Während es in nahezu allen Berliner Prognoseräumen im Jahr 2030 deutlich mehr Ältere geben wird, sinkt in den meisten Räumen die Zahl der Kleinkinder. Nur in wenigen Gebieten werden der Prognose zufolge mehr Kinder leben. Das Team verwendete für eine erste räumliche Analyse das kostenlose Kartenwerkzeug CartoDB. Auch bei diesem Artikel unterstützten die Entwickler des Morgenpost-Interaktiv-Teams die Volontäre, so dass diese auf eine leistungsfähige interaktive Karte zurückgreifen konnten.

Diese Choroplethenkarte ermöglicht eine straßengenaue Suche und einen Vergleich zwischen der Gesamtentwicklung, der Veränderung bei Senioren und bei Kleinkindern (siehe Abbildung 8).

Besonders auffällig sind die Unterschiede im Bezirk Lichtenberg, wo im Lichtenberg-Süd – als nur einem von sieben Räumen in ganz Berlin – die Zahl der Kinder steigen wird, während in Hohenschönhausen-Nord (ebenfalls Lichtenberg) die Kinderzahl um mehr als 15 Prozent sinken wird. Zugleich nimmt die Zahl der Senioren in jenem Gebiet um über 90 Prozent zu.

Von diesen Erkenntnissen ausgehend fokussierten die Volontäre auf zwei Aspekte: Sie untersuchten zum einen die gegensätzlichen Teile Lichtenbergs und anderer Bezirke und fragten Bewohner, wie sie zur künftigen Entwicklung stehen.

Zum andern fiel ihnen die steigende Zahl der über 99-Jährigen in Berlin auf – der Prognose zufolge sollen sich ihre Zahl im Jahr 2030 auf fast 4.000 Personen fast verdoppeln (2011: 1.737). Die Volontäre führten daher Videointerviews mit drei 100-jährigen Berlinerinnen und schlüsselten auf, in welchen Gebieten 100-Jährige vor allem leben werden.

Einordnung Teilprojekte Während das Teilprojekt „So warm“ vor allem von einer sehr komplexen Materie und eher zu vielen Daten geprägt war, standen den Volontären bei „So viele“ wenig granulare Daten zur Verfügung, die an der Grenze der Verwendbarkeit waren.

Die Volontäre beider Teilprojekte haben jedoch die Herausforderungen aus datenjournalistischer Sicht gut bewältigt und angemessene Umsetzungen gefunden. Wo die Daten nicht „individuell“ genug waren, fanden sie interessante Interviewpartner, während das Klima-Teilprojekt durch das recht

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

41

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

granulare Datenniveau den Nutzern einen guten Bezug zur Alltagsumgebung ermöglichte. Zudem demonstrierten die Volontäre des Klima-Teilprojekts, dass engagierte Gespräche mit den Entscheidern in der Senatsverwaltung den Zugang zu Daten ermöglichen, die nicht öffentlich zugänglich sind.

Ausblick Die beiden Projekte „Airbnb vs. Berlin“ und „So wird Berlin“ zeigen, dass auch komplexere Daten einem Publikum jenseits der Fachöffentlichkeit vermittelt werden können. Wichtig sind dabei hinreichende Erklärungen und Einordnungen und gute

visuelle Aufbereitungen. Zugute kommen Journalisten und Designern die steigende Leistungsfähigkeit von Webbrowsern und Daten und Visualisierungen als Trendthemen.

Momentan liegt eine große Herausforderung in der Datenakquise, die alles andere als standardisiert ist. Doch auch nicht-öffentliche Unternehmen wie Airbnb unterliegen einem gewissen Transparenzdruck, der dafür sorgen könnte, dass Interessierte einen Zugang zu Daten erhalten.

Eine große Chance könnten nach Auffassung des Autors projektbezogene Kooperationen zwischen Statistik-Spezialisten und Datenjournalisten sein. Beide Seiten profitieren hier von der jeweiligen Spezialisierung, das Ergebnis wäre eine größere Öffentlichkeit.

Abbildung 8: Vorausberechnete Bevölkerungsentwicklung

Die Karte zeigt, wie stark die jeweiligen Stadtteile (LOR-Prognoseräume) im Jahr 2030 im Vergleich zu 2011 schrumpfen oder wachsen werden. Je dunkler die Stadtteile eingefärbt sind, desto stärker das Wachstum. Grün bedeutet ein Schrumpfen.

Literatur Kayser-Bril, Nicolas (2015): Datajournalism. Blogpost auf: http://blog.nkb.fr/datajournalism/ Isaac, Mike (2015): Airbnb Releases Trove of New York City Home-Sharing Data. In: New York Times, 1. Dezember 2015. Online: http:// www.nytimes.com/2015/12/02/technology/ airbnb-releases-trove-of-new-york-city-homesharing-data.html

42

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (2011): Untersuchungen zum Klimawandel in Berlin – Dokumentation der im Rahmen des Stadtentwicklungsplan (StEP) Klima durchgeführten Modellrechnungen. Online: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/download/StEP_Klima/ SenStadt_StEP_Klima_Fachbeitrag_Klimamodellierung.pdf

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Royal, Cindy, Blasingame, Dale (2015): Data journalism: An explication. In: Multimedia Editon of #ISOJ, the official research journal of ISOJ International Symposium on Online Journalism), Volume 5, Issue 1 Spring 2015. Online: https://isojjournal.wordpress.com/2015/04/15/ data-journalism-an-explication/

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Patrick Hausmann und Arnt von Bodelschwingh

Wohnungsmarktanalysen mit Daten von „ImmobilienScout24“

Wohnungsannoncen stellen seit vielen Jahren eine wichtige Informationsquelle für Wohnungsmarktbeobachtung dar. Hier artikulieren Vermieter ihre Preisvorstellungen im Rahmen von Neu- und Wiedervermietung, was wichtige Rückschlüsse auf die Marktentwicklung zulässt – nicht nur im Hinblick auf die Preisvorstellungen bei Vermietung oder Verkauf, sondern auch bezogen auf die strukturellen Merkmale der marktaktiven Wohnungen wie Wohnfläche, Zimmerzahl oder Baujahr bis hin zu Hinweisen auf Neben- und Betriebskosten sowie energetische Standards. Bis vor circa zehn Jahren wurden vielfach Zeitungsannoncen – meist zu bestimmten Zeitpunkten und stichprobenartig – von Hand ausgewertet. Mit der zunehmenden Verlagerung des Wohnungsanzeigengeschäfts weg von den klassischen Printmedien in das Internet hat sich die Datenlage nicht nur deutlich verbreitert.

Sie lässt sich aufgrund des digitalen Charakters auch deutlich komfortabler auslesen, aufbereiten und analysieren.

Patrick Hausmann Patrick Hausmann ist Diplom-Volkswirt und arbeitet freiberuflich im Bereich der Stadt- und Regionalforschung sowie der statistischen Datenanalyse und Visualisierung. Er ist u.a. Mitarbeiter in der Projektgruppe „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ in Berlin und für den Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen BBU tätig. : patrick.hausmann@covimo.de Arnt von Bodelschwingh Arnt von Bodelschwingh ist Diplom-Volkswirt und geschäftsführender Gesellschafter der Berliner RegioKontext GmbH. Seit mehr als 10 Jahren befasst er sich mit Analysen zum Wohnungsmarkt, der Wohnraumförderung, dem Klimaschutz in Wohngebäuden und verwandten Themen. Regelmäßige Auftraggeber sind Bundes- und Landesministerien, Kommunen, Verbände und gewerbliche Akteure des Wohnungs- und Immobilienmarktes. : www.regiokontext.de Schlüsselwörter: Wohnungsmarkt – Berlin – Angebotsmieten – R – Immobilienscout – Methodik

Wie Angebotsdaten für den Wohnungs- und Immobilienmarkt entstehen Bei der Generierung der Daten gibt es unterschiedliche Wege: - Zum einen lesen Robot-Programme die aktiven Angebote von den online verfügbaren Plattformen aus.

- Zum anderen können die Datensätze direkt bei den Betreibern der Immobilien-Plattformen bezogen werden.

Beide Wege führen zu einer breit aufgestellten Datenbasis, sind jedoch spezifischen Erfordernissen in der nachgelagerten Behandlung der Daten behaftet. Ein üblicher Weg ist daher der Bezug der Daten in aggregierter Form von Serviceanbietern, die den Datensatz genau auf die Bedürfnisse der Nutzer zuschneidet. Wie die Daten dabei angefasst werden, bleibt allerdings oft intransparent.

Die besondere analytische Qualität der Immobiliendaten wird inzwischen auch von den Plattformbetreibern selbst erkannt.

So kontextualisieren sie zunehmend die Ergebnisse individueller Recherchen mit Marktinformationen, die sich auf die Gesamtheit der eigenen Datensätze stützen – etwa in der Form, dass der einzelne Angebotspreis auf einer Skala mit allen anderen (vergleichbaren) örtlichen Angeboten eingeordnet wird.

Welche Daten gehen in die Analysen ein?

Beim analytischen Einsatz dieser Daten ergeben sich aber auch Probleme. Es zeigt sich, dass die Ergebnisse vielfach voneinander abweichen. Zu Recht fragt die WELT am 22. September 2015 angesichts der differierenden Meldungen etwas genervt, was denn nun ein Quadratmeter Eigentumswohnung zum Beispiel in Berlin, Hamburg oder München kostet.1 Wie kommt es zu solchen Differenzen trotz gleicher oder zumindest ähnlicher Datenquellen?

Zunächst ist festzuhalten, dass die oben genannten beiden Varianten der Datengenerierung bereits auf unterschiedliche Grundgesamtheiten zugreifen. Die mittels Robot-Programm erstellen Datenbanken werten mehrere Online-Plattformen aus. Dies hat zum Vorteil, dass eine größere Breite zugrunde liegt. Solche Verfahren führen aber auch zu weiteren Problemen: Letztlich ist man völlig dem dort hinterlegten Algorithmus ausgeliefert. Welche Informationsfelder wie ausgelesen werden, bleibt zumindest für den Nutzer unklar. Unter langjährigen Anwendern unstrittig ist etwa die Tatsache, dass immer wieder angebotene Garagen oder auch die Adresse des

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

43

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Maklerbüros als Wohnungsangebote erfasst werden. Ohne Zweifel sind auch Fehler oder bewusste Fehleingaben der Anbieter eine Ursache, die als solche erst einmal erkannt und dann auch eliminiert werden müssten. Ein weiteres Problem sind Doubletten: Die gleiche Wohnung kann beispielsweise bei unterschiedlichen Angebots-Plattformen auftauchen.

Um sie nicht mehrfach zu berücksichtigen, müssen solche Fälle unbedingt zweifelsfrei erkannt und aussortiert werden.

Daher sollte ein Nutzer stets klären, ob und wie dies bei den aufbereiteten Daten, die man von Serviceanbietern bezieht, tatsächlich geschieht. Ähnlich bei Medikamenten gilt also: „Fragen Sie Ihren Lieferanten oder Datenaufbereiter!“

Was ist eine Doublette – und was nicht?

Im Kern geht es hierbei um die Frage, wie die Datenbasis bereinigend angefasst wird. Wenden wir uns zunächst den Doubletten zu: Ein entsprechender Verdacht liegt vor, wenn mehrere Merkmale von Wohnungsanzeigen identisch sind.

Bezieht man die Daten von nur einer Online-Plattform, gibt eine identische Identifikationsnummer des Objekts (ObjektID) erste Hinweise. Doch zeigt die Praxis, dass durchaus auch unter verschiedenen IDs die gleiche Wohnung eingestellt wird. Über die Ursachen kann nur gemutmaßt werden. Ein Erklärungsansatz liegt in integrierten Softwarelösungen für Hausverwaltungen, die freie Objekte automatisch bei einer Wohnungsplattform einspielen und dabei jedes Mal andere ID zugewiesen bekommen. Fließen die Informationen unterschiedlicher Plattformen ein, reicht der ID-Abgleich ohnehin nicht aus. Dann ist die Doublette über strukturelle Merkmale zu identifizieren. Die zur Anwendung kommenden Verfahren sind vielfach komplex und verfeinern sich mit der Zeit immer weiter. Im Kern geht es um eine Verkettung von Merkmalen: Haben Anzeigen die gleiche Adresse, und wenn ja: haben sie die gleiche Wohnfläche? Ist auch dies der Fall, werden weitere Merkmale abgestimmt. In der Praxis ist dabei zu berücksichtigen, dass vor allem im großmaßstäblichen Wohnungsbau (Plattenbau) oft absolut identische Wohnungszuschnitte vorkommen. Hier muss die Bereinigung erkennen, dass es sich gerade nicht um eine Doublette handelt.

Einen Sonderfall stellen sogenannte „Wiedergänger“ dar: Ein und dieselbe Wohnung kann ja durchaus mehrfach innerhalb eines Betrachtungszeitraum (z. B. eines Jahres) in der Datenbank auftauchen. Hier ist zu klären: Handelt es sich um eine leerstehende Wohnung, deren Angebot temporär unterbrochen wurde? Oder wurde das Mietverhältnis zunächst geschlossen, aber kurzfristig wieder beendet, so dass sich das Objekt nun in einem neuen Vermarktungszyklus befindet?

Trifft letzteres zu, würde einiges dafür sprechen, den Fall tatsächlich mehrfach zu berücksichtigen.

Wie repräsentativ sind Angebotsdaten?

Oft wird die Frage gestellt, ob denn das analytische Bild, das anhand solcher Marktdaten erstellt wird, tatsächlich repräsentativ ist. Hier ist zunächst festzustellen: Es gibt nichts Besseres.

Die mühevolle Auswertungsmethode früherer Jahre, die von

44

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Hand erfolgte, ist der beste Beleg dafür, dass letztlich nur solche Angebotsdaten einen einigermaßen realistischen Blick auf den Markt erlauben. Dabei ist zu bedenken: Die große Zahl der bestehenden Mietverträge bleibt hier natürlich völlig unberücksichtigt. Die Angebotsdaten erlauben vielmehr einen Blick auf den Marktausschnitt, der sich aufgrund von Mieter- oder Eigentümerwechsel in Veränderung befindet. Damit wird ein Einblick auf die Konditionen des konkreten Zeitpunkts und – etwa im Falle von Mietwohnungen – auf die Konditionen der künftigen Bestandsverträge möglich.

In diesem Zusammenhang wird oft kritisiert, dass es sich bei den Angebotsdaten eben nicht um vereinbarte Konditionen, sondern vielmehr um die Vorstellungen der Anbieter handelt.

Für die Angebotsmieten ist allerdings zu unterstellen, dass die Miethöhe in der Regel nicht noch nachträglich verhandelt wird – zumindest nicht in solchen Wohnungsmärkten mit zumindest moderater Marktanspannung. Überdies lassen sich Vermieter bei den Mieten in der Praxis zumeist ungern nach unten handeln, sondern bieten ggf. mietfreie Monate an. Damit bleibt das tatsächliche Mietniveau unberührt. Hier ist hingegen eher einzuwenden, dass möglicherweise gar nicht alle Wohnungen in den (meist kostenpflichten) Portalen erscheinen. Dem ist beizupflichten, denn gerade unter angespannten Marktbedingungen gehen zweifelsohne vielfach vakante Wohnungen „unter der Hand weg“ – durch Empfehlungen von Nachbarn, Bestandsmietern etc. Dies kann nach Erfahrung der Autoren gerade preiswertere und dadurch begehrtere Wohnungen betreffen (etwa im Falle von Genossenschaften), zumal die Wohnungsannoncen in der Regel für den Vermieter auch kostenpflichtig sind. Umgekehrt muss aber auch davon ausgegangen werden, dass gerade das Luxussegment oftmals über völlig andere Vertriebskanäle verfügt und damit zumindest ein gewisser Ausgleich gegeben sein dürfte.

Interpretation der Ergebnisse mit Augenmaß Trotz allem Vorgenannten gilt: Es gibt keine bessere Datengrundlage, die – je nach Bezugsraum – flächendeckende Analysen von räumlichen Strukturen erlaubt. Diesen sollte ohnehin das stärkere Augenmerk gelten als den reinen Mittelwert-Angaben zu Preis, Wohnfläche oder sonstigen quantifizierbaren Parametern – etwa unter der Fragestellung: In welchen räumlichen Mustern strukturieren sich die einzelnen Marktsegmente?

Wie hoch ist beispielsweise der Anteil des Preissegments unter X Euro pro m2 jeweils? Schließlich sind – bei allen Unzulänglichkeiten – auch die Veränderungsdynamiken im zeitlichen Verlauf wichtige Hinweisgeber für das Marktgeschehen: Beschleunigt sich der Preisverfall/-anstieg oder bremst sich eine Dynamik früherer Jahre eher ab? Fragen wie diese sind auf so komfortablem Weg und so aktuell wie anhand der Angebotsmarktdaten kaum zu beantworten. Dennoch gilt: Augenmaß und Reflexion sind bei der Bewertung und der Kommentierung der Ergebnisse unverzichtbar – und sind dem weniger eingeweihten Leser oder Kunden sachgerecht zu vermitteln. „Berliner müssen 40 % ihres Einkommens für die Miete aufbringen“ – bei Schlagzeilen wie diesen ist genau auf die Datenquelle zu schauen: Die Angebotsdaten, gern in solchen Zusammenhängen verwendet, lassen solche pauschalen Aussagen eben gerade nicht zu.

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Auswertung der Wohnungsangebote mit R Von Mitte Oktober bis Ende Dezember 2015 wurden täglich die Mietwohnungsangebote der „ImmobilienScout24“ Datenbank für Berlin abgefragt. Mit durchschnittlich 4.600 Wohnungsangeboten pro Tag ist der Berliner Wohnungsmarkt der Größte in Deutschland. Im Folgenden wird das Vorgehen mit dem Statistikprogramm R beschrieben, der vollständige

Tabelle 1: Anzahl der täglichen Angebote nach Bezirken (Mittelwert) im Zeitraum vom 19. Oktober 2015 bis 27. Dezember 2015 Bezirk

Anzahl der Angebote

01 – Mitte

445

02 – Friedrichshain-Kreuzberg

349

03 – Pankow

479

04 – Charlottenburg-Wilmersdorf

457

05 – Spandau

275

06 – Steglitz-Zehlendorf

391

07 – Tempelhof-Schöneberg

244

08 – Neukölln

155

09 – Treptow-Köpenick

381

10 – Marzahn-Hellersdorf

234

11 – Lichtenberg

246

12 – Reinickendorf

218

ohne Zuordnung Berlin

Abbildung 1: Auszug der eingelesenen Datenstruktur

Liste 1: Abfrage der Mietwohnungsangebote für Berlin

698 4.572

Programmcode zur Erstellung der Tabellen und Abbildungen findet sich im Internet.2 Auf Anfrage und nach einer Prüfung ermöglicht „ImmobilienScout24“ einen Zugriff über eine sogenannte API. Eine API bezeichnet eine Programmierschnittstelle für die Kommunikation zwischen Computern. Mittels dieser Schnittstelle können Daten, Informationen und Funktionen über Webadressen bereitgestellt werden. Zum Austausch werden dabei häufig die Dateiformate JSON oder XML verwendet. Viele Anbieter von Webinhalten ermöglichen heute den Zugriff auf ihre Daten in dieser Form (z. B. statistische Ämter, Zeitungen („New York Times“, Die ZEIT) aber auch Wikipedia oder Twitter). Das Portal „ImmobilienScout24“ bietet seinen Kunden je nach Anforderung unterschiedliche APIs an. Für die folgenden Auswertungen wurde die „Search API“ verwendet.

Ein Import der Daten in R ist mit wenigen Befehlen erfolgt (Liste 1) nach der Authentifizierung wird an den Server mittels des Befehls „GET“ eine URL mit der ID für die gewünschte Region – in diesem Fall für Berlin – übergeben. Ist die Anfrage erfolgreich, enthält die Variable „result“ die zurückgegebenen Daten der Wohnungsangebote.

Die Abbildung 1 zeigt einen Auszug der Daten nach dem Import in einen Data Frame. Die Datenstruktur unterscheidet sich etwas von der klassischen Anordnung in Zeilen (Datensätze) und Spalten (Variablen) wie sie aus Excel oder den Tabellen in relationalen Datenbanken (PostgreSQL, Access) bekannt sind. Einige Variablen sind vielmehr hierarchisch strukturiert („address“ und „price“).

Für die weitere Auswertung werden relevante Variablen ausgewählt und die Angebote auf Basis der Geokoordinaten, der in Berlin für die Stadtplanung gebräuchlichen Gebietskulisse der „Lebensweltlich orientierten Räume (LOR)“ zugeordnet.

Im betrachteten Zeitraum wurden insgesamt rund 300.000 Wohnungsannoncen geladen.3 Die Abbildung 2 zeigt die Angebote im Zeitverlauf getrennt nach Bezirken.

Die meisten Wohnungsangebote entfielen auf die drei Bezirke 03 – Pankow, 01 – Mitte und 04 – Charlottenburg-Wilmersdorf mit durchschnittlich über 400 Angeboten. Weniger als 250 Angebote gibt es im Mittel in den Bezirken 07 – TempelhofSchöneberg sowie in den drei östlichen Bezirken 10 – Marzahn-Hellersdorf, 11 – Lichtenberg und 12 – Reinickendorf.

Das geringste Angebot mit 155 Angeboten verzeichnet der Bezirk 08 – Neukölln. Für rund 15 % der täglichen Anzeigen liegen keine Geokoordinaten vor (vgl. Tabelle 1).

Wie oben beschrieben, stellt das Identifizieren von Dubletten und die Plausibilisieren der Daten große Anforderungen an die Datenvorbereitung (data cleaning). Einige der angesproche-

# Authentifizierung immo24 <- oauth_app („app“, key = Sys.getenv („consumerKey“), secret = Sys.getenv („consumerSecret“)) sig <- sign_oauth1.0 (immo24, token = Sys.getenv („tokenGenerated“), token_secret = Sys.getenv („TokenSecret“)) # Webseite base_url <- „http://rest.immobilienscout24.de/restapi/api/search/v1.0/search/region?“ geocode <- „1276003001“ url <- paste0 (base_url, „realestatetype=apartmentrent&geocodes=“, geocode) result <- GET (url, sig)

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

45

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Abbildung 2: Anzahl der Wohnungsangebote je Tag und nach Bezirken

Liste 2: Auszug aus dem R-Programm für die Abbildung 2 p1 <- ggplot (data, aes (date2, Anzahl, group = BEZ, color = BEZ)) + geom_line (size = 0.8) p1 <- p1 + labs (x = „“, y = „Anzahl der Angebote pro Tag“) p1 <- p1 + scale_x_date (labels = date_format („%d/%m“), breaks = date_breaks („5 day“)) p1 <- p1 + theme (axis.title.x = element_blank (), legend.position= „bottom“, axis.text.x = element_text (angle=90, vjust = 0.5, size = 9))

Tabelle 2: Deskriptive Kennzahlen der Nettokaltmiete je m2 nach Bezirken Bezirk

Anzahl

01 – Mitte

Wohnfläche

Nettokaltmiete je m2 Q25

Q50 Median

Q75

Mittelwert

IQR

SD

1.458

79,4

8,27

10,00

12,90

11,08

4,63

3,18

960

79,7

9,47

11,00

13,00

11,36

3,53

2,61

03 – Pankow

1.563

75,8

8,00

9,50

11,50

10,06

3,50

2,45

04 – Charlottenburg-Wilmersdorf

1.232

91,5

8,75

10,00

12,00

10,64

3,25

2,51

02 – Friedrichshain-Kreuzberg

05 – Spandau 06 – Steglitz-Zehlendorf 07 – Tempelhof-Schöneberg 08 – Neukölln

841

72,9

6,40

7,00

7,94

7,16

1,55

1,26

1.069

85,3

7,97

9,02

10,33

9,45

2,37

2,01

853

78,8

7,29

8,50

10,08

9,01

2,80

2,15

690

69,8

6,91

8,41

10,00

8,68

3,09

2,21

1.088

76,0

7,05

8,02

9,24

8,45

2,18

1,80

10 – Marzahn-Hellersdorf

663

69,9

5,60

6,05

6,96

6,40

1,36

1,28

11 – Lichtenberg

658

70,7

6,75

8,01

9,72

8,54

2,97

2,13 1,37

09 – Treptow-Köpenick

12 – Reinickendorf ohne Zuordnung Berlin

46

683

72,2

6,77

7,50

8,49

7,69

1,72

1.865

91,9

8,41

10,00

12,00

10,65

3,59

2,78

13.623

79,8

7,37

8,98

10,99

9,62

3,62

2,69

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

nen Verfahren wurden auf den Rohdatensatz angewendet (z. B. Abgleich der Geokoordinaten oder Wohnungsausstattung).

Weitere Filter beziehen sich auf die Wohnfläche (min 35 m2, max 250 m2) und die Nettokaltmiete (zwischen 3,50 €/m2 und 20 €/m2). Dieser bereinigte Datensatz enthält rund 13.600 Datensätze, in Zweifelsfällen wurden für die Auswertung weitere Datensätze ausgeschlossen.

Die Tabelle 2 weist einige Kennzahlen der Wohnungsangebote auf Ebene der Bezirke aus. Mit einer durchschnittlichen Wohnfläche von über 90 m2 werden die größten Wohnungen in Charlottenburg-Wilmersdorf angeboten während in Neukölln und Marzahn-Hellersdorf die Wohnungen im Schnitt unter 70 m2 aufweisen. In den drei Bezirken Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf

liegt der Median der Nettokaltmiete pro m2 bei über 10 €.

Interessant ist, dass sich die Wohnungsangebote, für die keine räumliche Zuordnung möglich ist, ebenfalls auf einem sehr hohen Preisniveau bewegen und in der mittleren Wohnfläche sogar noch etwas über Charlottenburg-Wilmersdorf liegen.

Den Zusammenhang zwischen Nettokaltmiete pro m2 und der Wohnfläche bis 200 m2 zeigt die Abbildung 3. Jeder Punkt steht für ein Angebot. Um gegebenenfalls Muster in den Daten zu erkennen, wurde die Transparenz der Punkte mit Hilfe des Parameters „alpha“ angepasst. Der Wert von „1/10“ bedeutet, nur wenn 10 Werte für die jeweilige Kombination vorliegen, erhält der Datenpunkt die volle Farbsättigung. Ein Blick in die Daten zeigt, dass nur ein Punkt die volle Farbsättigung aufweist.

Abbildung 3: Nettokaltmiete pro m2 in Abhängigkeit von der Wohnfläche

Liste 3: R-Programm für die Abbildung 3 p2 <- ggplot (subset (x1, subset = qm <= 200), aes (qm, round(pqm, 2)) p2 <- p2 + geom_point (color = „blue“, shape = 1, alpha=1/10) p2 <- p2 + geom_smooth (method = „loess“, color = „orange“, se = FALSE) p2 <- p2 + geom_smooth (method = „lm“, color = „red“, se = FALSE) p2 <- p2 + labs (x = „Wohnfläche“, y = „Nettokaltmiete pro qm“) p2 <- p2 + scale_y_continuous (breaks = seq [4, 20, 2]) p2 <- p2 + scale_x_continuous (breaks = seq [40, 200, 20])

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

47

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Die Grafik zeigt, dass sich sehr viele Wohnungsangebote bei ganzzahligen Mieten finden. Am häufigsten sind „glatte“ Mieten von 10 € und 8 €. Darüber hinaus wurden in die Grafik zwei Regressionskurven eingezeichnet. Die rote Line basiert auf einer linearen Regression (spezifiziert mit dem Parameter „lm“), während die orange Line das Ergebnis einer nichtparametrischen Regression (Parameter „loess“) ist. Hierbei gehen benachbarte Datenpunkte als Gewicht in die Regression ein.

Die Abbildung zeigt, dass die lineare Regression für kleine Wohnungsgrößen die Miete überschätzt und für große Wohnungen eher unterschätzt. In der gewichteten Regression liegt das Minimum bei 70,4 m2 und 8,64 €/m2.

Für die folgende Abbildung 4 wurden die Daten auf Ebene der Prognoseräume (PGR) aggregiert. Nach den 12 Bezirken ist dies die nächstkleinere räumliche Abgrenzung und umfasst 60 Gebiete. Zur besseren Übersicht wurden die Daten gefiltert und nur PGR aufgenommen, für die im Untersuchungszeit-

Liste 4: Welche Kombination von Wohnungsgröße und Miete ist am häufigsten vertreten? m <- tbl_df (x1) %>% filter (qm <= 200) %>% group_by (qm, pqm) %>% summarise (Anzahl = n ()) %>% ungroup () %>% arrange (desc (Anzahl)) m Source: local data frame [12,214 x 3]

1 2 3 4 5

qm (dbl) 68.49 70.00 57.00 60.00 75.00

pqm (dbl) 5.576873 10.000000 10.000000 8.000000 10.000000

Anzahl (int) 10 9 8 8 8

Abbildung 4: Nettokaltmiete pro m2 für Prognoseräume(PGR) mit mindestens 100 Angeboten

Liste 5: R-Programm für die Abbildung 4 p3 <- ggplot (data, aes (reorder (as.factor (PGR), pqm, median, order = TRUE), pqm)) p3 <- p3 + geom_boxplot (aes (alpha = Anzahl), fill = „orange“) p3 <- p3 + geom_hline (group = 1, yintercept = 8.98, size = 1, color = „#0072B2“) p3 <- p3 + scale_y_continuous (breaks = seq (4, 20, 2)) p3 <- p3 + labs (x = „Prognoseraum“, y = „Nettokaltmiete pro qm“) p3 <- p3 + theme (axis.text.x = element_text (angle = 90, vjust = 0.5)) p3 <- p3 + theme (axis.title.x = element_blank (), legend.position = „bottom“, axis.text.x = element_text (angle = 90, vjust = 0.5, size = 9))

48

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

raum mindestens 100 Angebote vorliegen. Im Durchschnitt liegen für die Prognoseräume 200 Angebote vor. Die Bandbreite reicht dabei von 18 Offerten im PGR „0401 – CW 1“ bis zu 640 Angeboten im PGR „0101 – Zentrum“.

Abschließend wurden die verbleibenden 43 Prognoseräume aufsteigend nach ihrem Median-Mietwert sortiert. Um eine Vorstellung für die zugrundeliegende Fallzahl zu bekommen, wurde der Boxplot eingefärbt. Als weitere Orientierung wurde der Median-Mietwert über alle Angebote in Höhe von 8,98 €/ m2 als blaue Linie eingezeichnet (vgl. Tabelle 2).

Die mit Abstand höchsten Angebotsmieten werden für Wohnungen in zentraler Lage aufgerufen. Gleichzeitig ist dieses Gebiet aber auch durch die stärkste Streuung der Mieten gekennzeichnet. Bemerkenswert ist, dass von den dann folgenden sechs Prognoseräumen (deren 25 %-Quantil über dem gesamtstädtischen Median liegt) vier Quartiere im östlichen Stadtgebiet liegen (Friedrichhain und Prenzlauer Berg). Deutlich günstigere Wohnungsangebote finden sich in Wohnlagen in den Bezirken Marzahn-Hellersdorf sowie Spandau und Reinickendorf.

Abbildung 5: Nettokaltmiete pro m2 in Abhängigkeit von der Wohnfläche nach Bezirken

Liste 6: R-Programm für die Abbildung 5 #### Funktion zur Klassenbildung condense_qm_pqm <- function(qm, pqm) {x <- condense (bin (qm, 10), z = pqm, summary = „mean“) return (x)} #### Berechnung und Filtern der Durchschnittsmiete pro m2-Klasse x2 <- tbl_df (x1) %>% filter (qm <= 120) %>% group_by (BEZ) %>% do (condense_qm_pqm ( .$qm, .$pqm)) %>% mutate (Anteil_n = round (prop.table (.count) * 100, 1)) %>% filter (.count >= 20) #### Erstellung der Grafik p4 <- ggplot () + geom_line (data = x2, aes (x = qm, y = .mean)) p4 <- p4 + geom_point (data = x2, aes (x = qm, y = .mean, color = BEZ, group = BEZ, size = Anteil_n), shape = 1) p4 <- p4 + scale_y_continuous (breaks=seq (4, 20, 1)) p4 <- p4 + ggtitle („ “) + ylab („Nettokaltmiete pro qm“) + xlab („Wohnfläche“) p4 <- p4 + facet_grid (~ BEZ) p4 <- p4 + theme (axis.text.x = element_text (angle = 90, vjust = 0.5)) p4 <- p4 + guides (colour = FALSE) p4 <- p4 + coord_fixed (ratio = 80)

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

49

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Als nächstes werden die Durchschnittsmieten auf Ebene der zwölf Bezirke für Wohnungen bis 120 m2 berechnet. Die Wohnfläche ist dabei in Klassen von 10 m2 gruppiert worden. Um Extremwerte durch geringe Fallzahlen etwas auszuschließen, wurden nur Klassengrößen mit mindestens 20 Angeboten berücksichtigt.

In fast allen Bezirken weisen die Kurven den typischen V-förmigen Verlauf auf (Abbildung 5). Kleine und große Wohnungen sind teurer als Wohnungen mit einer mittleren Wohnungsgröße. In den vier Bezirken 01 – Mitte, 02 – FriedrichshainKreuzberg, 03 – Pankow, 04 – Charlottenburg-Wilmersdorf liegen die Mieten mit über 9 €/m2 am höchsten. Im Bezirk 05 – Spandau liegen die Mieten über alle Wohnungsgrößen sehr dicht beieinander und insgesamt auf einem relativ niedrigen Niveau.

Spandau zählt darüber hinaus zu den fünf Bezirken, in denen kleine Wohnungen teurer sind als große. Interessant ist auch der Verlauf in 10–Marzahn-Hellersdorf – hier ist die Spannweite der Quadratmetermiete von kleinen und mittleren Wohnungen am stärksten. Die Kreise geben Auskunft über den jeweiligen Anteil der Wohnungsangebote in dieser Klasse an allen Angeboten.

Das Programm R bietet auch Funktionen zur Verarbeitung von Geodaten. Im folgenden Beispiel wird noch einmal auf die Er-

Liste 7: R-Programm für die Abbildung 6 p5 <- ggplot () + geom_map (data = plotData2, map = plotData2, aes (map_id = id, x = long, y = lat, group = group, fill = NKM), color = „white“, size = 0.30) + scale_fill_distiller (palette = „YlGnBu“, breaks = pretty_breaks (n = 6), direction = 1) + geom_text (data = pgr_lab, aes (label = PGR, x = long, y = lat), size = 3) + guides (fill = guide_legend (reverse = TRUE)) + coord_map () + labs (x=„“, y=„“)

gebnisse auf Ebene der Prognoseräume zurückgegriffen (vgl.

Abbildung 4). Grundlage dieser Abbildung ist ein Shapefile der Prognoseräume. Die höchsten Mieten werden, wie bereits angesprochen, für Wohnungen in zentraler Lage verlangt. Überraschend ist, dass in den zentrumsnahen Prognoseräumen „Kreuzberg Nord“ und „Kreuzberg Ost“ im Betrachtungszeitraum weniger als 100 Angebote vorlagen. Eventuell liegen in diesen Gebieten aber auch verstärkt Wohnungsangebote ohne Geokoordinaten vor oder der Wohnungsmarkt ist durch ein größeres Angebot von Eigentumswohnungen gekennzeichnet.

Abbildung 6: Median der Nettokaltmiete pro m2 in ausgewählten Prognoseräumen

50

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Neben der Verarbeitung von Shapefiles können mit R auch Kartenlayer aus dem Internet für Grafiken verwendet werden.

Die Abbildung 7 zeigt die Nettokaltmieten der Wohnungsangebote für den südöstlichen Stadtbereich.4 Den Hintergrund der Abbildung bildet ein Kartenlayer von Google Maps. Im

Programmaufruf wurden neben den Koordinaten auch die Größe des Kartenausschnitts und der Stil vorgegeben. Der Befehl „get_map“ richtet dann eine Anfrage an die Google Maps API mit der Bitte, den entsprechenden Kartenausschnitt zurückzugeben.

Abbildung 7: Nettokaltmiete pro m2 (weiß = Median)

Liste 8: R-Programm für die Abbildung 7 mapBerlin <- get_map (location = c (lon = 13.49, lat = 52.49), zoom = 12, color = „bw“, source = „google“) mapBerlin <- ggmap (mapBerlin, extent = „device“, legend = „bottomright“) mid <- median (x2$pqm) m1 <- mapBerlin + geom_point (data = x2, aes (x = longitude, y = latitude, color = pqm), size = 2.5, shape = 15) + scale_color_gradient2 (low = „darkblue“, mid = „white“, high = „red“, midpoint = mid, breaks = 0:20 * 2.5, name = „NKM\n€/qm“)

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

51

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Die Farbe der Wohnungsangebote in der Karte gibt nicht nur Auskunft über die Höhe der Nettokaltmiete sondern auch, ob sie über (rot) oder unter (blau) dem Median (Weiß) liegt.

Deutlich zu erkennen sind die überdurchschnittlichen Mieten nördlich des Alexanderplatzes aber auch etwas weiter östlich in Friedrichshain (nördlich und südlich der Frankfurter Allee).

Die Abbildung 8 gibt Auskunft über die Verteilung der Wohnungsangebote im Stadtgebiet. Als Kartenlayer wurde diesmal Open Street Map verwendet. Es heben sich deutlich drei Gebiete heraus: im Norden zählen dazu Quartiere in den Bezirken Mitte und Pankow (inkl. Prenzlauer Berg). Im Osten ist es der

Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und im Westen Charlottenburg-Wilmersdorf.

1 2 3 4

http://www.welt.de/finanzen/immobilien/article146729532/So-irrefuehrend-sind-die-Daten-auf-dem-Wohnungsmarkt.html#disqus_thread https://github.com/patperu/VDSt-Artikel Auf Grund technischer Probleme liegen für einige Tage keine Daten vor.

Aus Gründen des Datenschutzes wurden die Geokoordinaten für die nachfolgenden Abbildungen gerundet.

Abbildung 8: Verteilung der Angebote

Liste 9: R-Programm für die Abbildung 8 mapBerlin <- get_map (location = c (13.30, 52.45, 13.51, 52.59), source = „osm“) mapBerlin <- ggmap (mapBerlin, extent = „device“, legend = „topleft“) m2 <- mapBerlin + stat_density2d (aes (x = longitude, y = latitude, fill=..level.., alpha = ..level..), size = 0.02, bins = 16, data = x2, geom = „polygon“) + scale_fill_gradient (low= ‚green‘, high = ‚red‘, name = „Angebote“) + scale_alpha (guide = FALSE) + geom_point (data = x2, aes (x = longitude, y = latitude, alpha = 0.95), color = „blue“, shape = 15) + stat_density2d (data = x2, aes (x = longitude, y = latitude), color= „white“, size = 0.7)

52

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Asta Manninen1

Städtische Büros für Statistik und Stadtforschung – zur Umsetzung einer Open Data-Politik gut gerüstet.

Eine Fallstudie zu Helsinki Region Infoshare In diesem Beitrag wird über Erfahrungen berichtet, die Helsinki und seine Nachbarstädte mit der Open Data-Bewegung gemacht haben. Helsinki Region Infoshare (HRI; www.hri.fi) soll dabei als Fallstudie dienen. Gezeigt werden soll, wie die Arbeit am Thema Open Data begann, was die Ziele und wer die Akteure waren, wie die Arbeit organisiert und finanziert wurde, wie sich die Entwicklungsarbeit auf eine Betaversion der Open Data-Dienste zubewegte und schließlich ein Open Data-Dienst verwirklicht wurde. Andere wichtige zu beleuchtende Themen sind die Beziehungen mit und die Unterstützung von Datenproduzenten und Datennutzern wie auch die Zusammenarbeit innerhalb der Stadtverwaltung von Helsinki und zwischen den vier HRI-Städten mit anderen wichtigen Städten in Finnland sowie mit der Landesregierung. Internationale Zusammenarbeit ist wichtig, weil Open Data eine starke und sich rasch weiterentwickelnde internationale Bewegung ist. Die bisherigen Erfahrungen zeigen klar, dass es nicht ausreicht, Daten zu öffnen, sondern dass man auch die Nutzung der Daten fördern und ermutigen muss. Schließlich wird auch die Rolle von „City of Helsinki Urban Facts“2, dem Statistischen Amt der Stadt Helsinki, erläutert.

Asta Manninen bis April 2015 Direktorin von City of Helsinki Urban Facts, dem Amt für Statistik und Stadtforschung der Stadt Helsinki.

Langjährige Vorsitzende von SCORUS, Mitglied von ESAC, dem Statistischen Beratergremium der EU und Mitherausgeberin der Zeitschrift der internationalen Vereinigung für Amtliche Statistik. : asta.manninen@pp.inet.fi Schlüsselwörter: Open Data – Offene Statistik – Offene Stadt – Demokratie – Helsinki Region Infoshare – Offene Innovation – gemeinsame Entwicklung – Transparenz – gesellschaftliches Engagement

1

Vorbemerkung

Warum Open Data? Helsinki Region Infoshare Dienste wollten von Anfang an Offenheit und ein offenes städtisches und regionales Denken verwirklichen. Die Ziele und zentralen Anliegen waren und sind noch immer: - Zunehmende Offenheit und Transparenz, wachsende Demokratie und Bürgerbeteiligung; - besser informierte Entscheidungen für bessere Lebensqualität, Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit; - eine bessere Wirtschaft im Sinne neuer Chancen für bestehende und neue Unternehmen, Schaffung neuer Arbeitsplätze; - neue Innovationsdienste, mehr Wahlmöglichkeiten für die Kunden; - Einsparungen für den öffentlichen Sektor im Sinne verbesserten wirtschaftlichen Handelns, Gewinne aus kooperativen Problemlösungen und der Öffnung vorhandener Quellen, Gewinne aus den Anwendungen Dritter; - neue Formen der Zusammenarbeit und gemeinsamer Entwicklungen, bessere Dienstleistungen und mehr Kundenzufriedenheit; - verbesserte Datenqualität durch verstärkte und neue Datennutzung, strengere Anwendung von Standards, bessere Interoperabilität (Verknüpfbarkeit und Austausch) der Daten; - reichhaltige neue Datenquellen für Bildung und Forschung ohne Kosten; - Einsparungen für jedermann in Form von Geld, Zeit, Arbeit und Umwelt.

All dies entspricht dem Auftrag und den Zielen der Städtestatistik und Stadtforschung. Darum fördern Open Data und eine Open Data-Kultur nachhaltig deren Ziele.

Die Geschichte der Open Data-Dienste von Helsinki Region Infoshare lässt sich wie folgt zusammenfassen: Im Jahr 2009 entwarf man die Vision von Helsinki Region Infoshare. Anfang 2010 begann dann die Konzipierung der Helsinki Region Infoshare-Dienste und im Juni 2010 die Planung dieser Dienste. Helsinkis Führungsebene und die der drei Nachbarstädte Espoo, Vantaa und Kauniainen übernahmen die vorgeschlagene Open Data-Politik und gaben dem Helsinki Region Infoshare-Projekt im Juni 2010 ihre Zustimmung. Die erste Version der Webdienste wurde im März 2011 online gestellt. In der Folge machte das Projekt mit nutzer-orientierten

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

53

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Tests und Lernerfolgen rasche Fortschritte. Schon 2012 bot der Webdienst ein breit gefächertes Angebot offener Daten.

2013 war es dann das Ziel, noch mehr Daten zu öffnen und die HRI-Internetdienste zum Bestandteil normalen städtischen Verwaltungshandelns zu machen. Dieses Ziel wurde Anfang 2014 erreicht, die HRI-Dienste waren zum normalen Geschäft geworden [1,2,3].

2

Helsinki Region Infoshares Open Data-Dienste

2.1 Helsinki Region Infoshare Open Data-Dienste – von der Vision zum etablierten Dienst 2009 hatte Helsinki Urban Facts eine Vision für Open Data in der Region Helsinki, in den Städten Helsinki, Espoo, Vantaa und Kauniainen [3] entworfen. Nach dieser Vision sollten unter dem Namen Helsinki Region Infoshare öffentliche Daten erzeugt und als Open Data in maschinenlesbarer Form als Open Data zur kostenlosen Nutzung veröffentlicht werden.

Anfang 2010 übertrug man dem Forum Virium Helsinki3 die Aufgabe, die Vision in Zusammenarbeit mit Helsinki Urban Facts und den vier Kernstädten der Region Helsinki in einen Projektplan umzusetzen.

Im Juni 2010 nahmen die Führungsgremien Helsinkis und seiner drei Nachbarstädte Espoo, Vantaa und Kauniainen die Open Data-Politik an und stimmten dem Projekt Helsinki Region Infoshare zu [2,3]. Bis dahin war das Konzept offener Daten nur einer Handvoll Personen bekannt. Das HRI-Projekt ging nun daran, Daten der öffentlichen Hand so rasch wie möglich zu öffnen und eine Plattform für einen leichten Zugang zu bieten. Das Helsinki Region Infoshare-Projekt hatte Open Data-Kataloge studiert, wie auch Webdienste, die in Großbritannien und den USA schon erste Anwendung fanden.

Besonders wichtig war dabei die Unterstützung der Open Knowledge Foundation.4 Offiziell wurden die Helsinki Region Infoshare-Dienste (HRI) unter www.hri.fi im März 2011 eröffnet und bis Ende 2012 als ein innovatives Pilotprojekt weiterentwickelt. Das HRIProjekt wurde von den Städten Espoo, Helsinki, Vantaa und Kauniainen sowie von der finnischen Innovationsstiftung Sitra finanziert. Das finnische Finanzministerium hat die Dienste in der Projektplanungsphase ebenfalls mit Mitteln zur Förderung der interkommunalen Zusammenarbeit unterstützt. Die HRI-Open-Data-Dienste wurden Teil der jährlichen Haushaltsplanung und Durchführung. Seit 2014 liegt die operationale Koordination in der Verantwortung der City of Helsinki Urban Facts in Zusammenarbeit mit Forum Virium Helsinki und der IT-Abteilung der Stadt Helsinki.

Dass so rasche Fortschritte erzielt wurden, war der nachhaltigen Unterstützung der städtischen Führung, der guten Zusammenarbeit, dem gemeinsamen Ehrgeiz aller Akteure und der Umsetzung in Open Data unter Nutzung und Aufwertung bestehender Ressourcen für die HRI-Dienste zu verdanken.

Das Management besteht aus einem Entscheidungsgremium (Executive Board), dem die Oberbürgermeister der vier

54

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Städte Helsinki, Espoo, Vantaa und Kauniainen (unter Vorsitz des Oberbürgermeisters von Helsinki) angehören und einer Steuerungsgruppe, der die finanzierenden und ausführenden Dienstleister sowie City of Helsinki Urban Facts und das Forum Virium Helsinki angehören (Vorsitz: Der Direktor der City of Helsinki Urban Facts). Fortbildung, Training und das Angebot praktischer Unterstützung für Schlüsselpersonen und Bedienstete haben sich als ausschlaggebend erwiesen.

Wichtig für den Fortschritt ist dabei die Beteiligung an Open Data-Netzwerken.

HRI Open Data hat 2013 [4] den Preis der EU für Innovationen in der Öffentlichen Verwaltung erhalten. Dieser Preis von 100.000 Euro hat ganz wesentlich zur Finanzierung der weiteren Entwicklung der Dienste und ihrer Funktionalitäten beigetragen. Aus Sicht der Stadt Helsinki war eine tragende Säule der Entwicklung der Open Data-Kultur das Strategieprogramm der Stadt [5], das der Stadtrat beschlossen hat und das für die ganze Wahlperiode des Rates (2013–2016) gilt. Das Strategieprogramm strebt u. a. eine offene Stadt an wie auch Innovationen im Bereich von Demokratie und Bürgerbeteiligung und will weitere Verbesserungen im Dienstleistungsangebot erreichen. Darüber hinaus fördert das laufende Programm der Informations- und Kommunikationstechnologie der Stadt Helsinki die Entwicklung einer offenen Stadt, offene Innovation, Open Data und offene Quellcodes [6].

Entwicklern werden eine offene Innovationsplattform, neue Datenschnittstellen und Treffen der Entwicklergemeinde geboten [7]. Unternehmen und Organisationen werden ermutigt, die verfügbaren Daten zu nutzen und zusammen mit der Stadt und ihren Bürgern neue Dienste zu entwickeln. Der OnlineZugang zu städtischen Diensten und Entscheidungsprozessen wird zunehmend erleichtert. Das Forum Virium Helsinki, das die Kultur des Experimentierens bei der Entwicklung der digitalen städtischen Dienste vorantreibt, unterstützt die Einrichtung der ITC-Programme und treibt sie voran.

2.2 Helsinki Region Infoshare Open Data – welche Daten werden angeboten?

Im November 2015 hatte HRI 1 230 Open Data-Datenbestände aus vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung im Angebot [2]. Vieles ist statistischer Natur. Sie geben einen umfassenden und differenzierten Überblick über die städtischen Verhältnisse, wie Demografie, Lebensbedingungen, Wirtschaft und Wohlstand, Kultur, Dienstleistungen, Beschäftigung, Bauwesen, Umwelt und Verkehr. Ein Großteil der angebotenen Open Data gründet sich auf GIS und erlaubt vielfältigste Anwendungen. Weitere Beispiele der als Open Data verfügbaren Daten sind solche zum Verkehr, geeigneten Standorten für Solarzellen in der Region von Helsinki, maschinenlesbare Schnittstellen zu Büchereikatalogen, Dienste-Karten mit REST-API und historische Karten. Zurzeit gehört die Bevölkerungsprojektion 2015–2050 zu den zehn am häufigsten nachgefragten Open Data-Beständen. Die HRI-Dienste bieten auch Daten über Entscheidungsprozesse an (Stadtrat, Dezernentengremium, Verwaltungsgremien usw.), Finanzdaten (Haushalt und sogar einzelne Transaktionen), Beschaffungsdaten usw., alle als Open Data, die nun in digitaler Form verfügbar gemacht werden. Die

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

HRI-Dienste führen die Nutzer und helfen ihnen, die gesuchten Daten zu finden. Das HRI-Team bei City of Helsinki Urban Facts hilft den Nutzern und unterstützt sie bei der Anwendung.

2.3 Helsinki Region Infoshare Open Data-Dienste – Durchführungsmodell und hauptsächliche Aktivitäten Open Data von Helsinki Region Infoshare lassen sich als Dateien in unterschiedlichen Formaten herunterladen. Manche Datenbestände sind auch als Rohdaten über eine Anwendungsschnittstelle (API) verfügbar. Gegenwärtig werden große Anstrengungen unternommen, offene Schnittstellen zu entwickeln. Gleichzeitig ist es ein Hauptziel, die Interoperabilität der Daten zu verbessern. Daten-Interoperabilität ist bei Entwicklern von Anwendungen und Diensten hoch geschätzt.

Es gibt vier Handlungsfelder, in denen HRI-Dienste vor allem aktiv sind, nämlich Daten zu produzieren, Daten zu öffnen, Daten gemeinsam nutzbar zu machen und Daten anzuwenden. Wichtige Handlungsfelder sind, die Produzenten von Information dabei zu unterstützen, ihre öffentlichen Daten zu öffnen und deren Anwendung im Wege der MehrkanalKommunikation wie auch durch Mitwirkung in der Open Data Nutzer- und Entwicklergemeinde nutzbar zu machen. Es ist bemerkenswert, dass verschiedene Stellen der Stadtverwaltung dabei sind, selbst ihre offenen Daten zu nutzen und dabei administrative und sogar Stadtgrenzen zu überschreiten.

Für die operationale Koordination der HRI-Dienste und die Clearingstellenfunktion ist City of Helsinki Urban Facts zustän-

dig. Die Clearingstelle ist die Schnittstelle zwischen Datenproduzenten und Datennutzern. Die Clearingstelle unterstützt die Datenproduzenten auf vielfältige Weise, Ihre Daten zu öffnen, bietet Schulungen und praktische Hilfen an, kümmert sich um die Datenqualität, betreibt Datenrettung und vieles andere mehr. Hauptanliegen ist es, systematisch mehr öffentliche Daten verfügbar zu machen und zu ihrer Nutzung anzuregen. Beim Bemühen, die Nutzung von Open Data voranzutreiben, steht die Clearingstelle (d. h. das HRI-Team bei City of Helsinki Urban Facts) im Austausch mit den Nutzern, nimmt ihre Forderungen und Wünsche auf, unterstützt die HRI-Dienste dabei, so nutzerfreundlich wie möglich zu werden, lässt die Nutzer wissen, welche Datenbestände im Augenblick am meisten gefragt sind, kurz vor ihrer Öffnung stehen oder deren Öffnung geplant ist. Das HRI-Team unterhält auch eine Anwendungs-Galerie (applications gallery), die einige hundert Anwendungen umfasst, um so Entwickler und Unternehmen, Forscher und Open Data-Enthusiasten zu ermuntern, weitere Anwendungen zu entwickeln. Die Clearingstelle gibt auch ein Newsletter und Artikel über anstehende Open Data-Vorhaben und Projekte heraus, wirbt für Open Data-Veranstaltungen, Wettbewerbe, Seminare und Konferenzen und beteiligt sich an ihrer Organisation. Die Nutzung von Open Data zu verfolgen, ist eine wichtige Aufgabe. Studien über die Auswirkungen von Open Data stehen ebenfalls auf der Tagesordnung. Durch die Beteiligung an nationalen und internationalen Netzwerken, Konferenzen und Workshops, vermittelt und tauscht das HRI-Team Erfahrungen über Open Data aus.5

Abbildung 1: Helsinki Region Infoshare Betriebsmodell bringt Produzenten und Nutzer öffentlicher Open Data zusammen

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

55

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

3

Anwendungen – ein Muster des positiven Effektes von Open Data

3.1 Open Data für städtische Mobilität und bessere Dienstleistungen Kultur und Verkehr zählen zu den ersten Anwendungsgebieten der Open Data-Quellen. Ein hervorragendes Beispiel positiven Wirkens mit Open Data ist der Gewinner des Apps4Finland 2012-Wettbewerbs und der European Open Cities App Challenge 2012, nämlich das BlindSquare [3, S. 15]. BlindSquare, das von Ilkka Pirttimaa aus Helsinki entwickelt wurde, ist eine gehörverstärkende Reality-Anwendung für Sehbehinderte, die so Informationen über ihre Umgebung aus verschiedenen Open Data-Quellen, wie der Helsinki-Dienstleistungskarte API [8] und FourSquare erhalten. Das System hilft Sehbehinderten, sich in der Stadt leichter zurechtzufinden, indem es über nahegelegene öffentliche Dienste, Geschäfte und Anlaufpunkte unterrichtet. BlindSquare hat bereits Anwender in vielen Ländern und steht in vielen Sprachen zur Verfügung.

Open Data über die Routen und Fahrten in Helsinki und der Helsinki Region werden von Helsinki Region Transport, HSL [9] angeboten. HSL will die Offenheit der Informationsquellen des öffentlichen Sektors voranbringen und Bürger ermutigen, sich an der Entwicklung der Dienste zu beteiligen. Die Informationsquellen von HSL können mit der Reiseplaner-API (Journey Planner API) genutzt werden. Nutzungsanleitungen zur API sind über developer.reittiopas.fi/pages/en/home.php verfügbar.

Der HSL-Dienst nutzt dabei auch Anwendungen Dritter.

City of Helsinki Urban Facts und das City of Cultural Office haben zusammen im November 2014 „Arts and Culture in Helsinki“ [10] herausgegeben. Diese Veröffentlichung widmet gerade den Daten- und Informationsquellen, die der Kulturstatistik zugrunde liegen, viel Aufmerksamkeit. Die Autoren und Herausgeber von „Arts and Culture“ haben die neuen Möglichkeiten von Open Data genutzt und durch die Verknüpfung der verschiedenen Datenquellen viel Neues entdeckt. Dank der Open Data-Information konnten die Entwickler neue Verfahren und Technologien für die Visualisierung nutzen [10].

Die Dienste-Karte der Metropolregion Helsinki (Helsinki Metropolitan Area Service Map) [8] enthält die aktuellste Information über alle öffentlichen Dienste wie auch über viele private Dienstleistungen. Dienste, die in der Karte ausgewiesen werden, sind Kindergärten, Schulen, Gesundheitszentren, verschiedene soziale Dienste, Krankenhäuser, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Museen usw. Für jeden Dienst wird ein Satz von Informationen gesammelt und aktuell gehalten.

Die Information besteht aus einer detaillierten Beschreibung des angebotenen Dienstes, ihrem Standort und Kontaktadresse, Informationen über öffentliche Verkehrsmittel zu den Servicepunkten, Zugangsdaten u. v. m. Die Information wird in drei Sprachen geboten (Finnisch, Schwedisch und Englisch). Die Information ist öffentlich und für jedermann kostenlos zugänglich. Außerdem wird die Information den Apps über die Open Service-Map API zugänglich gemacht [8]. Die Service-Karte findet regelmäßig eine breite Anwendung. Die umfassend gestaltete Service-Karte bietet auch wertvolle

56

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Informationsgrundlagen über verschiedene stadtbezogene und kleinräumige Statistiken, thematische Karten und andere Darstellungen. Infolge des Mechanismus für einen leichten Informationsrückfluss verbessern sich Datenqualität und Funktionalitäten ständig.

Der Wettbewerb Apps4Finland, der 2015 in „Open Finland Challenge“ umbenannt wurde, regt die kreative Nutzung von Open Data an [11]. Der erste Preis von Apps4Finland 2014 wurde der Päästöt.fi-Visualisierung verliehen. Dies ist ein Web-Dienst, der es mit einer interaktiven Kartenschnittstelle den Menschen erlaubt, die stärksten Umweltverschmutzer in der Nähe ihrer Wohnung oder auch in ganz Europa sichtbar zu machen.

Statistics Finland (das Statistische Zentralamt Finnlands) entwickelt gebrauchsfertige Schnittstellen für Open Data-Nutzer.

Die Entwicklung der Schnittstellen setzte 2012 auf der StatFin Datenbank auf und wird für andere Datenbestände erweitert (siehe tilastokeskus.fi/org/lainsaadanto/avoin_data_en.html).

Ein recht neuer Open Data-Dienst von Statistics Finland ist Paavo – der Dienst für Open Data nach Postleitbereichen [12].

Paavo enthält Karten und statistische Daten über die Bevölkerungsstruktur, den Bildungsgrad, die Einkommen der Einwohner und der Haushalte, die Haushaltsgröße, Gebäude und Wohnungen, Arbeitsplätze und die Hauptbeschäftigung der Einwohner.

3.2 Schaffung neuer Geschäftsfelder durch Nutzung von Open Data Ein wichtiges Beispiel für das Streben nach neuen Geschäftsfeldern und Arbeitsplätze mit Open Data ist die Kooperationsstrategie „The Six City Strategy – Open and Smart Services“ (Die Sechs-Städte-Strategie – Open Data und kluge Dienste) [13].

Diese Strategie wird von den sechs größten Städten Finnlands verfolgt (Helsinki, Espoo, Vantaa, Turku, Tampere und Oulu) und ist Teil der Verwirklichung von Finnlands Strukturfondsprogramm für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung 2014-2020. Open Data spielt eine herausragende Rolle in der „Sechs-Städte-Strategie“, die drei Schwerpunkte hat, eine offene Plattform für Innovationen, Open Data und Schnittstellen sowie offene Teilhabe. Helsinki Region Infoshare und seine Betreiber beteiligen sich alle an der Verwirklichung der „SechsStädte-Strategie“.

Wettbewerbe sind ein wichtiges Mittel, durch die Nutzung von Open Data neue Geschäftsfelder zu fördern. Hunderte begeisterter Entwickler kamen zu einem spektakulären Wochenende (6.–8. November 2015) in Helsinki zusammen, um die Aufgaben zu lösen, welche die Stadt Helsinki und andere Wettbewerbspartner bei dem 48-Stunden Ultrahack hackathon [14] gestellt hatten. Ultrahack ist Teil des Slush Hacks [15], dem größten Hackathon in Europa. Zielvorgabe für die Teilnehmer ist, neue Geschäftsideen durch die Anwendung von Open Data zu schaffen. Beim Ultrahack waren die Stadt Helsinki und die Open Knowledge Finland (OKFFI)6 die Gastgeber von „Smart City/Civic Tech track“. Die Stadt Helsinki forderte die Entwickler auf, neue Lösungen für die Vorgabe „Was passiert in Helsinki und wie kann ich daran teilhaben?“ zu entwickeln. Gewinner der ganzen Veranstaltung war das Butterfly-Effect-Team [14]. Die Butterfly-Effect-App bietet ein

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

neues Stadtplanungsinstrument, das die Bürger befähigt, leicht und mit Hilfe von Crowdsourcing neue Initiativen zur Entwicklung der städtischen Umwelt zu beginnen. Die App nutzt eine neue Technologie, wie auch Instagram und das Open-Data-Angebot der Stadt.

Die Open Finland Challenge (früher als Apps4finland bekannt) wird 2015 zum 7. Mal veranstaltet [11]. Es ist der größte, der Öffentlichkeit zugängliche Innovationswettbewerb für digitale Offenheit. Open Finland Challenge löst Probleme der realen Welt. Es wird organisiert von Open Knowledge Finland in Zusammenarbeit mit Forum Virium Helsinki und mehr als einem Dutzend Regierungen, der Wirtschaft und gemeinnützigen Organisationen. Open Finland Challenge 2015 zählte mehr als 150 Meldungen zu den fünf Wettbewerbskategorien: Mobilität und Tourismus, Medien, Kunst und Kultur, Bildung und Wissenschaft, Ernährung und Gesundheit und öffentliche Dienstleistungen. Die Melder zum Wettbewerb der Open Finland Challenge sollen Open Data und offene Schnittstellen nutzen. Alle Meldungen werden online mit offenen Quellen oder offener Lizenz veröffentlich. Die Gewinner wurden am 3. Dezember 2015 verkündet und geehrt. Den ersten Preis teilten sich zwei gleich hoch bewertete Meldungen, von denen eine die Kategorie „Essen und Wellness“ repräsentierte und die andere Migrationsströme veranschaulicht. Diese preisgekrönte Arbeit trägt den Titel „Der Zustrom nach Europa – Visualisierung des Zustroms von Asylbewerbern in europäische Länder“. Die Entwickler verwenden die Monatsberichte über Asylbewerber der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR und eine Open Source interaktive Karte. Der Link zu dieser Arbeit lautet www.lucify.com/the-flow-towards-europe/[23].

3.3 Open Data, offene Stadt Datenjournalismus hilft, Open Data wirksam werden zu lassen. Beim Datenjournalismus gründen sich Nachrichten und Visualisierungen auf große Datenbestände. Der Datenjournalismus erkundet neue Möglichkeiten, Neuigkeiten („nose for news“) mit der Anwendung eines breiten Spektrums verfügbarer Open Data zu verbinden. Transparenz und Informationszugang sind Grundprinzipien der finnischen Lokalverwaltung.

2013 hatte die Stadt Helsinki beschlossen, open Ahjos‘ offene Programmschnittstelle (die Open Ahjo dev.hel.fi/paatokset/) zu öffnen, wodurch die Entscheidungen als Open Data in maschinenlesbarer Form zugänglich und auswertbar gemacht werden [16]. Open Ahjo bietet den Einwohnern der Stadt die einzigartige Möglichkeit, die Entscheidungsprozesse der Stadt aktuell zu verfolgen, etwa nach Vorgang, Thema oder Entscheidungsträger und Datum. Mit dieser aktuellen Information gerüstet können die Bürger sich beteiligen und das Handeln der Stadt über verschiedene Kanäle beeinflussen.

Open Ahjo ist auch als mobile App Ahjo Explorer verfügbar und bietet die einzigartige Möglichkeit, Daten über die städtischen Entscheidungsvorgänge mit verschiedenen Anwendungsprogrammen zu nutzen. Diese Anwendungen machen es den Einwohnern wie der Stadtverwaltung und ihren Bediensteten einfacher, Informationen zu erhalten, gemeinsame Vorhaben zu starten oder am Vorbereitungsprozess mitzuwirken. Bemühungen laufen, verschiedene Datenbestände miteinander zu verknüpfen, etwa die Daten zum städtischen

Haushalt mit dem Entscheidungssystem Ahjo. Im Spätherbst 2014 wurden Helsinkis Beschaffungsmaßnahmen seit Anfang 2012 geöffnet. Ahjo ist auch ein Vorreiter in elektronischer Archivierung. Elektronische Archivierung mit klugen Suchmöglichkeiten ohne großen Platzbedarf bringt in Zukunft erhebliche Einsparungen an Zeit und Geld. Außerdem bedeutet es flexible und reibungslose Dienste der Information und der Selbstbedienung.

4. Schlussfolgerungen und Perspektiven Die Informationsdienste von Helsinki Region Infoshare werden weiter entwickelt, indem wichtige weitere öffentliche Datenbestände geöffnet und verknüpfbar gemacht und der Zugang zu ihnen wie auch ihre Nutzung erleichtert werden. Abteilungen und Verwaltungen der Städte in der Metropolregion von Helsinki werden bei ihrer Arbeit an der Öffnung öffentlicher Datenbestände und der Anwendung von Open Data unterstützt. Neue Informationssysteme werden entwickelt und so eingerichtet, dass dabei die Anforderungen und die Chancen von Open Data von Anfang an berücksichtigt werden.

Die Erfahrung zeigt, dass man in Zusammenarbeit mit anderen mehr erreicht. Gemeinsame Prinzipien und Standards nützen beiden, den Anbietern und den Nutzern. Erfahrungsaustausch und Best Practices sind besonders hilfreich. Das Finnische Open Data-Programm und seine Aktivitäten [17] haben ebenso Anerkennung gefunden wie die Zusammenarbeit im Bereich der Open Data. Helsinki Region Infoshare wird sich weiter auf dem Gebiet der lokalen, nationalen und internationalen Open Data-Entwicklung engagieren und sich an entsprechenden Veranstaltungen beteiligen. Wichtig ist es, zur weiteren Anwendung von Open Data zu ermuntern. Die Website „Helsinki Developer Portal“ [7] bietet Informationen für Entwickler, um die APIs und die Open Data-Bestände der Stadt Helsinki zum Tragen bringen wollen. Die Stadt Helsinki hat eine beträchtliche Menge an Datenbeständen zur Anwendungsentwicklung durch Helsinki Region Infoshare [2] geöffnet. Die Daten werden zur Anwendung in der Stadtverwaltung und durch die Bürger, Unternehmer, Entwickler und Forscher zugänglich gemacht, um Lösungen für Probleme der Bürgerschaft zu finden. Die Entwicklerseite [7] richtet sich auf APIs und darauf, ihre Nutzung für Anwender weiter zu erleichtern. Die Website liefert auch Informationen über Ereignisse und Zusammenkünfte, die von der Gemeinde der Entwickler veranstaltet werden. In der Galerie der Anwendungen von HRI werden gut hundert Anwendungen vorgestellt und neue Anwendungen kommen ständig dazu [2]. Ihnen ist gemein, dass sie Zeit, Mühe, Geld und Umweltbelastungen sparen und auf vielerlei Weise zur offenen Stadt beitragen.

Es ist ganz erstaunlich, wenn auch natürlich, dass ein städtisches Amt für Statistik und Stadtforschung gut in diese Nische von Open Data passt. Städtestatistische Ämter waren schon immer gut dafür gerüstet, für eine hohe Datenqualität und die Datenpflege zu sorgen und sich für den Austausch ihrer Daten durch Veröffentlichungen und Informationsdienste einzusetzen. Allerdings bedeuten Veröffentlichungen und Informati-

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

57

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

onsdienste im Internet noch nicht „Open Data“. Open Data sind maschinenlesbar und nach „Creative Commons“ lizensiert, was ihre freie Nutzung und Wiederverwendung gestattet und die Zusammenarbeit und Interaktion auf vielfältige Weise erlaubt. Open Data ist eine neue Kultur der Kooperation, des Arbeitens und des Engagement. Open Data bringt auch die Digitalisierung am wirkungsvollsten zum Tragen. Insbesondere verschafft Open Data den statistischen Ämtern ohne Kosten zusätzliche Mittel und erleichtert innovative Entwicklungen für neue und die Verbesserung bereits existierender Dienste, was wiederum für neue Arbeitsplätze sorgt. Open Data entwickelt sich weiter. Es erfordert auf jeden Fall die Beobachtung und Analyse ihrer Wirkungen. Einige Open Data-Studien gibt es bereits, aber es muss noch mehr getan werden. Hier ist Zusammenarbeit mit der Forschung und mit der amtlichen Statistik geboten.

1 2

3

4 5

6

Quellen [1] A. Jaakola, H.Kekkonen, T. Lahti, A. Manninen: Open Data, Open Cities. Experiences from the Helsinki Metropolitan Area. Case Helsinki Region Infoshare; Statistical Journal of the IAOS 31 (2015), S. 117–122, IOS Press; URL: www.hri.fi [2] Helsinki Region Infoshare, HRI; URL: www. hri.fi [3] Helsinki Region Infoshare. 2 Years of Open Public Data; URL: www.hri.fi/2years/ [4] Winners of the European Prize for Innovation in Public Administration 2013. European Commission, 6 June 2013; URL: europa.eu/ rapid/press-release_MEMO-13-503_en.htm [5] City of Helsinki Strategy Programme 20132016; URL: www.hel.fi/static/taske/julkaisut/2013/The-City-of-Helsinki-StrategyProgramme-2013-16-pocket-brochure.pdf [6] The City of Helsinki ICT Programme 20152017; URL: www.hel.fi/www/uutiset/en/ kaupunginkanslia/ict-programme [7] Helsinki loves developers; URL: dev.hel.fi/ [8] Helsinki Service Map; URL: www.hel.fi/ palvelukarttaws/rest/index_en.html und

58

[9]

[10]

[11] [12] [13] [14]

Übersetzung aus dem Englischen durch Klaus Trutzel City of Helsinki Urban Facts (www.hel.fi/www/tieke/en) hat sich von einem kleinen 1911 gegründeten Städtestatistischen Büro zu einer bedeutenden Abteilung der Stadtverwaltung entwickelt, die heute zuständig ist für Stadtstatistik, Stadtforschung und Informationsdienstleistungen sowie für das Stadtarchiv. Besonderer Wert wird auf die Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungsinstituten, dem Finnischen Statistischen Amt und den wichtigsten Städten Finnlands, Europas und darüber hinaus gelegt. Viel Nachdruck und viel Arbeit werden Open Data gewidmet; der regionale Open DataDienst Helsinki Region Infoshare wurde 2011 eingerichtet.

Forum Virium Helsinki www.forumvirium.fi ist eine Organisation, die auf neue digitale Dienste spezialisiert und eng mit Unternehmen, Entwicklern verbunden ist, Erfahrung mit nutzergetriebenen Entwicklungen hat und sich in der internationalen Zusammenarbeit und offenen Innovation engagiert. https://okfn.org/ Die frühen Erfahrungen der Arbeit von Helsinki Region Infoschare sind in „Helsinki Region Infoshare – 2 Years of Open Public Data“ [3] dokumentiert. Die Veröffentlichung beschreibt auch Anwendungen, die auf Open Data basieren, welche die HRI-Dienste anbieten.

Open Knowledge Finland (OKFFI) ist ein eingetragener gemeinnütziger Verein und Teil eines größeren internationalen Open KnowledgeNetzwerks. OKFFI fördert die Öffnung und den Gebrauch von Open Knowledge und fördert die Entwicklung einer offenen Gesellschaft in Finnland (fi.okfn.org/).

URL: www.hel.fi/palvelukartta/Default. aspx?language=en&city=91 Helsinki Region Transport Service and Journey Planner API; URL: www.hsl.fi/EN/ and http://developer.reittiopas.fi/pages/en/ home.php Arts and Culture in Helsinki 2014; URL: www.hel.fi/hel2/tietokeskus/julkaisut/ pdf/14_12_03_Arts_and_Culture_in_Helsinki.pdf Apps4Finland; URL: www.apps4finland.fi/ apps4finland-competition/ und URL: openfinlandchallenge.fi/kilpailu/ Paavo – The open data by postal code area service. Statistics Finland; URL: www.stat.fi The Six City Strategy – Open and Smart Services; URL: 6aika.fi/in-english/ Striking developer weekend at Ultrahack: Butterfly Effect and Routes Helsinki pocket the main prizes; URL: www.hri.fi/en/news/ striking-developer-weekend-at-ultrahackbutterfly-effect-and-routes-helsinki-pocket-the-main-prizes/ und URL: www.chaosarchitects.com/#!butterfly-effect/c16u1

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

[15] Slush 2015; URL: www.slush.org/ und www. slush.org/agenda/ [16] Open Ahjo; URL: dev.hel.fi/apis/openahjo/ [17] The Final Report of the Finnish Open Data Programme 17.9.2015. Onward from the Finnish Open data Programme; URL: vm.fi/ en/open-data-programme und URL: vm.fi/ documents/10623/360816/Avoimen+tied on+tavoitteet+2015-2020/c7e9c09c-c4924f04-ac52-2449b0c4973b [18] The cities of Helsinki, Espoo, Vantaa and Kauniainen making up the Helsinki Metropolitan Area; URLs: www.hel.fi; www.espoo. fi; www.vantaa.fi; www.kauniainen.fi [19] Forum Virium Helsinki; URL: www.forumvirium.fi/en [20] The Finnish Innovation Fund Sitra; URL: www.sitra.fi [21] Open Knowledge Foundation; URL: okfn. org/ [22] Open Knowledge Finland. OKFFI; URL: fi.okfn.org/ [23] www.hri.fi/en/news/open-finland-challenge-ends-in-a-tie/

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Alexander Dix

Datenschutz im Zeitalter von Big Data.

Wie steht es um den Schutz der Privatsphäre?

Big Data wird in der aktuellen Diskussion oft als unvereinbar mit dem Datenschutz und dem Schutz der Privatsphäre dargestellt.

Dabei ist eine differenzierte Analyse nötig, will man die möglichen positiven Auswirkungen von Big-Data-Analysen grundrechtskonform und datenschutzgerecht erreichen. Der neue europäische Rechtsrahmen für den Datenschutz wird dabei eine wesentliche Rolle spielen. Allerdings sind darüber hinaus auch ethische Überlegungen notwendig, soll der Einsatz von Big Data gesellschaftlich akzeptabel gestaltet werden.

Dr. Alexander Dix LL.M., von 2005 bis 2016 Berliner Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit sowie Vorsitzender der Internationalen Arbeitsgruppe zum Datenschutz in der Telekommunikation; Stellv. Vorsitzender der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz (www.eaid-berlin.de) : dix@eaid-berlin.de Schlüsselwörter: Algorithmen – Anonymisierung – DatenschutzGrundverordnung – Predictive Policing – Smart City

Einleitende Begriffsklärungen Datenschutz und Privatsphäre sind nicht, wie es der Titel dieses Beitrags nahelegt, synonyme Begriffe. Das ergibt sich schon daraus, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union die Achtung des Privatlebens einerseits und den Datenschutz andererseits in zwei getrennten, allerdings unmittelbar zusammenhängenden Artikeln (Art. 7 und 8) garantiert. Das Recht des Einzelnen, über seine Daten grundsätzlich selbst zu entscheiden, ist nicht deckungsgleich mit seinem Anspruch, vor Eingriffen in seine private und familiäre Sphäre geschützt zu sein.

Das übersehen diejenigen, die den Datenschutz als überholt ansehen und sich mit dem Schutz der Privatsphäre begnügen wollen (so Härting/Schneider). Auch im öffentlichen, städtischen Raum, also jenseits der privaten, häuslichen Sphäre hat der Einzelne ein grundrechtlich verbürgtes Recht, nicht auf Schritt und Tritt z. B. durch Kameras beobachtet zu werden (BVerfG, Beschluss v. 20. März 2007 [1 BvR 2368/06]). Das systematische Fotografieren von Hausfassaden durch Google Street View war zwar kein Eingriff in die Privatsphäre. Wohl aber verletzte das Einstellen dieser Bilder in eine weltweit zugängliche Datenbank solange den Datenschutz, wie die Hausbewohner dem nicht vorab widersprechen konnten. Die Privatsphäre war allerdings durch das heimliche Abhören der Kommunikation über häusliche WLAN-Router mithilfe der Street View-Fahrzeuge verletzt, deretwegen Google weltweit in mehreren Staaten strafrechtlich belangt worden ist.

Es gibt also Überschneidungen zwischen dem Datenschutz und dem Schutz der Privatsphäre. Das Bundesverfassungsgericht hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 GG) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) abgeleitet. Der Europäische Gerichtshof rekurriert in seiner neueren Rechtsprechung zu Fragen des Datenschutzes (Google, Vorratsdatenspeicherung, Facebook) sowohl auf die Art. 7 und 8 der Europäischen Grundrechte-Charta. Deshalb erscheint es gerechtfertigt, die Auswirkungen von Big Data auf den Datenschutz und die Privatsphäre gemeinsam zu betrachten.

Das ist auch vor dem Hintergrund der transatlantischen Debatte naheliegend. Bei allen Unterschieden zwischen dem europäischen Datenschutz und „privacy“ im US-amerikanischen Verständnis wird doch auf beiden Seiten des Atlantiks zunehmend erkannt, dass sich die Freiheit des Einzelnen nicht auf den Schutz seiner häuslichen, „privaten“ Sphäre beschränkt.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

59

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

Allerdings herrschen in den USA andere Vorstellungen darüber, wo die Freiheit des Einzelnen beginnt und welche Einschränkungen er hinnehmen muss.

Wenn vom Zeitalter von Big Data die Rede ist, wird eine grundlegend neue Form der Analyse unstrukturierter Datenmengen in den Blick genommen, die möglicherweise eine Reihe neuer Fragen aufwirft. Allerdings ist daran zu erinnern, dass sich das Bundesverfassungsgericht schon sehr früh mit Risiken auseinandergesetzt hat, die mit der Sammlung und Auswertung großer Datenmengen – freilich noch in strukturierter Form – einhergehen, nämlich der amtlichen Statistik. So hat das Gericht bereits im Mikrozensusbeschluss von 1969 betont, dass der Einzelne von Verfassungs wegen vor einer umfassenden zwangsweisen Registrierung und Katalogisierung durch den Staat zu schützen ist (BVerfGE 27, 1, 6).

Darüber hinaus ist vor allem das Volkszählungsurteil von 1983 als weitsichtige Auseinandersetzung mit den Problemen zu verstehen, wie sie durch Big Data-Anwendungen qualitativ noch verschärft werden (Sädtler 2015, 69, 80 f.). Das Bundesverfassungsgericht hat vor mehr als 30 Jahren mit Blick auf die amtliche Statistik festgestellt: „Ist die Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten und Verknüpfungmöglichkeiten damit bei der Statistik von der Natur der Sache her nicht im Voraus bestimmbar, müssen der Informationserhebung und Informationsverarbeitung innerhalb des Informationssystems zum Ausgleich entsprechende Schranken gegenüberstehen.

Es müssen klare Verarbeitungsvoraussetzungen geschaffen werden, die sicherstellen, dass der Einzelne unter den Bedingungen einer automatischen Erhebung und Verarbeitung der seine Person betreffenden Angaben nicht zum bloßen Informationsobjekt wird.“ (BVerfGE 65, 1, 48) Diese Aussagen betrafen seinerzeit und betreffen heute unmittelbar die amtliche Statistik und die auf ihr aufbauende Stadtforschung. Ihre Bedeutung geht aber weit über das StaatBürger-Verhältnis hinaus. Sie betreffen in gleicher Weise auch die Datenverarbeitung durch Unternehmen, die Daten gern als „das Öl des 21. Jahrhunderts“ bezeichnen und ihre Geschäftsmodelle auf Big Data-Analysen aufbauen. Zwar gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen der staatliche Datenverarbeitung – etwa durch die amtliche Statistik – einerseits und der Datenerhebung durch Internetanbieter, Versicherungsunternehmen und andere private Datenverarbeiter andererseits, weil nur der Staat im Gegensatz zur Wirtschaft den Bürger zur Offenbarung seiner Daten verpflichten kann.

Aber für den betroffenen Bürger macht es keinen Unterschied, ob eine Behörde oder ein Unternehmen ihn durch die automatische Verarbeitung seiner Daten zum „bloßen Informationsobjekt“ macht. Sein Grundrecht auf Schutz vor informationeller Fremdbestimmung richtet sich nicht nur gegen den Staat bei Volkszählungen oder Mikrozensen, sondern es verpflichtet den Gesetzgeber auch dazu, die Menschen vor unbegrenzter Erfassung und Auswertung ihrer Daten durch privatwirtschaftliche Akteure zu schützen.

Zunächst sollte aber eine Klarstellung getroffen werden, bevor die von Big Data ausgehenden Risiken für Datenschutz und Privatsphäre untersucht werden: Big Data heißt nicht notwendig Big Personal Data. Wo große Datenmengen von vornherein ohne jeden denkbaren Personenbezug analysiert werden (z. B. in der Klima- oder Weltraumforschung), entstehen auch keine

60

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Gefahren für den Datenschutz, geschweige denn für die Privatsphäre. Daraus folgt zugleich, dass Big-Data-Analysen nur insoweit und solange Datenschutzrisiken auslösen, wie sie mit personenbezogenen Daten durchgeführt werden. Diese Risiken lassen sich beherrschen, wenn man die erhobenen Datenmengen vor der Analyse frühzeitig anonymisiert oder den Personenbezug zumindest (z. B. durch Pseudonymisierung) stark reduziert. So ist auch der Grundsatz der Datenvermeidung oder Datensparsamkeit zu verstehen, wie er in § 3a des Bundesdatenschutzgesetzes Ausdruck gefunden hat. Er ist seinerseits Konsequenz des Prinzips der Erforderlichkeit, dem jede Verarbeitung personenbezogener Daten unterliegt. Das wird in der Diskussion über Big Data häufig verkannt, wenn im Gegensatz zur Datensparsamkeit der „Datenreichtum“ oder die Datenmaximierung als erstrebenswertes Ziel deklariert werden. Datensparsamkeit bedeutet nicht die Begrenzung jeglicher Datenverarbeitung, sondern allein der weitgehende Verzicht auf den Personenbezug.

Statistikgesetze als frühe „Big-Data-Gesetze“ In diesem Bereich verfügt gerade die amtliche Statistik spätestens seit dem Volkszählungsurteil von 1983 über wertvolle Erfahrungen. Man kann die in der Folge dieser Rechtsprechung ergangenen Statistikgesetze des Bundes und der Länder insofern als frühe „Big-Data-Gesetze“ für den öffentlichen Bereich verstehen. Insbesondere durch das Bundestatistikgesetz von 1987 (§ 12) wurden der Grundsatz der frühestmöglichen Reduzierung des Personenbezugs durch Trennung von Hilfs- und Erhebungsmerkmalen und alsbaldiger Vernichtung der Hilfsmerkmale, die Begrenzung der Verknüpfungsmöglichkeiten innerhalb der Statistikämter und das Statistikgeheimnis zum festen Bestandteil des gesetzlichen Rahmens für die amtliche Statistik in Deutschland. Zwar gibt es bestimmte Bereiche der Forschung wie etwa medizinische Kohortenstudien (z. B. die Nationale Kohorte), wo der Personenbezug bei Big-DataAnalysen Teil des legitimen Erkenntnisinteresses ist (z. B. um einen Probanden über Untersuchungsergebnisse zu informieren, die für ihn lebenswichtig sein können). Für den hier interessierenden Bereich der Stadtforschung und Städtestatistik wie für die meisten anderen Felder empirischer Forschung gilt aber, dass der Einzelne letztlich nicht als Person, sondern nur als Träger bestimmter Eigenschaften von Bedeutung ist, die in aggregierten Ergebnissen zusammengefasst werden.

Anonymisierung Die Konzepte der Anonymität und der Anonymisierung sind von zentraler Bedeutung für den modernen Datenschutz insbesondere angesichts der Herausforderungen durch Big Data. Methoden der Anonymisierung oder De-Identifizierung spielen im Übrigen auch eine zunehmende Rolle bei der Überbrückung transatlantischer Differenzen beim Datenschutz.

So haben Experten aus Europa und den USA im Rahmen des „Privacy-Bridges“-Projekts 2015 die Anonymisierung als eine von zehn möglichen Brücken zur Überwindung von Schwierigkeiten aufgrund des ungleichen Datenschutzniveaus auf

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

beiden Seiten des Atlantik identifiziert (Privacy Bridges, Bridge 6, De-identification of personal data). Anonymität war allerdings nie statisch zu verstehen. Das Bundesdatenschutzgesetz (§ 3 Abs. 6) definiert „Anonymisieren“ als das „Verändern personenbezogener Daten derart, dass die Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person zugeordnet werden können.“ Welcher Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft „unverhältnismäßig groß“ ist, hängt vom Stand der Technik und der Menge der zur Verfügung stehenden Daten ab. Gerade das zuletzt genannte Kriterium bezeichnet die entscheidende durch Big Data eingetretene Veränderung: Je mehr Daten für die Analyse durch hochentwickelte Werkzeuge und Algorithmen zur Verfügung stehen, desto höher ist das Risiko der Reidentifizierung, also der Aufhebung oder Vereitelung von Anonymität.

Ob ein Datenbestand von vornherein anonym ist oder später anonymisiert worden ist, bedarf deshalb einer eingehenden Analyse, die nicht ein für allemal vorgenommen werden kann, sondern vor dem Hintergrund der technischen Entwicklung und der sich verändernden Datenmengen periodisch wiederholt werden muss. Während es bei der Volkszählung noch ausreichte, nach Abschluss der Plausibilität die abgetrennten Hilfsmerkmale zu vernichten, kann – zumindest faktische – Anonymität im Sinne des Bundesdatenschutzgesetzes wie auch der Statistikgesetze bei der Auswertung von Datenströmen, wie sie im städtischen Umfeld Sensoren, autonome Fahrzeuge oder „smarte“ Stromzähler generieren, nur mit sehr viel größerem Aufwand hergestellt werden.

Allerdings wäre es verfehlt anzunehmen, im Zeitalter von Big Data wäre angesichts der modernen Analysetools eine im datenschutzrechtlichen Sinne ausreichende Anonymität überhaupt nicht mehr zu erreichen. Richtig ist aber, dass sich der Aufwand, den die Reidentifizierung erfordert, in Zukunft minimieren wird (Sädtler, 81). Deshalb ist die permamente Bewertung des Reidentifizierungsrisikos von so großer Bedeutung für die Privatsphäre und den Datenschutz bei Big-Data-Analysen.

Sowohl die Internationale Arbeitsgruppe zum Datenschutz in der Telekommunikation als auch die Art. 29-Gruppe der europäischen Datenschutzbehörden haben dies unterstrichen (Berlin Group [2014], Art. 29-Datenschutzgruppe, [2014]). Insbesondere die Art. 29-Gruppe hat die verschiedenen komplexen Techniken der Reduktion oder des Ausschlusses des Personenbezugs (Randomisierung durch stochastische Überlagerung, Ersetzung oder Differential Privacy, Generalisierung durch Aggregation, k-Anonymität oder L-Diversität, Pseudonymisierung durch Verschlüsselung, Hashen oder Tokenisierung) eingehend auf ihre jeweiligen Stärken und Schwächen untersucht und einen Leitfaden zu Anonymisierungstechniken veröffentlicht. Das ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil Anonymität in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht einheitlich verstanden wird. Da keine der beschriebenen Techniken für sich genommen zuverlässig die Kriterien einer wirksamen Anonymität erfüllt, ist nach den Vorgaben der Art. 29-Gruppe stets eine Einzelfallbewertung notwendig, deren Ergebnis der Datenschutzbehörde vorgelegt werden sollte, um das verbleibende Reidentifizierungsrisiko im Zusammenhang mit dem Verwendungszweck der Daten zu beurteilen.

Zweckbindung Das führt zum nächsten Datenschutzgrundsatz, der durch Big Data in besonderer Weise in Frage gestellt wird: dem Grundsatz der Zweckbindung. Mit den Worten der Internationalen Arbeitsgruppe zum Datenschutz in der Telekommunikation: „Man überlässt einem Unternehmen oder dem Staat keine Informationen, wenn diese damit nach Belieben verfahren.

Dies könnte eine erhebliche Herausforderung für die kommerzielle Nutzung von Big Data darstellen (Berlin Group, Rn. 20).“ Je größer das Risiko der De-Anonymisierung, des Herausgreifens Einzelner (singling out) bei Datenbeständen ist, desto wichtiger wird die Beachtung des Grundsatzes, dass personenbezogene Daten nur für bestimmte, bei der Erhebung klar definierte Zwecke verwendet werden dürfen. Jede darüber hinausgehende, zweckfremde Nutzung bedarf der informierten Einwilligung der betroffenen Personen. Der Grundsatz der Zweckbindung steht in einem engen Zusammenhang mit dem Erforderlichkeitsprinzip. Die Erforderlichkeit der personenbezogenen Datenverarbeitung lässt sich immer nur in Bezug auf einen hinreichend bestimmten Zweck ermitteln.

Wird die Bindung der weiteren Verwendung der Daten an den ursprünglichen Zweck aufgehoben, verliert auch der Erforderlichkeitsgrundsatz seine eingriffsbeschränkende Funktion (Richter 2015, 735). Eine vollkommen zweckfreie Verarbeitung personenbezogener Daten war auch schon vor den Zeiten von Big Data unzulässig. Aber auch pauschale Zwecksetzungen z. B. in der Forschung (Nationale Kohorte) können nur dann Grundlage einer die Datenverarbeitung legitimierenden informierten Einwilligung sein, wenn diese Einwilligung nicht unbefristet gilt, sondern jederzeit zumindest mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden kann. Die auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Besonderheit der amtlichen Statistik, dass dort keine enge und konkrete Zweckbindung verlangt werden kann und auch ein legitimes Bedürfnis nach Vorratsspeicherung besteht (BVerfGE 65, 1, 47) hat das Gericht gerade dazu veranlasst, zum Ausgleich bestimmte Schranken in Form von Verarbeitungsvoraussetzungen für die amtliche Statistik vorzuschreiben (s. o. S.). Allerdings gefährden im privatwirtschaftlichen Bereich auf Big Data basierende Geschäftsmodelle ebenso wie ihre Vorläufer des Datamining und des Data Warehousing die Zweckbindung in besonderer Weise (Simitis, Einleitung, Rz.111).

Transparenz Ein weiteres der durch Big-Data-Analysen verursachten Hauptprobleme besteht in der Profilbildung unter Verwendung komplexer und intransparenter Algorithmen. Gerade die Intransparenz der Datenverarbeitung birgt verstärkte Risiken der informationellen Autonomie des Einzelnen, weil sie ihm die Möglichkeit nimmt, seine Rechte z. B. auf Auskunft, Korrektur oder Löschung wahrzunehmen (Dix in: Simitis, § 6 Rz. 10). Zu unterstützen ist deshalb die Forderung des Bundesjustizministers, der kürzlich gefordert hat, dass kein Mensch zum Objekt eines Algorithmus werden dürfe (Maas, Unsere digitalen Grundrechte (2015). Diese Forderung ist eine andere Formulierung für die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, dass

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

61

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

der Einzelne nicht zum Objekt der Informationsverarbeitung gemacht werden dürfe. Angesichts der wachsenden, mit Hilfe von Algorithmen ausgeübten Informationsmacht wird die Forderung nach Offenlegung und Kontrolle dieser Algorithmen immer wichtiger. Die gegenwärtige Praxis des Kreditscoring ist für viele Menschen mitentscheidend für die Wahrnehmung von Entfaltungschancen z. B. bei der Wohnungsvergabe oder in finanzieller Hinsicht. Schon dieses Kreditscoring ist von einer nicht akzeptablen Intransparenz gekennzeichnet, die der Bundesgerichtshof unter Berufung auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Auskunfteibranche rechtfertigt (vgl.

Dix in Simitis, § 34, Rn. 33). Denn die Betroffenen können nicht einmal Auskunft über die bei der Ermittlung ihres Scorewerts zugrundegelegten Faktoren oder die Vergleichsgruppen verlangen, denen sie zugeordnet werden. Die Gewichtung der einzelnen Faktoren muss die Auskunftei nur dann offenlegen, wenn dem Betroffenen eine automatisierte Einzelentscheidung droht. Diese wurde bereits in der Europäischen Datenschutzrichtlinie von 1995 an enge Voraussetzungen geknüpft.

Herrschaft durch Algorithmen Das Kreditscoring ist jedoch nur ein Vorgeschmack dessen, was künftig möglich sein wird. Algorithmen können immer besser Schrift, Sprache und Muster erkennen, sie steuern 70 Prozent aller Finanztransaktionen und erzeugen zum Teil Zeitungsinhalte automatisch (Helbing u. a., Digital-Manifest, 51). In der Volksrepublik China wird an der Einführung eines Citizen Score gearbeitet, mit dessen Hilfe Bürger aufgrund ihres Surfverhaltens im Internet und ihres sonstigen politischen Wohlverhaltens durch die Vergabe von Punkten auf einer Ranking-Scala eingeordnet werden sollen. Dieses Punktekonto entscheidet nicht nur über die Vergabe von Krediten, sondern auch darüber, ob der Betroffene einen bestimmten Beruf ergreifen oder nach Europa reisen darf. Die Verwirklichung solcher Orwell-Huxley’scher Szenarien ist keineswegs auf China begrenzt. In Singapur, für manche das Vorbild einer datengesteuerten Gesellschaft, für andere das Paradebeispiel einer fürsorglichen Diktatur, wird ebenfalls an Konzepten der staatlichen Verhaltenssteuerung durch Sammlung von Bürgerdaten gearbeitet.

Ein besonderes Risiko von Big-Data-Analysen sieht die Internationale Arbeitsgruppe zum Datenschutz in der Telekommunikation darin, dass die „Big-Data-Haltung“ häufig von der irrigen Annahme ausgeht, je mehr Daten man sammele und auf je mehr Daten man zugreifen könne, desto fundiertere, genauere und bessere Entscheidungen können man treffen (Berlin Group, Rn. 30). Stattdessen sollte die Erkenntnis selbstverständlich sein, dass mehr Daten nicht notwendig mehr Wissen bedeuten. Mehr Daten können auch zu Verwirrung und zu mehr „falsch-positiven“ Ergebnissen führen, wie das Beispiel der Google-„Grippe-Trends“ gezeigt hat. Big Data kann bestehende Vorurteile verfestigen und zu sozialer Ausgrenzung und informationeller Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen (social sorting) führen. Korrelationsanalysen können im Einzelfall zu völlig falschen Ergebnissen führen, insbesondere wenn Korrelation mit Kausalität verwechselt wird. Insofern können Diskriminierungen aufgrund statistischer Analysen auch zu Verletzungen des Datenschutzes im Einzelfall gegen-

62

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

über den Angehörigen ausgegrenzter Gruppe führen. Generell kann eine Entwicklung, bei der immer mehr gesellschaftliche Entscheidungen auf Algorithmen basieren, zu einer „Diktatur der Daten“ führen, in der wir nicht mehr anhand tatsächlicher Handlungen, sondern anhand dessen, was nach Datenlage die wahrscheinlichen Handlungen sein werden, beurteilt werden (Mayer-Schönberger/Cukier).

Sollten zukünftig – und erste Anzeichen dafür gibt es bereits – Bonitätswerte und Versicherungswerte von Informationen abhängen, die Nutzer im Internet oder in sozialen Netzen hinterlassen (oder sogar davon, dass soziale Netze gemieden werden), dann wäre ein massiver Einschüchterungseffekt (chilling effect) die Folge. Denn beispielweise könnte die Veröffentlichung der Erbkrankheit eines Kindes durch seine Eltern in sozialen Netzen zum späteren Verlust des Versicherungsschutzes für das Kind führen (vgl. das Beispiel der Berlin Group, Rn. 31). Dann aber würden Nutzer ihr Verhalten sowohl online wie offline möglicherweise danach ausrichten, was dies bei künftigen Auswertungen ihrer Datenspuren für negative Konsequenzen haben könnte. Der Verzicht auf die Wahrnehmung von Teilhabmöglichkeiten und Grundrechten wäre die Folge. Das hätte nicht nur Auswirkungen auf die Privatsphäre des Einzelnen, sondern auf das demokratische Gemeinwesen als Ganzes.

Big Data zur Kriminalitätsbekämpfung Der britische Geheimdienst GCHQ soll bereits jetzt im Rahmen seines Programms „Karma Police“ sämtliche WebsiteAufrufe überwachen (https://tarnkappe.info/karma-policegchq-ueberwacht-alle-website-besuche/). Während das im Dezember 2015 in Kraft getretene deutsche Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfristen die Vorratsspeicherung von Inhaltsdaten noch ausdrücklich ausschließt (§ 113b Abs. 5 TKG, BGBl.I 2015, 2218, 2222), will die britische Regierung durch einen neuen Gesetzentwurf (Investigatory Powers Bill) auch die Provider zur anlasslosen und flächendeckenden personenbezogenen Speicherung der Namen besuchter Internet-Domains verpflichten. Diese sollen im Eilfall von der Polizei auch ohne richterliche Anordnung für die Sicherheitsbehörden zugänglich sein, um jede Form der Kriminalität (nicht nur den Terrorismus) bekämpfen zu können (http://www.heise.de/newsticker/meldung/Grossbritannien-Entwurf-fuer-Netzueberwachungsgesetz-vorgestellt-2877521.html). Das Gesetz soll im Frühjahr 2016 verabschiedet werden. Diese Entwicklung macht deutlich, dass sich mit dem Argument „Kriminalitätsbekämpfung“ jede, auch eine inhaltliche Form der Vorratsdatenspeicherung rechtfertigen lässt (ohne dass deren Nutzen bisher belegt worden wäre). Aus Sicht der Sicherheitsbehörden wäre es deshalb wünschenswert, jede Form der Kommunikation (Sprachtelefonie, E-Mail- und sonstiger Datenverkehr) auf Vorrat zu speichern. Dies praktizieren die National Security Agency und die übrigen Geheimdienste der „Five Eyes“ offenbar bereits seit Jahren. Der Koordinator der US-Geheimdienste, Clapper, soll nach den von Edward Snowden initiierten Veröffentlichungen lediglich eingeräumt haben, er bedauere es, die Geheimdienstaktivitäten nicht selbst früher öffentlich gemacht zu ha-

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

ben. Auch beim Bundesnachrichtendienst spielen rechtliche Schranken offenbar eine nachgeordnete Rolle. Wo sie existieren, wird ihre Einhaltung nur unzureichend kontrolliert. Inwieweit das deutsche Gesetz zu Höchstspeicherfristen und die britischen Befugnisse zur Netzüberwachung Bestand haben werden, müssen die Gerichte insbesondere auf europäischer Ebene entscheiden. Dabei wird es um mehr gehen als um Transparenz: Entscheidend wird sein, ob derartig pauschale Überwachungsmaßnahmen in einer demokratischen Gesellschaft zwingend notwendig sind. Nur dann rechtfertigen sie nach der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Grundrechte-Charta eine derart weitreichende Einschränkung von Grundrechten.

Dass Sicherheitsbehörden sich verstärkt der Big-Data-Methoden bedienen wollen, zeigt auch das Beispiel des Predictive Policing. Polizeibehörden in Zürich und München setzen Analyse-Software mit selbst lernenden Algorithmen ein, um anhand von Daten aus den verschiedensten Quellen (z. B. Kriminalstatistik, soziale Netzwerke) die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten oder Gefahren in bestimmten Stadtteilen vorherzusagen und die Polizeipräsenz dort entsprechend zu erhöhen. Während Nordrhein-Westfalen eine entsprechende Software testen will, hat Niedersachsen einen entsprechenden „Orakel-Versuch“ mittlerweile gestoppt. Wissenschaftliche Untersuchungen darüber, was eine solche Software tatsächlich leistet, gibt es bisher nicht. Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder hat darauf hingewiesen, dass durch solchen Vorfeldanalysen stets die Gefahr von fehlerhaften Prognosen mit entsprechenden Auswirkungen auf die dabei in Verdacht geratenen Personen innewohnt.

Zwar bestünden derartige Gefahren bei rein orts- und nicht personenbezogenen Auswertungen noch nicht. Diese Bewertung könne sich jedoch bereits bei geringfügigen Modifikationen verändern, etwa wenn allgemein zugängliche Daten aus sozialen Netzen in die Analyse miteinbezogen werden. Zudem weist die Konferenz darauf hin, dass „die beständig weiterentwickelten technischen Auswertungsmöglichkeiten schon heute das Potential dafür bergen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Kontrolle über ihre Daten in einem Umfang und auf eine Art und Weise verlieren könnten, die in der Vergangenheit nicht vorstellbar gewesen ist.“ (Entschließung v. 19.03.2015)

Informationssicherheit Je größer die Menge der erhobenen und analysierten Daten ist, desto mehr wächst das Risiko von Datenlecks. Das mag daran liegen, dass große Datenbanken wie „Honigtöpfe“ auf kriminelle Angreifer wirken. Aber auch die Delegation von IT-Dienstleistungen durch den Staat an Dritte birgt Risiken für die Datensicherheit, wie das Beispiel Edward Snowdens auch gezeigt hat (auch wenn die von ihm veranlassten Veröffentlichungen im öffentlichen Interesse lagen). Angriffe auf oder Sicherheitslücken in großen personenbezogenen Datenbanken können weitreichende Konsequenzen für den Schutz der Privatsphäre und den Datenschutz haben. Deshalb gelten gesteigerte Anforderungen an die Informationssicherheit bei Big-Data-Anwendungen, wie dies z. B. im Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist

für Verkehrsdaten (§§ 113d – 113g TKG, BGBl. I, 2015, 2218, 2223 f.) zum Ausdruck kommt. Eine mögliche Maßnahme zur Begrenzung der Informationssicherheitsrisiken könnte die konsequente Dezentralisierung der Datenhaltung sein, wie sie die Autoren des Digital-Manifests fordern (Helbing u. a., Digital-Manifest, 58).

Europäische Datenschutz-Grundverordnung Mit der Anfang Dezember 2015 erzielten politischen Einigung über den künftigen Rechtsrahmen für den Datenschutz in Europa, insbesondere über die hier interessierende DatenschutzGrundverordnung, kann die Frage beantwortet werden, ob und wenn ja welche Anforderungen der europäische Gesetzgeber für Big Data formuliert hat. Im Vorfeld war einerseits zu befürchten, dass vor allem die Vorschläge des Rats für den Trilog zu einer problematischen Aufweichung des Zweckbindungsgrundsatzes führen würden, falls sich das Europäische Parlament und die Kommission dem angeschlossen hätten.

Das hätte nicht nur Auswirkungen auf die Verarbeitung von personenbezogenen Daten für kommerzielle Zwecke, sondern insbesondere auch für Forschungszwecke gehabt. Andererseits äußerte die Vorsitzende des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten, Regina Riphahn, mehrfach öffentlich die Befürchtung, dass eine Umsetzung der Vorschläge des Europäischen Parlaments für die Datenschutz-Grundverordnung zur einer Blockade der empirischen Sozialforschung in Deutschland führen würden (vgl. zuletzt Der Tagesspiegel v. 08.12.2015 – Der Wissenschaft droht Blockade durch Datenschutz). Ob diese Befürchtungen begründet waren, kann dahinstehen.

Denn die nun vorgesehenen Regelungen, die im Frühjahr 2018 in Kraft treten werden, verwässern weder die Zweckbindung noch erschweren sie die Forschung. Zum einen hat sich der Rat mit seinem Vorschlag, die Nutzung personenbezogener Daten für inkompatible Zwecke unter vagen Voraussetzungen zuzulassen, nicht durchsetzen können. Das ist eine wichtige Bekräftigung des Zweckbindungsgrundsatzes gerade auch im Zusammenhang mit Big Data. Die Grundverordnung sieht zugleich vor, dass die Verwendung personenbezogener Daten für Zwecke der Forschung und Statistik keine unzulässige Zweckentfremdung dieser Daten darstellt (Art. 5 [1] [b], 83 [1] der Grundverordnung). Der in Art. 83 der Grundverordnung gefundene Kompromiss betont zum einen den Grundsatz der Datensparsamkeit als wesentliches Element von „Privacy by Design“, zum anderen macht er deutlich, dass diesem Grundsatz auch durch Pseudonymisierung Rechnung getragen werden kann. Dass personenbezogene Daten für bestimmte Forschungszweige (z. B. Zeitgeschichte) erforderlich sind, war nie streitig. Dem trägt die Grundverordnung jetzt durch entsprechende Regelungen für das Archivwesen und die historische Forschung Rechnung. Aber auch die empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung wird selbst nach Auffassung des Rates für Wirtschafts- und Sozialdaten (vgl. dessen Presseerklärung vom 23.12.2015) nicht gefährdet. Der deutsche Gesetzgeber wird die den Mitgliedstaaten in der Verordnung eingeräumte Konkretisierungbefugnis sicher auch nicht dazu nutzen, um die Möglichkeiten der Forschung weiter einzuschränken.

Was man an der Datenschutz-Grundverordnung allerdings

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

63

Schwerpunkt Urban Data – neue Daten für die Stadtforschung

kritisieren muss, ist die Tatsache, dass sie keine ausreichende Regelung zur Profilbildung enthält. Entsprechende Vorschläge aus Deutschland (die allerdings von Seiten der deutschen Wirtschaft stets bekämpft wurden) fanden weder im Rat noch im Trilog genügend Fürsprecher. Bei der in die Verordnung aufgenommenen Regelung (Art. 20) bleibt unklar, inwieweit sie über das bereits bestehende Verbot der automatisierten Einzelentscheidung hinaus bestimmte Formen der Profilbildung gerade durch Big-Data-Analysen unterbindet.

Smart City Zunehmend entwickeln Großstädte in aller Welt Konzepte für ein „Smart City“, in der sowohl Umweltprobleme gelöst (z. B. durch intelligente Mülltonnen oder Straßenlaternen, die sensorgesteuert nur dann Licht geben, wenn Menschen die Straße benutzen), als auch Sicherheitsfragen bis hin zur Terrorismusbekämpfung beantwortet werden können (vgl. den Bericht von H. Rauterberg in DIE ZEIT v. 26.11.2015, 49 f.). Die Verfügbarkeit und der Einsatz von Detektoren und Sensoren bis hin zum Angebot offener WLANs eröffnet tatsächlich Möglichkeiten, um Gefahren im öffentlichen Raum zu reduzieren.

Allerdings darf man nicht – wie schon bei der Debatte über die Videoüberwachung – dem Fehlschluss erliegen, mehr Überwachung und mehr Datenquellen für Big Data-Analysen könnten auch nur annähernd eine vollständige Sicherheit garantieren.

Im übrigen ist sehr zweifelhaft, ob die Bürgerinnen und Bürger sich in einer Smart City wohlfühlen würden, in der sie auf Schritt und Tritt von Sensoren begleitet und beobachtet werden, auch wenn manche die Stadt mithilfe der Technik fast zu ihrem „zweiten Wohnzimmer“ machen möchten (Rauterberg, ebda.). Max Weber hat 1920 die bürokratische Organisation als „lebende Maschine“ bezeichnet, die im Verein mit der toten Maschine an der Arbeit ist, das „Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fü-

gen gezwungen sein werden …“ (Weber, 151). Die Smart City darf nicht zu einem solchen Gehäuse der Hörigkeit werden, sondern sie muss den Menschen stets auch im öffentlichen Raum die Möglichkeit bieten, sich unbeobachtet und damit frei zu bewegen. Nur in einer solchen wirklich „smarten“ Stadt wollen die Menschen leben (Dix, 7069).

Fazit „Big Data“ ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Methoden zur Auswertung großer strukturierter und unstrukturierter Datenmengen. Die Auswirkungen von Big Data auf den Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre lassen sich nicht pauschal, sondern nur bezogen auf konkrete Anwendungsszenarien beurteilen. Insbesondere ist „Big Data“ nicht mit „Big Personal Data“ gleichzusetzen. Zahlreiche wichtige Big-DataAnwendungen sind ohne die Nutzung personenbezogener Daten möglich. Bei der Nutzung großer Mengen personenbezogener Ausgangsdaten verfügt die amtliche Statistik über eine lange Erfahrung. Die Statistikgesetze können als frühe Big-Data-Gesetze angesehen werden. Auch bei neueren BigData-Analysen außerhalb der Statistik, z. B. im Bereich der Forschung, sind die Grundsätze der frühzeitigen Anonymisierung oder der Reduzierung des Personenbezugs durch Pseudonyme zu beachten. Dies hat ebenso Eingang in die Europäische Datenschutz-Grundverordnung gefunden wie die Grundsätze der Zweckbindung und Transparenz. „Privacy by Design“ verlangt die datenschutzgerechte Konzeption von Big-Data-Analysen.

Allerdings ist die Rechtmäßigkeit kein alleiniger Garant für einen gesellschaftlich akzeptablen Einsatz von Big Data. Denn auch die Verwendung anonymer Datensätze können Auswirkungen auf den Einzelnen haben; deshalb müssen darüber hinaus außerrechtliche, ethische und politische Grundsätze beachtet werden, um zu verhindern, dass der Mensch zum bloßen Objekt der Informationsverarbeitung wird (Berlin Group, Empfehlung 53; Helbing u. a., Digital-Manifest).

Literatur Art. 29 Datenschutzgruppe, Opinion 03/2013 on purpose limitation v. 2.4.2013, WP 203 Dies., Stellungnahme 5/2014 zu Anonymisierungstechniken v. 10.4.2014, WP 216 Dies., Stellungnahme 06/2014 zum Begriff des berechtigten Interesses des für die Verarbeitung Verantwortlichen gemäß Artikel 7 der Richtlinie 95/46/EG v. 9.4.2014, WP 217 Dies., Statement on the impact of the development of big data on the protection of individuals with regard to the processing of their personal data in the EU v. 19.9.2014, WP 221 Berlin Group: International Working Group on Data Protection in Telecommunications, Arbeitspapier zu Big Data und Datenschutz – Bedrohung der Grundsätze des Datenschutzes in Zeiten von Big-Data-Analysen, (2014)

64

A. Dix, Rede im Abgeordnetenhaus von Berlin am 24. September 2015, Plenarprotokoll 17/69, 7068 f.

N. Härting/J. Schneider, Das Ende des Datenschutzes – es lebe die Privatsphäre, Computer und Recht 2015, 819 ff.

D. Helbing/B. Frey/G. Gigerenzer/E. Hafen/M. Hagner/Y. Hofstetter/J. van den Hoven/R. Zicari/A. Zwitter, Digital-Manifest I u. II, Spektrum der Wissenschaft 1/2016, 51 ff.

Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, Big Data zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung: Risiken und Nebenwirkungen beachten, Entschließung v.

19. März 2015 H. Maas, Unsere digitalen Grundrechte, DIE ZEIT v. 10.12.2015, 9

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

V. Mayer-Schönberger/K.Cukier, „Big Data“ – Die Revolution, die unser Leben verändern wird (2013) Privacy Bridges: EU and US Privacy Experts in Search of Transatlantic Privacy Solutions (2015), https://privacybridges.mit.edu/ P. Richter, Datenschutz zwecklos? – Das Prinzip der Zweckbindung im Ratsentwurf der DSGVO, Datenschutz und Datensicherheit 2015, 735 ff.

S. Sädtler, Demokratische Willensbildung in der Cloud im Kontext von Big Data und Datenschutz, in: P. Richter (Hrsg.), Privatheit, Öffentlichkeit und demokratische Willensbildung in Zeiten von Big Data, Baden-Baden 2015, 69 ff.

S. Simitis (Hrsg.), Bundesdatenschutzgesetz, 8.

Aufl., Baden-Baden 2014 M. Weber, Gesammelte Politische Schriften (1920)

Stadtforschung

Philip Engler

Die Erforschung von Wohnwünschen und ihr Beitrag zur Reurbanisierungsdebatte

Der Beitrag stellt die wichtigsten Ergebnisse des Dissertationsvorhabens des Autors vor, das von einer zentralen Bedeutung von Wohnwünschen bei der Analyse von Reurbanisierungsprozessen ausgeht und das Ziel verfolgt, Grundlagen für die Erforschung und Bewertung solcher Wohnwünsche zu legen. Es werden zunächst die methodischen Überlegungen vorgestellt, die zur Verwendung von Photographien in Tiefeninterviews führten. Daran schließt sich eine Beschreibung der Ausprägung der Wohnwünsche der Befragten sowie ihres Bezugs zu städtischen Strukturen an, ehe die Auswertung von Begründungsmustern der Befragten beschrieben wird.

1

Der vorliegende Text beschreibt die wesentlichen Erkenntnisse aus dem Dissertationsprojekt des Autors, das in den Jahren 2009 bis 2014 durchgeführt wurde (Engler 2014). Es ging von der zentralen Bedeutung des Wohnwunsches der Bevölkerung für die Reurbanisierung aus, wie sie auch an anderer Stelle ausgeführt und begründet wurde (Engler 2013). Mit der Dissertation sollte ein Beitrag zur Erforschung von Wohnwünschen geleistet werden. Zu diesem Zweck wurden mit zufällig ausgewählten Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadtregion Hamburg Interviews geführt, in denen ihnen mit der Bitte um ihre Bewertung einige Photographien von unterschiedlichen Wohnsituationen vorgelegt wurden. Im Folgenden werden als zentrale Ergebnisse der Dissertation 1) Überlegungen und Erfahrungen zur Methodik bei der Erforschung von Wohnwünschen, 2) die wichtigsten Teilaspekte und Ausprägungen der Wohnwünsche der Befragten, 3) Erkenntnisse zur Stadtaffinität der Befragten sowie 4) Einflussfaktoren auf die Bildung von Wohnwünschen beschrieben. Schließlich wird dargelegt, welche Möglichkeiten und Bedarfe zur weiteren Erforschung von Wohnwünschen gesehen werden.

2

Dr. Philip Engler Diplom-Geograph, Lehrstuhl Wirtschaftsgeographie der Universität Bayreuth : philip.engler@uni-bayreuth.de Schlüsselwörter: Reurbanisierung – Wohnwünsche – Hamburg – photogeleitete Hervorlockung – Stadtaffinität

Einleitung

Zusammenhang zwischen Reurbanisierung und Wohnwünschen

Geht man der Frage nach, welche Rolle Wohnwünsche bei der Untersuchung von Reurbanisierung spielen können, muss zunächst geklärt werden, welche Form von Reurbanisierung hier gemeint ist. Ein Hauptmerkmal der bisherigen Debatte um Reurbanisierung ist das Nebeneinander unterschiedlicher Konzepte und Begriffsverwendungen und damit einhergehend eine vorherrschende „Unklarheit über Ursachen, Ausprägungen und Wirkungen von Reurbanisierung“ (Jessen u. Siedentop 2010: 18). Besonders fragwürdig erscheint das quantitative Verständnis von Reurbanisierung, das auf die Personengruppe der Umziehenden fokussiert und aus ihrem Wanderungsverhalten auf ihre Motive schließt. Auch kann man von einer Verzerrung der Ergebnisse aufgrund der zwangsläufigen Abhängigkeit von administrativen Grenzen ausgehen (siehe Engler 2014: 22 ff.; ausführlich Engler 2013: 15 ff.).

Zielführender erscheint es, Reurbanisierung als steigende Wertschätzung des Städtischen zu konzeptualisieren. „Die Grundlage des Konzepts bildet demnach nicht der Zuzug

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

65

Stadtforschung

suburbaner Bevölkerungsgruppen und eine eventuell damit einhergehende Bevölkerungszunahme der Stadt, sondern die dahinterliegende Motivation“ (Engler 2014: 25). Es geht also um einen „mentale(n) Veränderungsprozess, der dieser Phase der Stadtentwicklung zugrunde liegt“ (Engler 2013: 19).

Somit stellen „Wohnwünsche der Bevölkerung den ‚Bruch‘ in der Stadtentwicklung dar, der den Beginn einer neuen Phase namens Reurbanisierung markiert“ (Engler 2014: 26), wenn sie eine Bedeutungszunahme des Städtischen bezüglich der in der Wohnumgebung gewünschten Aspekte aufweisen.

Die Erforschung von Wohnwünschen (und Wünschen allgemein) sieht sich vielfach der Kritik ausgesetzt, dass sie irrelevant und irreführend sei, insbesondere bei starken äußeren Zwängen, wie sie im Wohnungsmarkt gesehen werden. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Erforschung von Wohnwünschen wichtige Erkenntnisse bringt, nämlich 1) wenn Wohnungsmärkte nachfragegesteuert sind und der Wohnwunsch somit tatsächlich in Nachfrage umgesetzt werden kann, und 2) weil Rahmenbedingungen sich verändern und gesteuert werden können, wofür die Kenntnis von Wohnwünschen zentrale Bedeutung erlangt. Auch die Kritik, dass geäußerte Wohnwünsche realitätsfern seien, wird in zahlreichen Studien widerlegt (etwa Holtmann u. Schaefer 1996: 136).

Voraussetzung für die Klärung der Frage, ob eine Bedeutungszunahme des Städtischen vorliegt, ist zunächst die Auseinandersetzung mit dem Begriff. Der kurze historische Abriss bei Keller u. Ruhne 2011 zeigt exemplarisch, wie schwierig die Suche nach einer Definition des Städtischen ist. Setzt man sich mit der zahlreichen Literatur zu dieser Frage auseinander, lassen sich jedoch als eine Art Grundkonsens fünf Dimensionen städtischer Strukturen herausarbeiten, die in verschiedenen Varianten und Zusammenstellungen immer wieder angeführt werden. Dabei handelt es sich um 1) die hohe bauliche Dichte, 2) die große Bedeutung des öffentlichen Raumes, 3) die hohe soziale und ethnische Heterogenität, 4) die hohe funktionale Mischung und 5) die offene Atmosphäre. Unterschiedlich ist insbesondere die Bewertung, was in diesem Zusammenhang „hoch“ oder „groß“ ist. Bringt man diese Dimensionen des Städtischen mit den Wohnwünschen in Verbindung, so lässt sich eine Stadtaffinität von Personen beschreiben und wird eine Differenzierung von Personen anhand ihrer Stadtaffinität möglich, womit Antworten auf mögliche Akteursgruppen in der Reurbanisierung geliefert werden können. Dies wird in Kapitel 5 ausführlich dargestellt. Zunächst erfolgt eine Beschreibung des methodischen Vorgehens.

3

Methodisches Vorgehen: photogestützte Interviews

Für eine passende methodische Vorgehensweise zur Erforschung von Wohnwünschen sind ebenfalls einige Vorüberlegungen notwendig. Definiert man Wohnwünsche – in Abgrenzung von Wohnpräferenzen und -bedürfnissen – als „grundlegende Einstellung gegenüber dem Wohnen“ (Engler 2014: 34), sind grundsätzlich zwei Methoden zu ihrer Erforschung denkbar. Entweder können sie aus dem Verhalten rückgeschlossen werden. Dies entspricht der „Revealed Preference Theory“ (siehe etwa Weichhart 1989), die davon ausgeht, dass

66

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

sich die Wohnwünsche im tatsächlichen Wohnstandortverhalten abbilden. Mit der Kenntnis der meisten Wohnungsmärkte, insbesondere in Ballungsgebieten, lässt sich diese vereinfachte Annahme aber schon zurückweisen, da sie die externen Zwänge bei der Wahl eines neuen Wohnstandorts nicht berücksichtigt. Diese können sogar dazu führen, dass das Handeln einer Person letztlich ihren Wohnwünschen widerspricht (Scheiner 2009: 41). Hinzu kommt „die Tatsache, dass der Wohnstandort eine multiple Einheit darstellt, das heißt sich aus verschiedenen Aspekten zusammensetzt, die in der Regel kaum alle mit den Wunschvorstellungen in Einklang zu bringen sind“ (Engler 2014: 37). Der daraus resultierende Kompromiss ist aus dem Verhalten aber nicht direkt ablesbar.

Somit bietet sich für die Erforschung von Wohnwünschen die zweite Variante an, nämlich ihre direkte Abfrage. Auch hier sind wiederum zwei mögliche Vorgehensweisen zu unterscheiden: erstens die nachträgliche Bewertung ihres Umzugsverhaltens durch die Befragten selbst, und zweitens eine Befragung unabhängig vom eigentlichen (Umzugs-)Verhalten.

Gegen die erste Variante spricht vor allem die sog. kognitive Dissonanz, worunter der psychologische Mechanismus verstanden wird, „Diskrepanzen zwischen einer unveränderlichen und einer ‚eigentlich‘ unerwünschten Realität abzubauen, weil die dadurch entstehende Unzufriedenheit auf Dauer nicht zu ertragen ist“ (Häußermann u. Siebel 2000: 219). Eine Folge ist unter anderem, dass Umzugsmotive im Nachhinein umgedeutet oder gänzlich verschwiegen werden.

Es bleibt somit als einzig sinnvolle Variante, die Wohnwünsche bei Personen abzufragen, die keinen Bezug zu einem aktuellen Verhalten aufweisen und sich möglichst nicht einmal mit einem konkreten Umzugsvorhaben beschäftigen. Dies stellt sicher, dass sie ihre Wünsche und Vorstellungen nicht (in besonderem Maße) an die Gegebenheiten eines potentiellen Suchraums angepasst haben. Vielmehr zielt die Befragung auf ihre grundlegenden Einstellungen gegenüber dem Wohnen ab, die in ihnen latent vorhanden sind. Die Herausforderung besteht nun darin, den Befragten einen Impuls zu geben, damit sie sich dieser Einstellungen auch bewusst werden und sie artikulieren können.

Wie die Auflistung in Abbildung 1 zeigt, lassen sich noch weitere Voraussetzungen anführen, die zur Wahl einer Methode erfüllt sein müssten, mit der eine adäquate Abbildung der Wohnwünsche sichergestellt ist (zur detaillierten Ausführung der einzelnen Punkte siehe Engler 2014: 43 ff.).

Abbildung 1: Anforderungen an die Erforschung von Wohnwünschen -

Berücksichtigung aller Bevölkerungsgruppen Vermeidung von Antwortvorgaben durch den Interviewer Stimulierung unbewusster (Wohn-)Wünsche Vermeidung der Verwendung von (unterschiedlich gedeuteten) Begrifflichkeiten im Interview - Ermöglichung multiattributiver Einschätzungen (im Sinne einer Abwägung verschiedener Aspekte) - Unabhängigkeit vom konkreten Raum (mit seinen strukturellen Einschränkungen) Quelle: Engler 2014: 43 ff.

Stadtforschung

Abbildung 2: Beispiele für in den Interviews verwendete Photographien

Quelle: eigene Aufnahmen (2009)

Aus diesen Anforderungen an die Methodik wurde eine konkrete Vorgehensweise abgeleitet. Sie sah zunächst die Bestimmung von Teilgebieten innerhalb der Stadtregion vor, die sich hinsichtlich ihrer Ausstattung mit städtischen Strukturen voneinander unterschieden. Anschließend wurden Befragte aus diesen Teilgebieten zufällig ausgewählt und schließlich in einem qualitativen Interview mit gleichzeitig erzählgenerierendem und problemzentriertem Charakter befragt. Für letzteres wurde, um den Anforderungen 3 bis 6 gerecht zu werden, der Einsatz von Photographien geprüft (Engler 2014: 47 ff.). Es zeigte sich, dass die Einsatzform der „Photo Elicitation“ oder „photogeleiteten Hervorlockung“ (Harper 2007) verschiedene Vorteile verspricht, die die Anforderungen erfüllen. Dazu gehören die Erzeugung von Emotionen und Assoziationen und die Entspannung der Interviewsituation, was der Stimulierung unbewusster Wünsche dient und zum Nachdenken anregt.

Der polyseme Charakter von Photographien, der „in den vielen unterschiedlichen Deutungen (liegt), die sie in Abhängigkeit von sozialen und individuellen Interpretationskontexten erlangen können“ (Wiest 2007: 185), trägt zu einer Identifizierung unterschiedlicher Ansichten und Bewertungen der einzelnen Befragten bei. Dazu gehören dann eben auch Aspekte, die von Forscherseite vorher nicht (oder nicht in dieser Form) gesehen wurden. „Damit ist gewährleistet, dass alle für die Befragten beim Thema Wohnumfeld bedeutsamen Aspekte tatsächlich zur Sprache kommen“ (Engler 2014: 60). Des Weiteren verspricht der Einsatz von Photographien, die Befragten aus ihrem derzeitigen (Wohn-)Umfeld zu lösen und eine vorgelegte Wohnsituation mit der nötigen Distanz bewerten zu können.

Den Forscher entlastet die Photographie gleichzeitig davon, mit den Befragten verschiedene Wohngebietstypen persönlich aufsuchen zu müssen. Außerdem werden durch den Einsatz des visuellen Mediums Photographie Missverständnisse durch unterschiedliche Begriffsverwendungen vermieden.

Die methodischen Vorüberlegungen wurden in insgesamt 35 Interviews umgesetzt, die mit Personen aus verschiedenen Teilen der Stadtregion Hamburg (zur Abgrenzung siehe Engler 2014: 67 ff.) durchgeführt wurden. Den Befragten wurden 15 Photographien mit Motiven zu verschiedenen Wohnsituationen (siehe beispielhaft Abbildung 2) vorgelegt mit der Bitte, sich zu darauf wahrgenommenen Aspekten zu äußern und diese für den persönlichen Wohnwunsch zu bewerten und gegeneinander zu gewichten. Zudem wurden soziodemographische Merkmale der Befragten mit einem kurzen Fragebogen erfasst. Dazu gehörten auch Fragen zur Einstufung in Lebensstil- und Lebenszyklusgruppen (zur theoretischen

Begründung und Konzeption der jeweiligen Gruppen siehe Engler 2014: 118 ff.).

Die Verwendung der Photographien konnte die Erwartungen überwiegend erfüllen (Engler 2014: 91 ff.). Sie vereinfachten die Forschungs- und entspannten die Interviewsituation, erzeugten bei den meisten Befragten teilweise sehr weitreichende Assoziationen und regten entsprechend zu Erzählungen an, die sich dann vielfach von der konkreten Photographie lösten und damit eine Vielfalt AN angesprochenen Themen gewährleisteten. Dagegen konnte auch diese Methode nicht verhindern, dass sich einige Befragte nicht aus ihrem derzeitigen (Wohn-)Kontext lösen ließen und nicht imstande waren, weitgehende Bewertungen ohne Bezug auf ihr Haus oder aktuelles Wohnumfeld vorzunehmen. Auch entwickelte sich gegensätzlich zu der Absicht, eine Verortung der Photographien und damit eine Bewertung realer Wohngegenden in der Stadtregion Hamburg zu vermeiden, bei vielen Befragten eine Art „Hamburg-Quiz“, indem versucht wurde zu erraten, wo die entsprechende Aufnahme entstanden war. Es lässt sich aber festhalten, dass Photographien hier zwar nicht vollumfänglich überzeugen konnten, andere Methoden jedoch als noch weniger zielführend eingestuft werden müssen (Engler 2014: 303).

4

Beschreibung der Wohnwünsche der Befragten

Erstes Ziel des Dissertationsvorhabens war eine Beschreibung und Gruppierung der von den Befragten geäußerten Wohnwünsche bzw. deren zentraler Aspekte. Dabei kann unterschieden werden zwischen Aspekten, die in den Interviews häufig angeführt wurden, sowie jenen, die von den Befragten für ihren persönlichen Wohnwunsch als besonders wichtig eingestuft wurden. Erstere, die sich vor allem auf die Wohnform, das direkte Wohnumfeld sowie Lage und Anbindung innerhalb der Stadtregion bezogen, sind in besonderem Maße von den Motiven der verwendeten Photographien abhängig und von Voreinstellungen der Befragten und bestehenden Diskursen bezüglich der Wohnsituation geprägt. Demgegenüber ergibt sich das eigentliche Bild des Wohnwunsches der Befragten im Sinne einer grundlegenden Einstellung zum Wohnen aus der expliziten Darstellung eines Aspektes als Wunsch sowie der subjektiven Einschätzung der Wichtigkeit dieses Aspektes gegenüber anderen. Die Befragten sahen mehrheitlich Aspekte aus den folgenden fünf Kategorien als sehr wichtig an (Engler 2014: 167 ff.):

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

67

Stadtforschung

1. Direkte, im Blickfeld der Wohnung/des Hauses gelegene Umgebung 2. Mögliche Freiräume an der Wohnung/am Haus 3. Geschäfte 4. Erreichbarkeit des Wohnstandortes 5. Wohnform Betrachtet man die Aussagen im Detail, so lassen sich Einzelaspekte des Wohnwunsches herausarbeiten, die von der Mehrheit oder einem Großteil der Befragten als Bestandteil ihres jeweiligen Wohnwunsches genannt wurden (Engler 2014: 172 ff.). In Abbildung 3 sind die wichtigsten zehn dieser Einzelaspekte aufgeführt.

Die ersten 3 sowie insgesamt 4 der zehn am häufigsten geäußerten Einzelaspekte betreffen somit Qualitäten der infrastrukturellen Ausstattung des direkten Wohnumfeldes.

Die Nähe zu Geschäften wurde von fast allen Befragten als gewünscht oder zumindest als positiv herausgestellt und außerdem nur wenig erläutert, was auf eine selbstverständliche Bedeutung schließen lässt. Gleichzeitig allerdings wiesen die Aussagen eine große Bandbreite dahingehend auf, was als „nah“ und „erreichbar“ gesehen wird, nicht zuletzt auch beeinflusst durch die implizierte Verkehrsmittelwahl (Engler 2014: 173 f.). Die Nähe zu Grün- oder Parkflächen sowie ein ruhiges und grünes Wohnumfeld waren fast durchgängig als wichtige Aspekte des Wohnwunsches vorzufinden. Bemerkenswert ist die hohe Wichtigkeit einer Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz, während vergleichbare autobezogene Wünsche kaum anzutreffen waren. Der Hintergrund dieser Tatsache konnte jedoch nicht weiter ausgeleuchtet werden – hier bietet sich ein interessanter Anschluss für verkehrswissenschaftliche Forschungsarbeiten.

Die mit Abstand von den meisten Befragten favorisierte Wohnform war das freistehende Einfamilienhaus. „Als positive Aspekte des Einfamilienhauses wurden insbesondere die Möglichkeit eines (größeren) Freiraums, die höhere Wohnfläche sowie die Abgrenzungsmöglichkeit von den Nachbarn angeführt“ (Engler 2014: 175). Damit bestätigen sich hier die empirischen Ergebnisse aus anderen Studien ebenso wie das gängige Begründungsmuster: „Ein eigenes Haus ist für die meisten ein Symbol für individuelle Freiheit, Unabhängigkeit und Sicherheit“ (Häußermann u. Siebel 2000: 229). Mit dem Einfamilienhaus geht der Wunsch nach einem Freiraum am Haus einher, was in den allermeisten Fällen einen eigenen

Abbildung 3: Die am häufigsten gewünschten Einzelaspekte des Wohnwunsches - Geschäfte in erreichbarer Nähe - Nähe zu Natur a) Gut erreichbare öffentliche Verkehrsanbindung b) Ruhiges Wohnumfeld - Garten, Freiräume an der Wohnung am Haus - Nähe zu Parks/Grünflächen - (freistehendes) Einfamilienhaus - Grün im Wohnumfeld, Blick ins Grüne - Nähe zu Kneipen, Cafés, Kino - Nähe zu/Kontakt mit Nachbarn Quelle: Engler 2014: 173

Garten meint. Auch hier spiegelt sich das Ergebnis vieler anderer Arbeiten wider.

Weniger Einigkeit herrschte unter den Befragten, wenn es um die Themen Nachbarschaft und soziales Umfeld ging. „Beinahe gleich groß sind die Gruppen von Befragten, die sich Nähe und Kontakt zu ihrer Nachbarschaft bzw. Abgrenzung und Abstand wünschten“ (Engler 2014: 176). Der häufig vorgebrachten Argumentation, dass das soziale Umfeld eine gewichtige Rolle bei der Suche nach neuen Wohnstandorten spiele, widerspricht die Tatsache, dass es nur für wenige Befragte einen wichtigen Aspekt des Wohnwunsches darstellte.

Nur wenig überraschende Erkenntnisse lieferten die am häufigsten abgelehnten Einzelaspekte des Wohnwunsches. Hier wurden vor allem typische Wohnumfeldmängel wie Lärmbelastung (durch Straße oder Bahn) oder fehlende Abgrenzungsmöglichkeiten zu Nachbarn und sozialem Umfeld genannt.

Interessant ist, dass die überwältigende Mehrheit der Befragten das Leben in abgelegener Lage ebenso negativ beurteilten wie das Wohnen in einem Mehrparteienhaus. Hier zeigt sich erneut die überragende Bedeutung des Einfamilienhauses, allerdings gepaart mit dem Wunsch nach Erreichbarkeit und der Nähe zu Infrastruktur. Aus diesen Einzelaspekten der Wohnwünsche der Befragten wurden schließlich fünf Wohnwunschgruppen gebildet, wie sie in Abbildung 4 dargestellt sind. Eine solche Gruppierung stellt notgedrungen eine Reduzierung und Vereinfachung dar. Gleichzeitig ist sie als Vorschlag für die weitere Erforschung von Wohnwünschen zu verstehen, da sie eine leichtere Differenzierung von Personen anhand ihres Wohnwunsches ermöglicht und damit die vergleichende Analyse der Wirkung und Verteilung von Wohnwünschen in der Bevölkerung erleichtert.

Abbildung 4: Gruppierung der identifizierten Wohnwünsche Gruppenname

Wichtigste Wohnwünsche

„mittendrin sein“

Belebtes und dicht bebautes Umfeld, Wohnform Wohnung, Kontakt mit Nachbarn, Geschäfte und Vergnügungsorte spontan erreichbar

„alles um die Ecke“

Kein belebtes Umfeld, Wohnform Wohnung, Nähe zu Nachbarn, belebte Räume und Vergnügungsorte in der Nähe

„Natur und Infrastruktur“ Kein belebtes Umfeld, keine präferierte Wohnform, Distanz zu Nachbarn, Nähe zu Natur und Infrastruktur „Rückzug und Leben“

Belebtes Umfeld, Wohnform Einfamilienhaus mit großem Garten, Distanz zu Nachbarn, Nähe zu Natur, belebten Räumen, Vergnügungsorten

„ruhig und abgelegen“

Wohnform Einfamilienhaus mit Garten, Distanz zu Nachbarn, Nähe zu Natur, nicht zu ÖPNV oder Parks Quelle: Engler 2014: 184

68

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Stadtforschung

Abbildung 5: Häufigste Assoziationen der Befragten mit „Stadt“ -

hohes Verkehrsaufkommen fußläufige und vielfältige Infrastrukturausstattung breites kulturelles Angebot kurze Wege hohe Immobilienpreise gründerzeitliche Blockrandbebauung weniger Grün und Natur im Wohnumfeld weniger Freiflächen an der Wohnung (Balkons, Garten) Quelle: Engler 2014: 219

Bei der Differenzierung der Wohnwünsche der Befragten nach ihren soziodemographischen und ökonomischen Merkmalen ergaben sich nur wenige belastbare Erkenntnisse. Es waren vor allem „der derzeitige Wohnstandort sowie die Zugehörigkeit zu einer Lebenszyklusphase, die differenzierend auf die Wohnwünsche und einzelne Wohnwunschaspekte wirkten“ (Engler 2014: 214). Die Wirkung des Lebensstils konnte aufgrund der gewählten Klassifikation an dieser Stelle noch nicht spezifiziert werden. Betrachtet man speziell jene Bevölkerungsgruppen, denen in der Debatte um Reurbanisierung eine herausgehobene Rolle zugschrieben wird, so bestätigen sich für die Postadoleszenten bisherige Erkenntnisse bezüglich ihres Wohnstandortverhaltens. Es waren ein verstärkter „Wunsch nach Wohnen in einer Wohnung (…) und die hohe außerhäusliche Orientierung mit entsprechender Nachfrage nach Infrastruktur“ (Engler 2014: 213) zu beobachten. Nähe zur Natur sowie Freiräume an der Wohnung wurden nicht für wichtig erachtet, zudem spielte das Einfamilienhaus keine nennenswerte Rolle. Allerdings zeigten die Interviews auch, dass die betreffenden Befragten sich diese Wohnform im weiteren Verlauf ihres Lebens durchaus vorstellen konnten oder sogar explizit wünschten.

Auch die Befragten, die der Lebenssituation der Familie zugerechnet wurden, wiesen erwartbare Ausprägungen ihres Wohnwunsches auf. Sie wünschten sich vor allem Einfamilienhäuser mit Garten und ein ruhiges Wohnumfeld, während sie kaum Interesse an einer Nähe zu Park- und Erholungsflächen zeigten. Ein stärkerer Wunsch nach Abgrenzung von den Nachbarn und Ablehnung der Einsehbarkeit der eigenen Wohnsituation illustrieren den Rückzug ins Private, wie er für Familien als typisch beschrieben wird (siehe etwa Holtmann u.

Schaefer 1996). Unterschiede innerhalb dieser Gruppe gab es je nach dem Alter der Kinder: mit zunehmendem Alter erhöhte sich die Bedeutung von Infrastruktur und ließ der Wunsch nach abgelegenem Wohnen nach. Auch dies ist als „Veränderung der Bewertung einzelner Standortkriterien mit fortschreitendem Alter der Kinder“ (Dittrich-Wesbuer u. Osterhage 2008: 147) bereits beschrieben worden.

Zur Betrachtung der häufig angeführten Gruppe der „Best Ager“ wurden die Über-56-Jährigen unter den Befragten herangezogen. Sie wünschten sich vor allem Nähe zur Natur und zu Erholungsflächen und lehnten eine hohe Bebauungsdichte ab. Am häufigsten gewünschte Wohnform war das Einfamilienhaus, zudem zeigte sich eine große Bedeutung gut erreichbarer Infrastruktur, womit entsprechende theoretische Überlegungen zu den Versorgungsbedarfen dieser Gruppe bestätigt werden (Scheiner 2006).

5

Erkenntnisse zur Stadtaffinität in der Bevölkerung

Vor dem Hintergrund der Reurbanisierungsdebatte bildete die Frage nach der räumlichen Ausprägung der Wohnwünsche der Befragten, das heißt danach, welche Raumstrukturen innerhalb einer Stadtregion präferiert werden, den Fokus des Dissertationsprojektes. Um diese Stadtaffinität der Befragten zu bestimmen, war es zunächst notwendig, den Stadtbezug der einzelnen Aspekte des Wohnwunsches zu hinterfragen.

Diese Prüfung wurde nicht alleine aus einer theoretischen Perspektive unter Rückgriff auf die bereits erwähnte Auseinandersetzung mit dem Stadtbegriff in der Literatur bestritten, sondern bei explizitem Einbezug des Stadtverständnisses der Befragten. Hintergrund war die Annahme, dass subjektive Wahrnehmungen von städtischen Gegebenheiten die objektiv festgelegten Qualitäten einzelner Teilbereiche ergänzen und somit validere Ergebnisse hinsichtlich der Stadtaffinität der Bevölkerung erbringen würden.

Das Stadtverständnis der Befragten wurde in den Interviews nicht direkt abgefragt, sondern über ihre Aussagen interpretativ erarbeitet. Dies erfolgte erstens durch alle Äußerungen der Befragten, in denen sie einzelne Teilräume der Stadtregion mit Eigenschaften versahen. „Dabei lässt sich zunächst feststellen, dass eine starke Übereinstimmung zwischen den Assoziationen der einzelnen Befragten bestand“ (Engler 2014: 218). In Abbildung 5 sind die häufigsten Assoziationen der Befragten mit „Stadt“ aufgelistet. Es zeigt sich, dass sie „sich eindeutig auf innerstädtische Quartiere beziehen, insbesondere auf jene, die neben der stark verdichteten Bauweise auch mit vielfältiger Infrastruktur ausgestattet sind“ (Engler 2014: 218). Dies bedeutet, „dass die Verwendung des Begriffs ‚Stadt‘ weder im administrativen noch im funktionalen Sinne (Pendlerverflechtungen) mit der Wahrnehmung der Bevölkerung übereinstimmt“ (Engler 2014: 219). Zudem decken sich die Assoziationen der Befragten in auffälliger Weise, was auf eine überindividuelle Prägung des Stadtbegriffs schließen lässt.

Zweitens erfolgte die Interpretation über die von den Befragten vorgenommene Verortung der Photographien in der Stadtregion. Dabei ging es nicht darum, ob diese Verortung der Realität entsprach, sondern um die Zuordnung der dargestellten (Wohn-)Situation zu einer Raumkategorie. Im Ergebnis „erlauben es die Verortungen der Photographien, ein größtenteils eindeutiges Bild der Befragten von ‚Stadt‘ zu zeichnen.

Dieses besteht aus einer stark verdichteten Bebauungsstruktur mit belebten öffentlichen Räumen und starkem Verkehr, unterbrochen von gelegentlichen Grünflächen“ (Engler 2014: 222).

Den nächsten Zwischenschritt zur Bestimmung der Stadtaffinität bildete die Erarbeitung des Stadtbezugs der wichtigsten Wohnwunschaspekte. Dazu wurden jene Einzelaspekte herangezogen, die sich aus den Interviews ergeben hatten. Sie wurden getrennt nach den bereits erwähnten Dimensionen des Städtischen betrachtet.

- Bezüglich der baulichen Dichte überwiegen Aspekte, die man als „nicht stadtbezogen“ bezeichnen kann. Dies leuchtet ein, denn „dem Wunsch nach einem grünen, sicheren, ruhigen und naturnahen Wohnen werden auch Befürworter städtischer Strukturen kaum grundsätzlich widersprechen“ (Engler 2014: 229).

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

69

Stadtforschung

-

-

-

-

Einzelaspekte mit Bezug zur Bedeutung des öffentlichen Raumes sind überwiegend stadtbezogen, etwa sehr direkt der Wunsch nach belebten und vielfältigen Räumen in direkter Nähe oder auch eine Offenheit gegenüber dem Kontakt mit Fremden.

Bei der sozialen Dimension städtischer Strukturen entscheidet sich der Stadtbezug „vor allem an der Frage der sozialen und ethnischen Mischung“ (Engler 2014: 233).

Es gibt hier kaum Zwischenbereiche, sondern entweder Ablehnung oder expliziter Wunsch dieser Mischung.

Aspekte bezüglich der funktionalen Mischung städtischer Räume sind grundsätzlich eher stadtbezogen. „Dies überrascht insofern wenig, als dass die Nähe zu vielfältigen Infrastrukturen ein Aspekt ist, den kaum jemand negativ bewertet“ (Engler 2014: 235).

Die Beurteilung des Stadtbezugs bei der offenen Atmosphäre als letzter Dimension städtischer Strukturen gestaltete sich aufgrund stark unterschiedlicher Assoziation mit Begriffen wie Toleranz oder Freiheit schwierig. Somit beschränkte sich die Analyse hier weitgehend auf die Einstellung zur Nachbarschaft und zur Gestaltung des direkten Wohnumfeldes. Hier waren stadtbezogene und nicht-stadtbezogene Aspekte in etwa gleich häufig vorzufinden.

Mit diesen Punkten, die in der Dissertation noch detaillierter ausgeführt wurden (Engler 2014: 225 ff.), liegt ein ausführlicher Vorschlag vor, der „als Anregung für weitere Forschungen zum Thema Stadtaffinität und Reurbanisierung verstanden werden (soll)“ (Engler 2014: 237/238). Zudem wurde diese Auflistung nun als Grundlage für die Einstufung der Befragten und die Beurteilung ihrer Stadtaffinität eingesetzt. Dazu wurden die von den Befragten im Interview geäußerten Wohnwunschaspekte entsprechend der von den Befragten selbst geäußerten Gewichtungen in eine Rangfolge gebracht. Anschließend wurden sie den fünf Dimensionen städtischer Strukturen zugeordnet und für jede Dimension eine Stufe der Stadtaffinität der oder des betreffenden Befragten gebildet. Wie beschrieben wurde dabei auch das subjektive Verständnis von einzelnen Wohnwunschaspekten berücksichtigt. Beispielsweise spielt es für die Zuordnung des Aspekts „Infrastruktur in erreichbarer Entfernung“ eine Rolle, was der oder die Befragte unter Erreichbarkeit versteht. Fußläufige Nähe würde für städtische Strukturen sprechen, die Erreichbarkeit mit dem Auto ist dagegen raumneutraler oder bezieht sich eher auf ländlichere Gebiete mit wenig Verkehr und viel Parkraum. Aus den Einstufungen in den einzelnen Teilbereichen städtischer Strukturen konnte schließlich eine Gesamtbeurteilung der Stadtaffinität der Befragten vorgenommen werden. Dazu wurden nach der subjektiven Wichtigkeit der einzelnen Dimension städtischer Strukturen für die betreffende Person gewichtet.

Betrachtet man die Einstufung aller Befragten, so lässt sich festhalten, dass die oberste Stufe der Stadtaffinität („sehr stadtaffin“) von niemandem erreicht wurde (Engler 2014: 244). Sechs Interviewte wurden als „eher stadtaffin“ eingestuft, demgegenüber jedoch 13 als „eher nicht-stadtaffin“ und vier als „sehr nicht-stadtaffin“. Mit 12 Personen bildeten die „Unentschiedenen“ ebenfalls eine große Gruppe. Damit „zeigte (sich) insgesamt die Tendenz zu einer negativen Einstellung

70

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

zu städtischen Strukturen“ (Engler 2014: 269). Entscheidende Bedeutung kommt der baulichen Dimension städtischer Strukturen zu, die bei den meisten Befragten die wichtigsten Wohnwunschaspekte beinhaltet und in die gleichzeitig viele Aspekte mit wenig Stadtbezug fallen. Die funktionale Mischung, deren Teilaspekte eher stadtbezogen sind, steht an zweiter Stelle der Wichtigkeit. „Diese Ergebnisse bestätigen die eindeutige Dominanz der baulichen Dichte und der funktionalen Mischung als Eigenschaften und damit auch Beurteilungskriterien von städtischen Strukturen“ (Engler 2014: 245).

Anschließend wurde untersucht, inwieweit die Stadtaffinität der Befragten mit ihren persönlichen Merkmalen in Verbindung stand. Zunächst waren beim Alter und beim Einkommen Zusammenhänge erkennbar. Aus Sicht der Reurbanisierungsforschung interessant ist beispielsweise eine höhere Stadtaffinität der Befragten über 56 Jahre. Noch eindeutiger waren die Erkenntnisse bezüglich der Lebenszyklusphase, nämlich „eine deutliche Stadtaffinität der Postadoleszenten, eine stärkere Hinwendung zu städtischen Strukturen bei Alleinlebenden sowie eine geringe Stadtaffinität von Familien insbesondere mit kleinen Kindern“ (Engler 2014: 269). Während beim Lebensstil wenige Zusammenhänge sichtbar wurden, zeigte sich der derzeitige Wohnstandort als einflussreich: „Je weniger städtisch sich ihre derzeitige Wohnsituation darstellt, desto weniger stadtaffin sind die Befragten“ (Engler 2014: 270).

6

Einflussfaktoren auf die Bildung von Wohnwünschen

Neben der Beschreibung und Differenzierung des Wohnwunsches und der Stadtaffinität der Befragten lag ein Hauptanliegen der Dissertation darin herauszufinden, welche Hintergründe die Bildung von Wohnwünschen beeinflussen. Dazu wurden Interviewpassagen, in denen die Befragten ihre Wohnwünsche begründeten, auf die Bedeutung der Wohnbiographie, des Lebensstils, des Lebenszyklus‘ sowie der derzeitigen Wohn- und Lebenssituation untersucht. Die Wohnbiographie beeinflusst den Wohnwunsch demnach vor allem durch negative Erfahrungen an früheren Wohnstandorten, insbesondere bezüglich des dortigen sozialen Umfeldes und Eigenschaften der direkten Umgebung. Auch Kindheitserinnerungen wirken sich – allerdings in der Regel positiv – auf den heutigen Wohnwunsch aus. Insgesamt jedoch wurde die Wohnbiographie nicht sehr häufig zur Begründung von Wohnwünschen herangezogen, wobei es durchaus denkbar erscheint, dass eine vertiefende (beispielsweise psychologische) Analyse hier mehr Zusammenhänge zu Tage fördern würde.

Deutlich stärker erscheint dagegen die Wirkung des Lebensstils, denn „rund ein Drittel aller Begründungen der Befragten stand mit ihrem Lebensstil in Zusammenhang“ (Engler 2014: 298). Hauptsächlich ging es dabei um das Verhältnis zu den Nachbarn, die Identifikation mit bestimmten Raumnutzungsmustern und die Abgrenzung von anderen Bevölkerungsgruppen. Ebenfalls bedeutsam für die Ausbildung von Wohnwünschen ist der Lebenszyklus. Vor allem das Vorhandensein von Kindern wurde immer wieder zur Begründung von Wünschen herangezogen – selbst bei Personen, die noch keine eigenen Kinder hatten und auf zukünftige Wohnsituationen abzielten.

Stadtforschung

Die derzeitige Wohn- und Lebenssituation wurde hingegen „nur in Einzelfällen zur Begründung des Wohnwunsches angeführt“ (Engler 2014: 299).

7

Zusammenfassung und weitere Forschungsbedarfe

Mit der Dissertation wurde das Ziel verfolgt, Wohnwünsche als zentralen Bestandteil für die Analyse von Reurbanisierungsprozessen zu etablieren und erste Grundlagen für ihre Erforschung und Bewertung zu legen. Die zentralen Erkenntnisse sind im vorliegenden Text dargestellt. Dazu gehört auch die detaillierte Vorstellung der methodischen Vorgehensweise.

Die Methode, die die theoretisch abgeleiteten Anforderungen am besten erfüllte, nämlich die Durchführung von Tiefeninterviews mit zufällig ausgewählten Bewohnern und Bewohnerinnen aus der Stadtregion Hamburg, ermöglichte das Auffinden neuer Aspekte und die besondere Berücksichtigung subjektiver Gewichtungen und Begründungen. Gleichzeitig führte die geringe Zahl an Befragten dazu, dass die meisten Erkenntnisse aus diesen Interviews nicht direkt verallgemeinerbar sind, sondern vielmehr Hinweise auf Zusammenhänge geben, denen mit weiterer Forschung nachgegangen werden muss und sollte.

Betrachtet man die Ergebnisse, so zeigt sich erstens, dass die Wohnwünsche überwiegend aus Aspekten in den Bereichen Wohnumgebung, Freiräume am Haus, Geschäfte, Erreichbarkeit und Wohnform bestehen. Es ist also davon auszugehen, dass für die weitere Erforschung von Wohnwünschen eine Reduzierung auf diese Bereiche ausreicht. Die für die Befragten wichtigsten Einzelaspekte waren erstens eine gute Ausstattung des Wohnumfeldes mit Geschäften, Natur-/Grünflächen und öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Freizeitinfrastruktur in der Nähe, zweitens die Wohnumfeldqualitäten Ruhe, Grün und nachbarschaftliche Kontakte sowie drittens die Wohnform Einfamilienhaus mit Garten.

Mit der Ableitung von insgesamt fünf Wohnwunschgruppen wurde ebenfalls versucht, durch die Reduzierung von Information und Komplexität die weitere Forschung zu erleich-

tern. Vor allem Differenzierungen nach sozialen und anderen Indikatoren wären dabei anschlussfähig. Auf die Frage nach deren Zusammenhang mit den Wohnwünschen der Befragten konnten an dieser Stelle nur wenig belastbare Erkenntnisse gewonnen werden. Für die drei Gruppen der Postadoleszenten, der „Best Ager“ und der Familien, denen in der Debatte um Reurbanisierung eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wird, bestätigten sich die wesentlichen Erkenntnisse bezüglich ihrer Wohnwünsche.

Den zentralen Beitrag zum Zusammenhang zwischen Wohnwünschen und Reurbanisierung lieferte die Analyse der Stadtaffinität der Befragten. Die einzelnen Aspekte des Wohnwunsches wurden auf ihren Stadtbezug geprüft, und auf dieser Grundlage wurden die Befragten in Verknüpfung mit ihrer subjektiven Sichtweise auf städtische Strukturen einer Stufe der Stadtaffinität zugeordnet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Befragten mit städtischen Räumen vor allem Aspekte verbanden, aus denen sich auch in der einschlägigen Literatur das Bild von Stadt zusammensetzt.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Befragten eher über eine geringe Stadtaffinität verfügten. Gleichzeitig wurde vor allem der Lebenszyklusphase und dem derzeitigen Wohnort ein eindeutiger Zusammenhang mit der Ausbildung der Stadtaffinität nachgewiesen. Diese Befunde laden zu weiteren Forschungen mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen auch in anderen Stadtregionen ein.

Im letzten Teil der Arbeit wurde untersucht, welcher Art die Begründungen waren, die die Befragten für einzelne Aspekte ihres Wohnwunsches angaben. Dabei zeigte sich ein hoher Einfluss des Lebenszyklus‘ – und dabei insbesondere des Vorhandenseins von Kindern – sowie des Lebensstils, während die Wohnbiographie und die derzeitige Wohn- und Lebenssituation weniger häufig zur Begründung herangezogen wurden.

Hier bestehen zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für künftige, vertiefende Forschung, die dringend geboten wäre. Denn dies stellt einen zentralen Punkt für die weitere Debatte um Reurbanisierung dar, da erst die Kenntnis der Einflüsse auf die Bildung von Wohnwünschen das Verständnis ablaufender Prozesse der Stadtentwicklung erhöhen und damit auch die Möglichkeit liefern würde, diese zu steuern und zu gestalten.

Literatur Brake, Klaus; Herfert, Günter (Hrsg.)(2012): Reurbanisierung – Materialität und Diskurs in Deutschland. Wiesbaden.

Dittrich-Wesbuer, Andrea; Osterhage, Frank (2008): Wohnstandortwahl jenseits administrativer Grenzen – Wanderungsentscheidungen von Familien mit Kindern im Bergischen Land. In: Schmitt, Gisela; Selle, Klaus (Hrsg.): Bestand? Perspektiven für das Wohnen in der Stadt. Dortmund, S. 135–152.

Engler, Philip (2013): Reurbanisierung als wissenschaftliches Konzept – Plädoyer für eine Konzeptionalisierung als Bedeutungszunahme des Städtischen. In: disP, 49, 2, S. 14–27.

Engler, Philip (2014): Reurbanisierung und Wohnwünsche – Die Bedeutung städtischer Strukturen für die Bevölkerung in der Stadtregion Hamburg. Münster.

Harper, Douglas (2007): Fotografien als sozialwissenschaftliche Daten. In: Flick, Uwe; Kardorff,

Ernst von; Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung – Ein Handbuch. Reinbek, S. 402–416.

Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter (2000): Soziologie des Wohnens – Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens.

Weinheim.

Holtmann, Everhard; Schaefer, Rainer (1996): Wohnen und Wohnungspolitik in der Großstadt – Eine empirische Untersuchung über Wohnformen, Wohnwünsche und kommunalpolitische Steuerung in Nürnberg. Opladen.

Jessen, Johann; Siedentop, Stefan (2010): Reurbanisierung zwischen Wunsch und Wirklichkeit. disP, 46, 1, S. 16–23.

Keller, Carsten; Ruhne, Renate (2011): Einleitung.

In: Herrmann, Heike; Keller, Carsten; Neef, Rainer; Ruhne, Renate (Hrsg.): Die Besonderheit des Städtischen - Entwicklungslinien der Stadt(soziologie). Wiesbaden, S. 7–30.

Scheiner, Joachim (2006): Wohnen und Aktionsraum: Welche Rolle spielen Lebensstil, Lebenslage und Raumstruktur? Geographische Zeitschrift, 94, 1, S. 43–62.

Scheiner, Joachim (2009): Sozialer Wandel, Raum und Mobilität – Empirische Untersuchungen zur Subjektivierung der Verkehrsnachfrage.

Wiesbaden.

Weichhart, Peter (1989): Wohnwünsche, Wohnbedürfnisse und Wohnqualität – Überlegungen zu einer nutzerorientierten Konzeption.

In: Archiv der Stadt Salzburg (Hrsg.): Wohnen in Salzburg – Geschichte und Perspektiven.

Salzburg, S. 109–119.

Wiest, Karin (2007): Raumbezogene Vorstellungsbilder am Beispiel Leipziger Wohnquartiere – ein Annäherungsversuch auf der Grundlage einer visuellen Methodik. In: Social Geography Discussions, 3, S. 183–210.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

71

Statistik & Informationsmanagement

Günther Bachmann

Studierende in der Wissenschaftsstadt Darmstadt

Zum ersten Mal seit der Gründung von Hochschulen in Darmstadt ist die Zahl der Studierenden in der Wissenschaftsstadt Darmstadt auf über 40.000 Personen gestiegen. Für die deutliche Erhöhung der Studierendenzahlen lassen sich grundsätzlich zwei Faktoren benennen: zum einen handelt es sich um einmalige Ereignisse, wie z. B. die Abschaffung der Wehrpflicht, die doppelten Abiturjahrgänge durch G8 und G9, zum anderen sind längerfristige Trends wie geburtenstarke Jahrgänge, eine erhöhte Gymnasialquote bei Schülerinnen und Schülern u. a. die Ursache für die aktuell höhere Zahl der Studierenden. Die Attraktivität der Wissenschaftsstadt Darmstadt als Beispiel für den Stadttypus der „Schwarmstädte“ zeigt sich einerseits in einem ständigen Zustrom junger Menschen in die Stadt, sowohl für das Studium oder für den ersten festen Arbeitsplatz, und andererseits in einem steigenden Druck auf die Situation auf dem Wohnungsmarkt.

Günther Bachmann M. A., Abteilungsleiter im Amt für Wirtschaft und Stadtentwicklung, Abteilung Statistik und Stadtforschung der Wissenschaftsstadt Darmstadt. : guenther.bachmann@darmstadt.de Schlüsselwörter: Studierende – Schwarmstadt – Darmstadt – Wohnungsmarkt – Demografie

72

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

„In der Folge leeren sich ländliche Regionen und kleine Städte, während größere Städte wachsen, sofern sie eine Universität, prosperierende Unternehmen, ein reiches Kulturleben, attraktive Wohnviertel und eine landschaftlich reizvolle Umgebung bieten.“ MATHIAS ALEXANDER ZUM BEGRIFF DER „SCHWARMSTADT“1

1

Einleitung

Für die Perspektive der demografischen Entwicklung deutscher Großstädte ist die Altersstruktur der Bevölkerung von großer Bedeutung. Nicht nur die Zahl der Kinder und Jugendlichen spielen für die Städte eine Rolle, da hier entsprechende infrastrukturelle Einrichtungen (Kindertagesstätten, Schulen etc.) vorgehalten werden müssen, auch die Entwicklung der Zahl der jungen Erwachsenen hat erhebliche Auswirkungen auf viele Aspekte der städtischen Infrastruktur, insbesondere bei Universitätsstädten.

Das aktuelle deutliche „Wanderungsplus“ in der Gruppe der 18- bis 30-jährigen Einwohner in die Großstädte ist zum einen durch die Besetzungsstärke der Bildungs-, Ausbildungs- und Berufseinsteigerjahrgänge2 verursacht, zum anderen durch die G9/G8-Schulreform und die gleichzeitige Aufhebung der Wehrpflicht. Die Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (Berlin) hat diese interessante Entwicklung für die Immobilienwirtschaft festgestellt, die sich im Begriff der „Schwarmstadt“ manifestiert: „Im Unterschied zu früheren Jahrzehnten kann darüber hinaus ein weiteres Phänomen im Zusammenhang mit der Binnenwanderung beobachtet werden: die 20- bis 35-Jährigen konzentrieren sich heute weit stärker räumlich auf bestimmte Städte als in früheren Jahren. … So lag der Anteil der 20- bis 35-Jährigen im Jahr 2000 nur in vier Städten mehr als 30 Prozent über dem Bundesdurchschnitt (Münster, Würzburg, Heidelberg und Freiburg). Im Jahr 2011 dagegen traf dies bereits auf 18 Städte zu (Karlsruhe, Erlangen, Bayreuth, Regensburg, Darmstadt, Leipzig, Flensburg, Rostock, München, Kiel, Dresden, Freiburg, Münster, Mainz, Trier, Jena, Heidelberg und Würzburg)“.3 Auffällig sei laut Studie – mit Ausnahme von München – der hohe Anteil an mittelgroßen Großstädten mit Universitätsstandorten und hohem Dienstleistungsanteil an der lokalen Wirtschaftsstruktur. Aus Sicht einer nachhaltig orientierten Stadtentwicklung ist zu hinterfragen, ob der Anstieg der Bevölkerungsgruppe der jungen Erwachsenen ein „kurzfristiges“,

Statistik & Informationsmanagement

Grafik 1

Tabelle 1

gar einmaliges Phänomen ist oder ob sich hinter den erhöhten Zahlen, insbesondere von Studierenden, gravierende Veränderungen im Bildungsverhalten junger Menschen verbergen.

Von besonderem Interesse ist, wie sich die erhöhte Zahl der Studierenden auf die demografische Entwicklung der Stadt insgesamt auswirken wird. Gelingt es, einen größeren Teil der jungen, gut ausgebildeten Studierenden in der Stadt zu halten, wird dies die demografische Entwicklung einer Stadt anders beeinflussen als der verstärkte Wegzug dieser Gruppe aus der Stadt nach abgeschlossenem Studium. Ein Teil dieser angesprochenen Binnenwanderung wird durch die Zahl der Studierenden ausgelöst; am Beispiel Darmstadts sollen deshalb die aktuellen Trends der Entwicklung der Studierendenzahlen einer genaueren Analyse unterzogen werden (siehe Grafik 1).

zudem wurde damit ein wichtiger Strukturwandel mit mehr Autonomie und Selbstbestimmung eingeleitet.

Zum ersten Mal seit der Gründung von Hochschulen in Darmstadt ist die Zahl der Studierenden in der Wissenschaftsstadt Darmstadt auf über 40.000 Personen gestiegen. Für die deutliche Erhöhung der Studierendenzahlen lassen sich grundsätzlich zwei Faktoren benennen: zum einen handelt es sich um einmalige Ereignisse, wie z. B. die Abschaffung der Wehrpflicht, die doppelten Abiturjahrgänge durch G8 und G9, zum anderen sind längerfristige Trends wie geburtenstarke Jahrgänge, eine erhöhte Gymnasialquote bei Schülerinnen und Schülern u. a. die Ursache für die aktuell höhere Zahl der Studierenden in der Bundesrepublik. Laut Bildungsbericht 2014 hat sich die Zahl der Personen, die die Hochschulen in Deutschland mit einem Bildungsabschluss verlassen, seit dem Jahr 2002 verdoppelt.4

2

Studierende an Darmstadts Universität und Hochschulen

2.1 Studierende an der Technischen Universität Bei einer Betrachtung längerer Zeiträume sind bei der Entwicklung der Technischen Hochschule Darmstadt zur Technischen Universität deutliche Veränderungen festzustellen.

Dies betrifft die Anzahl der Studierenden, die Entwicklung der einzelnen Fachbereiche, das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Studierenden sowie die Anzahl der ausländischen Studierenden. Ende der 1990er Jahre wurde die Technische Hochschule Darmstadt in Technische Universität umbenannt;

Bei der TU Darmstadt lässt sich folgende Entwicklung aufzeigen: In der Zeit vom Wintersemester 1990/91 mit circa 18.000 Studierenden bis zum Wintersemester 2003/04 entwickelte sich die TU Darmstadt zu einer Universität mit über 21.000 Studentinnen und Studenten. Hier konnte ein Rekord an Erstsemestern verzeichnet werden. Die TU Darmstadt führte dies unter anderem auf die große Akzeptanz der neuen gestuften Studienangebote von Bachelor bzw. Masterstudiengängen zurück. Im Wintersemester darauf brach die Zahl der Studierenden bundesweit und auch an der TU Darmstadt um circa 10 % ein. Bei der TU Darmstadt bedeutete dies wieder einen Rückgang auf circa 18.000 Studierende. Dabei ist interessant, dass die Anzahl der ausländischen Studierenden nahezu gleich geblieben war. So verlor die TU Darmstadt über 3.000 Studierende mit deutscher Staatsbürgerschaft (siehe Tabelle 1).

Diese Entwicklung lässt sich unter anderem mit der Einführung des Studienguthabengesetzes erklären, nachdem Langzeitstudierende und Zweitstudierende, die nach einem bereits erfolgreich abgelegten Erststudium ein weiteres Studium absolvieren wollen, seit dem Sommersemester 2004 Studiengebühren entrichten mussten. In den folgenden 3 Jahren blieb die Zahl der Studierenden nahezu konstant. Seit dem Wintersemester 2008/09 stiegen die Studierendenzahlen wieder kontinuierlich an und überschritten im Wintersemester 2011/12 erstmals die 25.000-Marke, seitdem stabilisieren sie sich in dieser Größenordnung.

Lag der Anteil der Frauen unter den Studierenden im Wintersemester 1990/91 bei circa 18 %, so konnte sich in den letzten 8 Jahren ein Anteil von knapp 30 % stabilisieren. In den letzten 3 Wintersemestern waren über 7.000 Studentinnen an der TU Darmstadt eingeschrieben. Dennoch bleibt festzuhalten, dass an der TU Darmstadt immer noch ein deutlich höherer Anteil der Studierenden männlichen Geschlechts (71,5 %) ist und damit deutlich über dem hessischen Schnitt an Hochschulen mit 53,4 %. Auch der Anteil der ausländischen Studierenden hat sich verändert: an der „alten“ TH stellten sie mit etwas über 1.000 Personen im Wintersemester 1990/91 einen Anteil von 8,3 %; dieser ist jedoch stetig gestiegen und erreichte seinen Höhepunkt im Wintersemester 2005/06 mit 22,6 % und liegt im

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

73

Statistik & Informationsmanagement

Wintersemester 2013/14 bei 17,3 %. Auffällig ist, dass zwar der Prozentanteil der ausländischen Studierenden 2013/14 unter dem von 2005/06 liegt, die Zahl an ausländischen Studierenden ist mit 4.353 Personen höher als in den Vorjahren. Erklären lässt sich dieses Phänomen mit der deutlich angewachsenen Zahl der deutschen Studierenden (siehe Grafik 2).

Für einen längeren Zeitraum stellten die Studierenden aus europäischen Heimatländern (ohne Deutschland) die höchsten Anteile an allen ausländischen Studierenden – so lag deren Zahl von 2005/06 bei 1.700 Personen, um bis 2013/14 auf 1.942 Personen anzuwachsen. Jedoch ist die Zahl der ausländischen Studierenden aus Asien von 1.425 Personen in 2005/06 auf mittlerweile 1.983 Personen angewachsen und hat damit die Zahl der „Europäer“ erstmals leicht übertroffen. Konsequent am Sinken ist die Zahl der Studierenden aus Afrika: lag deren Zahl in 2005/06 noch bei 706 Personen, sind dies im Wintersemester 2013/14 nur noch 441 Personen.

Neben den Entwicklungen der Studierendenzahlen an der TU Darmstadt im Zeitverlauf ist von Interesse, wie sich die jeweiligen Fachbereiche entwickelt haben. Bereits in einer früheren Analyse der Statistische Berichte (Heft 2 von 2005)5 wurde auf die Veränderung der Fachbereiche und Studienfächer an der TU Darmstadt eingegangen (siehe Grafik 3).

Grafik 2

Grafik 3

Für lange Zeit war im letzten Jahrhundert der Maschinenbau der Fachbereich mit den meisten Studierenden an der TU Darmstadt. Nach einer Phase des Rückgangs am Ende des letzten Jahrhunderts stellt der Fachbereich Maschinenbau mittlerweile mit 3.328 Personen wieder den stärksten Fachbereich nach der Zahl der Studierenden.

Auffällig ist der Anstieg der Studierendenzahlen im Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften zwischen 2008/09 und 2010/11. Dieser liegt mit den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften im Wintersemester 2013/14 mit etwa 3.000 Studierenden an zweiter und dritter Stelle an der TU Darmstadt. Neben den eher technisch orientierten Fachbereichen der „alten“ Technischen Hochschule, abgesehen von einigen profilierten Persönlichkeiten wie z. B. Eugen Kogon und anderen, haben sich die gesellschaftswissenschaftlichen Bereiche an der TU Darmstadt mittlerweile als weiteres wichtiges Standbein der Forschung und Lehre an der TU entwickelt.

Einen rasanten Aufschwung haben die Bereiche Bau- und Umweltingenieurwissenschaften sowie Informatik an der TU Darmstadt genommen. Im Fachbereich Informatik hat sich die Zahl der Studierenden von 1.601 in 2008/09 auf über 2.700 Studierende in 2013/14 erhöht. Im Bereich Bau- und Umweltingenieurwissenschaften hat sich die Studierendenzahl in diesem Zeitraum sogar verdoppelt. Zwar sind einige Fachbereiche der TU Darmstadt auch weiterhin eher männlich „dominiert“, wozu insbesondere die Bereiche Maschinenbau, Informatik, Elektro- und Informationstechnik oder auch Bauund Umweltingenieurwissenschaften zählen, in den Bereichen Architektur, Humanwissenschaften und Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften gibt es jedoch mehr Studentinnen als Studenten. Dies geht mit der oben dargestellten Erweiterung des Fachbereichsangebotes der TU Darmstadt einher.

74

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

2.2 Studierende an der Hochschule Darmstadt Die Hochschule Darmstadt – University of Applied Sciences – ist von der Zahl der Studierenden eine der größten Hochschulen Hessens, die Umbenennung von der Fachhochschule Darmstadt in die h_da erfolgte im März 2006. Die Gesamtzahl der Studierenden an dieser Hochschule liegt im Wintersemester 2013/14 bei 13.730 Personen. Lag die Zahl der Studierenden im Wintersemester 1990/1991 bei 9.312, erreichte sie 2003/2004 einen vorläufigen Höchststand von 11.040 Studierenden und fiel in den Folgejahren leicht ab, auf knapp unter 10.000 Studierende in 2007/08. Hier führte die Einführung der Studiengebühren zu einer ähnlichen Entwicklung, dem Rückgang der Studierendenzahlen, wie bei der TU Darmstadt.

Seit 2007/08 ist die Studierendenzahl von Jahr zu Jahr wieder gestiegen (siehe Grafik 4).

Der Frauenanteil stieg seit Anfang der neunziger Jahre mit 23,2 % (2.160 Studentinnen) auf knapp 33 % in 2002/03 und ist seitdem stabil um diesen Wert. Im Wintersemester 2013/14 sind das circa 4.500 Studentinnen. Anfang der neunziger Jahre betrug der Anteil der ausländischen Studentinnen und Studenten noch 6,6 %. Bis zum Wintersemester 2013/14 stieg ihr Anteil auf knapp 20 % mit 2.647 Personen. Damit hat jeder fünfte Studierende an der h_da eine ausländische Staatsangehörigkeit.

Statistik & Informationsmanagement

Bei der Betrachtung der Grafik zu den einzelnen Fachbereichen wird ein leichter Rückgang der Studierenden im Wintersemester 2007/08 durchgängig sichtbar. Von diesem Zeitpunkt an steigerten sich die Studierendenzahlen bei fast allen Fachbereichen deutlich. Besonderen Zuwachs bis zum Wintersemester 2013/14 bekamen die Fachbereiche Bauingenieurwesen und Informatik mit fast 70 % mehr Studierenden im Vergleich zu 2007/08. Die Zahl der Studierenden im Fachbereich Wirtschaft erhöhte sich in dieser Zeitspanne um knapp 55 %. Einen ähnlichen Anstieg konnte auch der Fachbereich Maschinenbau und Kunststofftechnik verbuchen. Der Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik ist seit 10 Jahren der Grafik 4

am stärksten belegte Fachbereich. Allein in den letzten beiden Jahren konnten hier knapp 400 Studierende zusätzlich gewonnen werden und damit studieren nun fast 2.000 Studentinnen und Studenten im Wintersemester 2013/14 dieses Fach. Darunter haben circa 400 Personen den Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen belegt. Elektrotechnik und Informationstechnik wird hauptsächlich von männlichen Studenten frequentiert; ihr Anteil beträgt 87,9 % (siehe Grafik 5).

Die beiden Fachbereiche Wirtschaft und Media haben sich analog entwickelt. Mit über 1.500 bzw. 1.400 Studentinnen und Studenten sind sie an Position vier und fünf der h_da. Sie konnten in den letzten zwei Jahren noch einmal deutlich zulegen. Bei beiden ist der Frauenanteil mit um die 40 % deutlich höher als in den mehr technisch ausgerichteten Studienfächern. Der Fachbereich Media hat in den letzten Jahren sein Angebot erheblich ausgebaut und sich damit den Anforderungen an die modernen Kommunikationsmedien der heutigen Zeit angepasst. Studienfächer wie Animation and Game, Motion Pictures und Sound and Music Production sind aktuelle Beispiele dafür. Die drei kleineren Fachbereiche Mathematik und Naturwissenschaften, Chemie und Biotechnologie sowie Gestaltung haben über die letzten Jahre gesehen eine recht stabile Anzahl an Studierenden. Diese Fächer werden von Frauen und Männern gleichermaßen besucht.

Den höchsten Frauenanteil um die 70 % haben die beiden Fachbereiche Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit sowie Architektur. Beides sind Studienfächer, die traditionell stärker von Studentinnen belegt werden. Insgesamt liegt der Frauenanteil bei der h_da mit 32,9 % etwas höher als bei der TU Darmstadt. Interessant ist jedoch, dass die drei größten Fachbereiche der h_da die geringsten Frauenanteile mit Werten zwischen 8,6 % und 17,0 % haben.

Grafik 5

2.3 Studierende an der Evangelischen Hochschule Darmstadt Darmstadts Evangelische Hochschule ist eine staatlich anerkannte nichtstaatliche Hochschule in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, die 1971 als Fachhochschule gegründet wurde und 2011 in Hochschule umbenannt wurde. Im Wintersemester 1990/1991 immatrikulierten sich 631 Studierende, in 2013/14 sind es bereits 1.742, darunter 1.337 Frauen. Dies entspricht einem Anteil von etwas mehr als drei Viertel an allen Studierenden. In den Wintersemestern 2002/03 bis 2006/07 lag die Zahl der Studierenden stabil bei circa 1.250 Personen. Im darauffolgenden Wintersemester machte sich die Einführung der Studiengebühren an dieser Hochschule nur leicht bemerkbar. Seit dem Wintersemester 2008/09 steigen die Studierendenzahlen konstant an und erreichen in 2013/14 einen bisherigen Höchststand mit über 1.700 Studentinnen und Studenten. Der Anteil der ausländischen Studierenden beträgt im Wintersemester 2013/14 3,0 % und ist damit deutlich niedriger als an den beiden anderen Darmstädter Hochschulen. Seit dem Höchststand im Wintersemester 2005/06 mit 6,6 % ist dieser konstant gefallen. Der niedrigere Prozentwert ist auch durch das enorme Wachstum der insbesondere deutschen Studierendenzahlen an der Evangelischen Hochschule entstanden (siehe Grafik 6).

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

75

Statistik & Informationsmanagement

Der Fachbereich Soziale Arbeit ist der dominante Fachbereich an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Er wird von der Hälfte der Studentinnen und Studenten der gesamten Hochschule besucht, dreiviertel davon sind Frauen. Bis zum Wintersemester 2002/03 wurde er unter dem Begriff Sozialarbeit und Sozialpädagogik geführt. Seit Anfang des Jahrtausends bis zum Wintersemester 2010/11 bewegt sich die Zahl der Studierenden stabil um circa 750 Personen; in den letzten beiden Jahren hat sie um gut 10 % zugenommen und verzeichnet im Wintersemester 2013/14 knapp 900 Studierende. Der Anteil der ausländischen Studentinnen und Studenten ist hier sehr gering mit 1,3 %.

Im Wintersemester 2008/09 wurde erstmals der Studiengang Bildung und Erziehung in der Kindheit angeboten. Er hat sich schnell zum zweitstärksten Studiengang mit über 300 Studierenden entwickelt. Ebenfalls relativ neu ist der Studiengang Integrative Heilpädagogik, der 2002/03 mit 41 Studierenden startete und seit 2007/08 konstant bei 200 Personen liegt.

Mit dem Fachbereich Pflege- und Gesundheitswissenschaften hat die Evangelische Hochschule einen Fachbereich, der angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland immer bedeutsamer wird. Auch hier studieren konstant circa 200 Personen (siehe Grafik 7).

Grafik 6

Grafik 7

Die drei Aufbau- und Kontaktstudiengänge Masterstudiengang Management (seit 2000/01), Masterstudiengang Psychosoziale Beratung (seit 2006/07) sowie der Zusatzstudiengang Religionspädagogik (seit 2003/04) haben relative geringe Studierendenzahlen. Jeder Studiengang wurde in den letzten Jahren von circa 50 Personen besucht. Der Anteil der männlichen Studierenden ist im Masterstudiengang Management im Verhältnis zu allen anderen Studiengängen mit knapp 40 % am höchsten.

An der Fachbereichsentwicklung der Evangelischen Hochschule wird deutlich, wie wichtig es für moderne Hochschulen ist, attraktive und zeitgemäße Angebote aufzubauen, um auch für die Studierenden eine hohe Anziehungskraft zu erreichen.

3

Zur Wohn- und Lebenssituation von Studierenden heute

Mit der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes liegt für 2012 eine umfassende Analyse zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Studierenden in Deutschland vor6. Für Darmstadt wurde ferner die Sonderauswertung 2012 des Studierendenwerks Darmstadt7 veröffentlicht, die nochmals die besondere Darmstädter Situation wiedergibt. Die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes ist für die Hochschulen, die Studentenwerke selbst, aber auch für Kommunen und Bundesländer, nicht zuletzt auch für die Bundesregierung eine unverzichtbare Datengrundlage zur Bewertung des Standes und künftig erforderlicher Entwicklungen im Hochschulwesen. Die zukünftige 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) soll im Sommersemester 2016 als Online-Befragung mit einer bisher nicht dagewesenen großen Stichprobe durchgeführt werden. Die Umstellung,

76

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Ausweitung und Differenzierung der Sozialerhebung bedarf einer weitaus umfangreicheren und detaillierteren Vorbereitung als in der Vergangenheit. Als Datengrundlage für die 20. Sozialerhebung und die Darmstädter Sonderauswertung werden 458 ausgewertete Fragebögen angegeben, darunter sind 273 Fragebögen von Studierenden der TU Darmstadt, 174 von der Hochschule Darmstadt und 11 der Evangelischen Hochschule Darmstadt.

Insgesamt wurden in Hessen im Rahmen der Erhebung8 5.632 Studierende angefragt, der Rücklauf an Fragebögen betrug 24,5 %, etwas niedriger als der bundesdeutsche Rücklauf mit 28,0 % bei 45.844 Befragten. Laut Untersuchung ist bei den Studienmerkmalen auffällig, dass 39,2 % der in Darmstadt Studierenden in der Fächergruppe Ingenieurswissenschaften zu finden ist, deren Zahl somit deutlich über dem hessischen und bundesdeutschen Schnitt liegt. Ferner sind die Naturwissenschaften und die Mathematik bei den Studienmerkmalen Darmstädter Studierender ebenfalls stärker als im hessischen oder Bundesschnitt vertreten. Über dem hessischen oder

Statistik & Informationsmanagement

Bundes-Durchschnitt liegt auch der Wunsch, das Studium mit dem Abschluss Bachelor, Master oder mit der Promotion (TU Darmstadt) abzuschließen.

Im Zeitplan der Studierenden ist der Besuch von Lehrveranstaltungen sowie studienbezogener Aufwand mit 33,1 Stunden pro Woche veranschlagt, dazu kommen durchschnittlich weitere 9,1 Stunden pro Woche für die Finanzierung des Studiums bei Tätigkeiten gegen Bezahlung. Bei den den Studierenden zur Verfügung stehenden Finanzen – die Einnahmenseite – liegen die Darmstädter Studierenden im Durchschnitt über den hessischen und bundesdeutschen Werten, für Frauen liegen diese bei 854,10 Euro im Monat, bei den Studenten bei 906,90 Euro im Monat.

Die Untersuchung gibt differenzierte Werte für die Ausgabenseite der Darmstädter Studierenden an: dabei ist auffällig, dass sich die Ausgaben für die Warmmiete im Durchschnitt von 315,90 Euro pro Monat im Jahr 2009 auf 324,80 Euro pro Monat in 2012, somit um rund 3 % gesteigert haben. Immerhin drei von vier Studierenden (72,7 %) halten ihre finanzielle Situation für die Zeit des Studiums als sicher, nur knapp jeder Vierte bekommt Förderung durch das BAfÖG. Rund zwei Drittel der Studierenden sind darauf angewiesen, während der vorlesungsfreien Zeit Geld in einem Job zu verdienen, um sich das Studium bzw. den Lebensunterhalt leisten zu können.

Auffällig ist die durch die Befragung feststellbare angespannte Wohnsituation der Studierenden in Darmstadt: immerhin rund jeder Dritte wohnt bei Eltern oder Verwandten, jedoch nur 7 % sind mit dieser Wohnsituation zufrieden. Dies verweist – zumindest für das Jahr 2012 – auf die angespannte Situation auf den Darmstädter Wohnungsmarkt, die sich mittlerweile nicht verbessert haben dürfte.

4

Ausblick – die Bedeutung der Studierenden für die weitere Entwicklung der Wissenschaftsstadt Darmstadt

Im bundesweiten Hochschulbereich vollzieht sich gegenwärtig eine dynamische Veränderung, die weit über alle bisher prognostizierten Wachstumsprozesse hinausgeht und für die Hochschulen, die betroffenen Universitätsstädte, aber auch für den regionalen Arbeitsmarkt mit besonderen Herausforderungen verbunden ist. Das deutsche Hochschulsystem unterliegt einem deutlichen Wandel, wie an mehreren Beispielen festgestellt werden konnte: Fachbereiche werden neu geschaffen, andere entfallen, die Zusammensetzung der Studierenden nach Männer und Frauen, deutschen und ausländischen Studierenden verändert sich und die Abschlüsse weisen durch Bachelor und Master neue, für den Arbeitsmarkt wichtige Differenzierungen auf. Die Wandlungsprozesse sind auf verschiedenen Ebenen beobachtbar, im institutionellen Gefüge des Hochschulsystems ebenso wie auf der Ebene der Studienangebote, der Ressourcen, der Bildungsteilnahme und

des individuellen Verhaltens der Studierenden und des beruflichen Verbleibs9. Dieser Wandel ist auch Ergebnis veränderter Anforderungen des Arbeitsmarktes an die Studierenden und ihre Hochschulbildung.

Jedoch betrifft dieser Wandel die Universitätsstädte nicht auf die gleiche Art und Weise, auch die Perspektiven sind durchaus unterschiedlich, wie die Autoren des Bildungsberichtes 2014 feststellen: „Allerdings wird die Entwicklung regional sehr unterschiedlich verlaufen. Hochschulen in demografisch schrumpfenden Regionen sind deshalb besonders gefordert, überregional attraktive Studienangebote zu entwickeln.“10 Für Darmstadt wie die gesamte Region Frankfurt/Rhein-Main sind die demografischen Perspektiven, wie in mehreren Studien festgestellt wurde, außergewöhnlich gut.11 Die Attraktivität der Wissenschaftsstadt Darmstadt als Beispiel für den genannten Stadttypus der „Schwarmstädte“ zeigt sich einerseits in einem ständigen Zustrom junger Menschen in die Stadt, sowohl für das Studium oder für den ersten festen Arbeitsplatz, und andererseits in steigendem Druck auf die Situation auf dem Wohnungsmarkt. So stellen die Autoren der „Schwarmstadt“Studie für die mittelgroßen Großstädte auch fest: „Dies sind gleichzeitig Städte mit stark steigenden Mieten.“12 Nicht jeder in Darmstadt Studierende hat seinen Wohnsitz auch in Darmstadt. Bekanntlich lässt das Melderegister keine Rückschlüsse auf die ausgeübten Berufe der Einwohnerinnen und Einwohner zu. Nachfragen bei den Darmstädter Hochschulen und Kooperations-Erhebungen ergaben, dass circa 30 % der Studentinnen und Studenten eine Postadresse in Darmstadt angeben. Das heißt, dass vermutlich circa 15.000 Studierende in Darmstadt wohnen und damit jeder zehnte Darmstädter an einer Hochschule eingeschrieben ist.

Es ist offensichtlich, dass durch den Zuwachs der Studierenden die Darmstädter Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen neue innovative Impulse erhalten.

Absolventen erhalten bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder gründen selbst Spin-off-Unternehmen in Darmstadt. Die Stadt profitiert vom Zuzug neuer Bürgerinnen und Bürger, die aufgrund ihrer Altersstruktur die demografische Situation verjüngen und vielleicht sogar dauerhaft als Einwohner der Region oder der Stadt zu gewinnen sind. Auch Unternehmen und mittelständische Betriebe können durch die Studierenden schneller von Forschung und Entwicklung profitieren, sie finden leichter qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und können sich gegebenenfalls sogar neue Einnahmequellen durch Kooperation von wissensbasierten mittleren und großen Unternehmen mit den Hochschulen und ihren Studierenden erschließen.

Spannend bleibt, inwieweit auch in Zukunft die angesprochenen Trends der Binnenwanderung in die „Schwarmstädte“ anhalten und wie sich die zahlenmäßige Veränderung der Altersgruppen junger Menschen auf Städte und Universitäten auswirken wird.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

77

Statistik & Informationsmanagement

1 2

3

4 5 6

Siehe den Kommentar zur „Schwarmstadt“ unter http://www.faz. net/aktuell/rhein-main/kommentar-wachstumsschmerzen-derschwarmstadt-13179204.html, abgerufen am 29.09.2014 Siehe dazu ausführlich Hermann Breuer, Generationen analysieren, beobachten und beschreiben – ein Angebot für Stadtforschung, Statistik und für kommunale Planung, in: Statistik und Stadtforschung, Heft 1/2015, Stuttgart 2015, S. 6 Deutsches Institut für Altersvorsorge, Wohnimmobilien zur Altersvorsorge – Worauf muss man achten? Berlin Oktober 2013, Kapitel 3.2.4 Kein „Zurück“ in die Stadt, sondern Trend zu Schwarmstädten – Schwarmverhalten der jungen Erwachsenen Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2014, Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2014, Seite 7 Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt (Hrg.), Statistische Berichte 2/2005, Darmstadt 2006 Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrg.), Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012, 20.

Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung, Berlin 2013

7

Studierendenwerk Darmstadt, Die 20. Sozialerhebung, Sonderauswertung für das Studierendenwerk Darmstadt, Darmstadt o. J. (2014) 8 Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrg.), Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012, 20.

Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung, Berlin 2013, S. 49 ff.

9 Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2014, Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2014, Seite 137 10 Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2014, Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2014, Seite 138 11 Siehe dazu ausführlich den Demografiebericht der Wissenschaftsstadt Darmstadt sowie die dort angegebenen weiteren Quellen und Prognosen zur demografischen Entwicklung der HessenAgentur und des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung: Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Demografiebericht 2012, Darmstadt 2013 12 Deutsches Institut für Altersvorsorge, Wohnimmobilien zur Altersvorsorge – Worauf muss man achten? Berlin Oktober 2013, Kapitel 3.2.4

Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2014, Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2014 Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrg.), Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012, 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung, Berlin 2013 Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrg.), Ausländische Studierende in Deutsch-

78

land 2012, Ergebnisse der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung, Berlin 2013 Deutsches Institut für Altersvorsorge, Wohnimmobilien zur Altersvorsorge – Worauf muss man achten? Berlin Oktober 2013, Kapitel 3.2.4 Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Statistische Berichte 2/2005, Darmstadt 2006 Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Bürgerumfrage 2012, Darmstadt 2014

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Demografiebericht 2012, Darmstadt 2013 Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Datenreport 2013, Darmstadt 2013 Statistisches Bundesamt, Internetseiten zu Studierenden in Deutschland – aktuelle Daten, siehe https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Bildung/lrbil01.html (abgerufen am 5.06.2015)

Statistik & Informationsmanagement Praxis

Andreas Gleich, Benedikt Unger und Michael Fendt

Die KOSIS-App – eine Applikation zur Darstellung kleinräumiger Städtedaten für unterwegs!

Für den mobilen Zugriff auf kleinräumige Statistikdaten wurde vom Amt für Statistik und Stadtforschung der Stadt Augsburg in Zusammenarbeit mit der Hochschule Augsburg eine Webanwendung entwickelt. Neben den grundsätzlichen fachlichen Anforderungen (Lokalisierungsfunktion sowie fachliche, zeitliche und räumliche Auswahlmöglichkeiten) wurde Wert auf die größtmögliche Offenheit des Systems (Datenumfang, Betriebssystem) gelegt. Die Anwendung wurde deshalb den IRB-Daten angepasst und steht nun Nutzern über die KOSIS-Gemeinschaft KOSIS-App als städtisches Kooperationsprojekt zur Verfügung.

Die App ist über einen Browser vom Smartphone oder am PC über www.staedtestatistik.de/Kosisapp.html aufrufbar und kann für Endgeräte mit dem Android-Betriebssystem im Google-PlayStore heruntergeladen werden.

Andreas Gleich Leiter des Amts für Statistik und Stadtforschung, Stadt Augsburg : StatistikApp@Augsburg.de Benedikt Unger Mitarbeiter im Amt für Statistik und Stadtforschung, Stadt Augsburg, Betreuende Stelle KOSIS-App Michael Fendt Mitarbeiter im Amt für Statistik und Stadtforschung, Stadt Augsburg Schlüsselwörter: Statistik-App – KOSIS-Gemeinschaft – Innerstädtische Raumbeobachtung IRB – intra-/interkommunale Städtestatistik

1

Einleitung

Innerstädtische Statistikdaten werden für die unterschiedlichsten Projekte, Fachplanungen und Monitoringsysteme benötigt und können auch für den Vergleich mit anderen Städten von Interesse sein. Dafür stellen die kommunalen Statistikstellen zu zahlreichen Themenkomplexen Daten in unterschiedlicher fachlicher, räumlicher und zeitlicher Untergliederung bereit. In der Regel erfüllen nur diese Statistikdaten die hohen Qualitätskriterien, die für plausible zeitliche und räumliche Vergleiche erforderlich sind, weshalb sie die am häufigsten nachgefragten Zahlen in der Kommunalstatistik sind. Für die Erzeugung und Bereitstellung dieser kleinräumigen Daten sowie der daraus abgeleiteten Grafiken oder thematischen Karten sind die Gemeinden aufgrund der kommunalen Selbstverwaltung eigenverantwortlich zuständig (Ziekow 2013).

Bei der Erstellung und Weiterentwicklung dieser Informationen und der zugehörigen Auskunftssysteme steht für die Kommunalstatistik die Erfüllung des Datenbedarfs aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft sowie der interessierten Öffentlichkeit im Vordergrund. Über Web- und Map-Services werden die Statistiken inzwischen über verschiedenste Systemen auch als Online-Dienste bereitgestellt. Aus Nutzersicht ist es zudem wünschenswert, dass Daten auch städteübergreifend auf möglichst vergleichbaren räumlichen Ebenen zur Verfügung stehen. Bisher konnten aber nur wenige standardisierte, kleinräumige Kommunalstatistikdaten über das Internet abgerufen werden, da die Angebote der Städte sowohl in der Merkmalsvielfalt, als auch in den räumlichen Gliederungsebenen variieren. Dauerhafte, übertragbare oder städteübergreifende Lösungen bedürfen deshalb einer systematischen Harmonisierung der Dateninhalte mit einer Standardisierung und Generalisierung der Prozesse von der Datengewinnung bis zur Präsentation (Gleich & Fendt 2015).

Grundsätzlich bietet sich ein Zugang zu Statistikdaten sowohl über Auswahlkriterien (Thema, Zeit, Gebiet) als auch über die Darstellungsform (Tabelle, Diagramm, Karte) an. Kartographische Darstellungen erleichtern dabei einerseits die Lokalisierung und können anderseits zugleich Informationen darüber liefern, für welchen Bereich welche Daten vorliegen. Online bereitgestellte Daten sollten geräteunabhängig, also sowohl mobil über Smartphone oder Tablet als auch am PC, abgerufen werden können, um Politikern, Planern oder Bürgern bei Beratungen, Ortsterminen oder auch „spontanem Interesse“ jederzeit zur Verfügung zu stehen.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

79

Statistik & Informationsmanagement Praxis

2

Anforderungen und Umsetzung

2.1 Spezielle Anforderungen an eine mobile Anwendung Bei der Bereitstellung kleinräumiger Kommunalstatistikdaten für mobile Endgeräte sollten für alle Sach- und Zeitbezüge folgende Anwendungsfälle mit Raumbezug abgedeckt sein: - Lokalisierung des Nutzers über GPS, Funkzellen oder einen Access Point, - Auswahlmöglichkeit einer Stadt und des Teilgebiets über eine Karte oder Liste sowie - Möglichkeiten zu zeitlichen und räumlichen Vergleichen.

Abbildung 1: Oberfläche der KOSIS-App mit den Auswahlmöglichkeiten

Neben der für mobile Anwendungen besonders interessanten Lokalisierungsfunktion und den grundsätzlichen fachlichen Anforderungen (räumlich, fachliche und zeitliche Auswahlmöglichkeiten) an ein statistisches Auskunftssystem ist die Gewährleistung einer größtmöglichen Offenheit und Flexibilität eine weitere Vorgabe, um das System jederzeit um Daten zusätzlicher Jahre, neuer Themen aber auch anderer Städte erweitern zu können.

2.2 Entwicklung für die Stadt Augsburg Mit einer Beschreibung der Anforderungen reichte das Amt für Statistik und Stadtforschung der Stadt Augsburg im Oktober 2012 das Thema „Erstellung einer App für Smartphones und Tabletts sowie verschiedener Betriebssysteme (Android, Windows Phone und iOS)“ für eine Projektarbeit bei der Fakultät für Informatik der Hochschule Augsburg ein. Der Vorschlag wurde angenommen und unter der Kurzbezeichnung „Statistik Augsburg APP“ (IN6) für das Sommersemester 2013 angeboten. Betreut von Herrn Prof. Dr. Klever nahm sich eine Gruppe von acht Studenten dieser Aufgabe an. Neben den technischen Aspekten, wie der Auswahl der einzusetzenden Technik (Datenbank, Entwicklungsumgebung, Framework, etc.) und der Ausarbeitung und Überprüfung von Use Cases und User Stories waren die fachlichen Anforderungen der Kommunalstatistik umzusetzen. Die Entwicklung eines Prototyps erfolgte deshalb in enger Absprache mit dem Amt für Statistik und Stadtforschung. Das Team stellte am 3. Juli 2013 – dem „Forschungs- und Projekttag Informatik 2013“ der Hochschule Augsburg – das Projekt erstmals öffentlich vor. Bei dem im Jahr der Statistik 2013 ausgeschriebenen Wettbewerb „Statistik-App des Jahres“ belegte die Projektgruppe mit ihrem Ergebnis in der Kategorie „Interaktive Visualisierung und Apps (Nachwuchspreis)“ den 1. Platz. Die Jury hoffte, „… die Projektgruppe mit dem vergebenen Preis bei der Weiterarbeit an dieser vielversprechenden App motivieren und unterstützen zu können“ (s. http://www.statistik2013.de/de/wettbewerbstatistik-app.html).

Nach Projektabschluss wurde das Ergebnis im November 2013 an das Amt für Statistik und Stadtforschung übergeben. Auf dieser Grundlage konnte das Amt die zur fachlichen Freigabe erforderlichen Anpassungen und Verbesserungen der Datenstruktur und Oberfläche einarbeiten. Die resultierende „Statistik-App Augsburg“ mit ihren zwei Hauptkomponenten Datenbank und Oberfläche wurde im Juli 2014 auf der KOSISTagung in Augsburg den zahlreich anwesenden Kommunalstatistikern detailliert vorgestellt (KOSIS 2015a).

80

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

2.3 Anpassungen an die Daten der innerstädtischen Raumbeobachtung Aufgrund des großen Interesses aus anderen Städten wurde die Anwendung um einige Testkommunen erweitert. Nachdem sich aber die Integration (Plausibilisierung, Anpassung, Import, Beschreibung etc.) individueller Städtedaten als zu aufwändig herausgestellt hatte, wurde der Datenzugriff der „Statistik-App Augsburg“ komplett auf die Daten der Innerstädtischen Raumbeobachtung (IRB) des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) umgestellt (s. u.). Dazu wurde ein reduzierter IRB-Datenbestand in eine Datenbank geladen, aus der letztlich über Datenbankabfragen (Views) die Daten für ein Thema zusammengefasst, berechnet und danach weiter auf eine Stadt, ein Teilgebiet und ein Jahr eingeschränkt werden (Stadt Augsburg 2015).

Statistik & Informationsmanagement Praxis

Abbildung 2: Kataloge mit kleinräumigen Daten deutscher Kommunen nach Anzahl der Einzelmerkmale und Anzahl der Daten liefernden Städte (aus Gutfleisch, R. & Sturm, G. 2013)

des Deutschen Städtetags, des Verbandes Deutscher Städtestatistiker, des KOSIS-Verbunds, des Deutschen Instituts für Urbanistik und des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung definiert und gesammelt (BBSR 2007). Ziel des Projekts ist die für eine innerstädtische Raumbeobachtung bereitzustellenden Daten zu definieren und damit den Bedarf nach vergleichbaren städteübergreifenden kleinräumigen Daten zu decken. Auf Basis freiwilliger Kooperationsvereinbarungen stellen die Mitgliedsstädte ihre kommunalen Statistiken für diesen gemeinsamen Pool zur Verfügung, den alle Beteiligte für vergleichende Analysen nutzen können. Die Daten stammen aus den kommunalen Registern und für die Kommunen bereitgestellten Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Der IRB-Datenbestand ist vor allem ein Großstadt-Katalog, da kleinere Kommunen ohne abgeschottete Statistikstelle die meisten Variablen nicht erstellen können (Gutfleisch & Sturm 2013).

2.4 Erweiterung zur KOSIS-App Da sowohl die Datensammlung als auch die Entwicklung einer eigenen App für jede Stadt weder praktikabel noch realisierbar sind, erfolgte am 10. Juni 2015 auf der KOSIS-Tagung in Frankfurt am Main in Absprache mit dem BBSR die Gründung der KOSIS-Gemeinschaft „Mobile Applikation zur Darstellung kleinräumiger Statistikdaten (KOSIS-App)“ zur städteübergreifenden Weiterentwicklung einer gemeinsamen Anwendung.

Als Gemeinschaftsprojekt im KOSIS-Verbund (städteübergreifender Verbund zur Nutzung, Pflege und Weiterentwicklung der Datenverarbeitungs-Instrumente des Kommunalen Statistischen Informationssystems) können nun zusätzliche Funktionen, wie z. B. die Darstellung von zeitlichen Entwicklungen als Liniendiagramm oder die Einfärbung der städtischen Teilgebiete als thematische Karte, aus der Gemeinschaft finanziert und umgesetzt werden (KOSIS 2015b). Gründungsmitglieder der KOSIS-Gemeinschaft sind die Städte Augsburg, Düsseldorf, Freiburg, Heilbronn, Karlsruhe, Mannheim, Nürnberg und Stuttgart. Mit Aachen, Essen, Kiel, Leipzig, Lübeck, München und Offenbach am Main sind bereits im ersten halben Jahr nach Gründung der Gemeinschaft weitere Städte beigetreten (s. a. Abbildung 4). Die App erweitert mit dem direkten, mobilen und zeitlich flexiblen Zugang das kommunale Statistikangebot der Städte und leistet dadurch einen Beitrag zum lokalen E-Government (Stadt Augsburg 2015).

Die IRB-Daten zeichnen sich durch inhaltliche Detailliertheit, wie der Vielzahl an Altersgruppen bei den Bevölkerungsdaten oder den Daten zu Wohnungsbeständen etc., aus (s. Abbildung 2). In Deutschland stellen die IRB-Daten die beste Datenbasis zur vergleichenden Analyse von Städten dar (Gleich & Staudinger 2013).

Die Daten werden jährlich erhoben, vom BBSR plausibilisiert und zu einem Katalog zusammengestellt. Derzeit umfasst der IRB-Datenbestand Basisdaten von 51 Städten, die mit über 20 Mio. Einwohnern in knapp 3.000 Stadtteilen etwa zwei Drittel der deutschen Großstadtbevölkerung repräsentieren. Seitens des BBSR wird vor allem in Hinblick auf Städtevergleiche bei den 30 Tabellen mit rund 400 Merkmalen auf Gütekriterien wie Relevanz, Genauigkeit, Aktualität, Eindeutigkeit und Kohärenz der Daten geachtet (Güles 2013).

3

Datenbasis der KOSIS-App

Mit der Gründung der KOSIS-Gemeinschaft KOSIS-App wurde neben der abgestimmten Weiterentwicklung auch die Zusammenführung der „Statistik-App Augsburg“ mit den IRB-Daten des BBSR geregelt.

3.1 IRB-Daten Der IRB-Datenbestand des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) stammt aus den von den Statistikämtern der Städte für die „Innerstädtische Raumbeobachtung“ (IRB) unterhalb der Gemeindeebene bereitgestellten Statistikdaten. Diese vergleichbaren kleinräumigen Daten deutscher Großstädte werden seit 2002 in einem Kooperationsprojekt

3.2 Themen Derzeit wird in der KOSIS-App der IRB-Datenbestand für 14 Themen aus den Themenkomplexen Bevölkerungsbestand, Bevölkerungsbewegungen, Haushalte, Wohnungen und Beschäftigung verwendet. Lediglich die Zweitstimmenanteile der Bundestagswahlergebnisse werden bisher noch direkt von den Städten zur Verfügung gestellt. Aktuell sind in der KOSIS-App folgenden Themen (Sachbezug) enthalten: - Arbeitslose nach Geschlecht - Ausländische Bevölkerung nach Altersgruppen - Ausländische Bevölkerung nach europäischen Staatsangehörigkeiten - Ausländische Bevölkerung nach Kontinenten - Beschäftigte nach Geschlecht - Bevölkerung mit Migrationshintergrund nach Altersgruppen - Bevölkerung nach Altersgruppen - Bevölkerung nach Familienstand - Bevölkerung nach Migrationshintergrund - Demographische Indikatoren zur Altersstruktur und zur Zuwanderung - Geburten, Sterbefälle und natürlicher Saldo - Haushalte nach Haushaltsgröße (Personen pro Haushalt) - Wohnungen nach Anzahl der Räume - Zu- und Wegzüge (innerstädtisch und über die Stadtgrenze) - Zweitstimmenanteile bei der Bundestagswahl

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

81

Statistik & Informationsmanagement Praxis

Weitere Erläuterungen zu den Daten sowie Informationen zum Projektablauf und das Impressum sind über das Info-Icon in der App aufrufbar.

3.3 Raum- und Zeitbezug Von den Mitgliedsstädten werden für die einzelnen Stadtteile für jedes Jahr die Bestandsdaten jeweils zum Stichtag 31.12. und die Bewegungsdaten jeweils für das ganze Jahr geliefert.

Je nach Beitrittsdatum der jeweiligen Stadt zur IRB liegen für die Stadteile bereits Daten ab dem Jahr 2002 vor.

Da mit den IRB-Daten Zeitreihen und verschiedene Gebiete vorliegen, kann damit sowohl die Entwicklung eines Gebiets in den letzten Jahren als auch im Vergleich zu Gebieten derselben oder anderer Städte dargestellt werden. Durch die unterschiedlichen Größenklassen kann es aber bei Analysen von absoluten Zahlen zu Abweichungen, Verzerrungen und Nivellierungen kommen. Kleinräumige Vergleiche bedürfen umfangreicher Erfahrungen bei der Interpretation (Gutfleisch & Sturm 2013).

Basierend auf Strukturanalysen können auch Typen vergleichbarer Stadtteile identifiziert werden. Eine solche Einteilung könnte zukünftig eventuell auch Evaluationen von Projekten in vergleichbaren Stadtteilen verschiedener Städte mithilfe der IRB-Daten ermöglichen (Gleich & Staudinger 2013). In der KOSIS-App können über das Icon „Vergleich“ bereits Daten aus Abbildung 3: Elemente der Oberfläche der KOSIS-App

82

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

unterschiedlichen Teilgebieten einer oder mehrerer Städte und/oder Jahren grafisch oder tabellarisch gegenüber gestellt werden, sofern Daten für das gewählte Thema vorliegen. Durch die Auswahl unterschiedlicher Jahre kann in einem Teilgebiet ein bestimmtes Thema jahresübergreifend untersucht werden.

Durch die Gegenüberstellung zweier Teilgebiete einer Stadt bzw. verschiedener Städte besteht die Möglichkeit eines räumlichen Vergleichs. Anhand dieser Datengegenüberstellung kann beispielsweise untersucht werden, ob die ausgewählten Teilgebiete für ausgewählte Jahre ähnliche Strukturen (z. B. Altersstruktur, Familienstand, Ausländer- und Migrationsanteil, etc.) aufweisen.

4

Funktionsweise der KOSIS-App

Die KOSIS-App und damit der Aufruf der Daten wird ausschließlich über Icons, Buttons und eine Karte in der Oberfläche gesteuert. Den Abruf von Daten über ein bestimmtes Gebiet erreicht man in 4 Schritten (s. Abbildung 3): 1. Lokalisierung: Nach Aufruf der KOSIS-App wird das Teilgebiet derjenigen Stadt, in dem sich der Nutzer befindet, über die jeweils zur

Statistik & Informationsmanagement Praxis

Verfügung stehende Art der Standortbestimmung identifiziert – sofern die Stadt bei der KOSIS-App teilnimmt – und in der Karte farblich hervorgehoben. Über die Karte oder über eine Auswahlliste kann das Teilgebiet jederzeit gewechselt werden.

2. Auswahl des Themas: Nach der Auswahl eines Teilgebiets wird über den zweiten Button „Wählen Sie ein Thema“ das gewünschte Thema bestimmt.

3. Festlegung des Jahres: Zum gewählten Thema ist der jeweils letzte verfügbare Datenstand voreingestellt. Weitere Jahre sind – falls vorhanden – über die Auswahlliste verfügbar.

Abbildung 4: manuelle Stadt- und Teilgebietsauswahl in der KOSIS-App

4. Daten betrachten: Nach Betätigen des Buttons „Daten betrachten“ werden die ausgewählten Daten in einem Säulendiagramm dargestellt.

Durch Anwahl des Buttons „Tabelle“ werden die Werte in Tabellenform ausgegeben.

4.1 Stadtauswahl Über das Icon „Stadtauswahl“ können Städte und deren Daten auch ohne Lokalisierung der eigenen Position ausgewählt werden, z. B. wenn die eigene Position nicht weitergegeben werden soll, oder man Daten einer Stadt abrufen möchte, in der man sich nicht aktuell befindet. Wird eine Stadt manuell aufgerufen, dann muss ein Teilgebiet über die Karte oder über die Auswahlliste festgelegt werden. Erst danach können ein Thema und ein Berichtsjahr ausgewählt werden (s. Abbildung 4).

4.2 Datenvergleich Neben der Basisfunktionalität können über das Icon „Vergleich“ Daten aus unterschiedlichen Teilgebieten und/oder Jahren grafisch oder tabellarisch gegenüber gestellt werden.

Voraussetzung für einen Vergleich ist die Verfügbarkeit des gewünschten Themas für die ausgewählten Teilgebiete und Jahre. Da neben einem innerstädtischen Vergleich auch zwei Städte bzw. deren Teilgebiete miteinander verglichen werden können, wurde die Filterführung über die Listenauswahl realisiert. Aufgrund der begrenzten Darstellungsmöglichkeiten auf mobilen Geräten ist es nicht möglich, zwei Städte kartographisch nebeneinander darzustellen.

Abbildung 5: Zeitlicher Vergleich: Auswahl und Darstellung als Säulendiagramm und Tabelle

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

83

Statistik & Informationsmanagement Praxis

4.3 Zeitlicher Vergleich Durch die Auswahl unterschiedlicher Jahre kann in einem Teilgebiet ein bestimmtes Thema jahresübergreifend untersucht werden. Die mit „Vergleich starten“ abgerufenen Ergebnisse der beiden ausgewählten Jahre werden anschließend grafisch und tabellarisch gegenüber gestellt. Dadurch können die Entwicklungen bzw. Veränderungen zwischen den gewählten Zeitpunkten, in diesem Beispiel über sieben Jahre, aufgezeigt werden (s. Abbildung 5).

4.4 Räumlicher Vergleich Für einen innerstädtischen Vergleich wird nach Aufruf des Icons „Vergleich“ zuerst die entsprechende Stadt auf beiden Seiten der Liste ausgewählt, anschließend über die jeweils darunterliegenden Dropdownmenüs die beiden zu untersuchenden Teilgebiete bestimmt. Nach Auswahl des Themas und des Stichtags werden mit dem Button „Vergleich starten“ die abgefragten Informationen aufgerufen. Die Darstellung der Daten erfolgt als Säulendiagramm. Durch den Wechsel zu „Tabelle“ können die Werte der gegenübergestellten Teilgebiete zudem auch tabellarisch angezeigt werden. Zur Durchführung eines Stadtvergleichs wird lediglich bei der Städteauswahl in einem der beiden Dropdown-Menüs eine andere Stadt ausgewählt. Danach kann als Gebiet entweder die jeweilige (Gesamt-)Stadt oder ein Teilgebiet daraus angegeben werden (z. B. die Innenstadt von Augsburg und Nürnberg). Die weiteren Schritte entsprechen der Vorgehensweise beim innerstädtischen Vergleich (s. Abbildung 6).

Durch Auswahl unterschiedlicher Jahre ist zudem eine Kombination aus räumlichen und zeitlichen Vergleich möglich, so

dass auch unterschiedliche Teilgebiete verschiedener Jahre miteinander verglichen werden können. Es muss lediglich für beide Teilgebiete bzw. Jahre dasselbe Thema (z. B. Einwohnerbestand) verfügbar sein.

5

Technische Details

Die KOSIS-App verwendet sowohl als Webapplikation über eine URL als auch als mobile App für Android-Geräte Apache HTTP Webserverdienste. Die Verortung erfolgt über GPS, Funkzellen oder dem Access Point des Clients. Technisch besteht die KOSIS-App aus zwei Hauptbestandteilen, der Datenbank und der Oberfläche. Die MySQL-Datenbank enthält die Sachdaten der einzelnen Themen und die Metainformationen zu den Städten, Teilgebieten und Themen. Die Gebietsgrenzen sind als Polygone in der Keyhole Markup Language (KML) hinterlegt. Die Sachdaten und die Geometrien sind über den amtlichen Gemeindeschlüssel und den Code der kleinräumigen Gliederung mit den Metatabellen verbunden. Über Abfragen werden zur Laufzeit die Metadaten, Geometrien und Sachdaten dynamisch aus der Datenbank in die App geladen und von der Anwendung dargestellt. Die grafische Nutzeroberfläche wurde mit Produkten aus dem Open-Source-Projekt „NetBeans“ entwickelt. Das Diagramm ist mit der Highcharts Bibliothek realisiert, das Kartenobjekt mit der Google Maps API. Beide können für diese nichtkommerzielle Anwendung kostenfrei verwendet werden.

Da alle Inhalte aus der Datenbank gelesen werden, kann die KOSIS-App um neue Themen, Jahre oder Städte des IRB-Datenbe-

Abbildung 6: Interkommunaler Vergleich: Auswahl und Darstellung als Säulendiagramm und Tabelle

84

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Statistik & Informationsmanagement Praxis

Abbildung 7: QR-Code zur KOSIS-App

standes erweitert werden, ohne dass die Oberfläche dafür geändert werden muss. Zur Aufnahme einer IRB-Teilnehmerstadt in die KOSIS-App müssen lediglich die Bereitstellung der Geometrie und die Freigabe der kleinräumigen Statistikdaten durch die jeweils zuständige kommunale Statistikstelle erfolgen.

Die App ist als Weiterleitung über die Städtestatistikseite http://www.staedtestatistik.de/Kosisapp.html über einen Browser vom Smartphone oder am PC aufrufbar. Die eigentliche KOSIS-App kann im Google „PlayStore“ als App für Endgeräte mit dem Android-Betriebssystem heruntergeladen und mobil genutzt werden (s. https://play.google.com/store/searc h?q=kosisapp&c=apps&hl=de).

6

Internetseiten der Städte zur KOSIS-App

-

http://www.augsburg.de/presse-medien/pressemitteilungen/detail/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=2066&cHash=fd 5b57cc9c1476b150f3f041529bee0a http://www.augsburg.de/aktuelles-aus-der-stadt/detail/ neue-statistik-app-fuer-augsburg/ http://www.augsburg.de/buergerservice-rathaus/rathaus/ statistik-stadtforschung/statistik-app/ https://www.essen.de/meldungen/pressemeldung_949794. de.html http://www.luebeck.de/stadt_politik/statistiken/kosisapp. html https://www.mannheim.de/presse/kosis-neue-statistikapp-stadtteildaten https://www.offenbach.de/rathaus/stadtinfo/offenbachin-zahlen/statistik-app.php

-

Literatur BBSR (2007): Innerstädtische Raumbeobachtung: Methoden und Analysen. Berichte Band 25, Bonn.

Gleich, A. & Fendt, M. (2015): Bereitstellung amtlicher Statistikdaten mittels interaktiver OnlineKarten. In: Hennig, S. (Hrsg.): Online-Karten im Fokus. Berlin, S. 255–274.

Gleich, A. & Staudinger, T. (2013): Städtevergleich auf Basis von Clusteranalysen am Beispiel der Demografie-Berichterstattung. In: Informationen zur Raumentwicklung, 6.2013, S. 517–528. http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/IzR/2013/6/Inhalt/DL_Gleich_ Staudinger.pdf?__blob=publicationFile&v=1 Güles, A. (2013): Datenqualitätssicherung für den IRB-Katalog. Informationen zur Raumentwicklung, 6.2013, S. 493-503. http://www.

bbsr.bund.de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/IzR/2013/6/Inhalt/DL_Gueles.pdf?__ blob=publicationFile&v=1 Gutfleisch, R. & Sturm, G. (2013): Kataloge kleinräumiger kommunal-statistischer Daten im Vergleich – was können KOSTAT, IRB, Urban Audit? In: Informationen zur Raumentwicklung, 6.2013, S. 471-491. http://www.bbsr. bund.de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/ IzR/2013/6/Inhalt/DL_Gutfleisch_Sturm. pdf?__blob=publicationFile&v=1 KOSIS (2015a): KOSIS-Newsletter 01/2015 (Rundschreiben Nr. 97 vom 9. April 2015). www.staedtestatistik.de/fileadmin/kosis/newsletter/ KOSIS_Newsletter_201501.pdf KOSIS (2015b): Niederschrift der Gründungsund 1. Mitgliederversammlung der KOSIS-Ge-

meinschaft „Mobile Applikation zur Darstellung kleinräumiger Statistikdaten (KOSIS-App)“ vom 10.06.2015. http://www.staedtestatistik. de/fileadmin/kosis/kapp/Protokolle/1MV_KOSIS-App_Protokoll20150610.pdf Stadt Augsburg (2015): Statistik-App – Kleinräumige Daten für unterwegs! Kurzmitteilungen aus Statistik und Stadtforschung. ePaper vom 12. August 2015. http://www.augsburg.de/fileadmin/user_upload/buergerservice_rathaus/ rathaus/statisiken_und_geodaten/statistiken/ kurzmitteilungen/km_2015_07_kosisapp.pdf Ziekow, J. (2013): Kommunale Informationsfreiheit – Anforderungen der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung an die Ausgestaltung der amtlichen Statistik. In: Verwaltungsarchiv, 4/2013, S. 529–575.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

85

Historie

Werner Appel

100 Jahre Statistik in der Stadt Ludwigshafen am Rhein

Der Ludwigshafener Stadtrat beschloss am 20. Februar 1914 die Gründung des Statistischen Amtes, das die Keimzelle des heutigen Bereichs Stadtentwicklung bildete. Das neue Amt nahm am 1. Oktober 1914, also wenige Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs, seine Arbeit auf und schlitterte gleich in die durch Krieg und Nachkriegszeit gezeichneten Jahre bitterer Not. Der Anfang war also keineswegs „normal“; die statistischen Arbeiten mussten erst einmal viele Jahre zurückgestellt werden. Diese Ausnahmesituation wiederholte sich im und nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Amt die tragende Säule der „Notversorgung“ in Ludwigshafen war.

Beides veranlasste den Autor, bei der historischen Betrachtung einen Schwerpunkt auf die Bewältigung dieser beiden schweren Krisen zu legen. Zunächst war aber noch unklar, ob überhaupt ausreichend Quellen vorhanden wären. Das Protokoll des Stadtrats mit dem Gründungsbeschluss und der ersten Geschäftsanweisung waren bekannt, aber wie sah es für die restlichen Jahrzehnte aus, zumal bekannt ist, dass zentrale städtische Registraturen zwischen 1943 und 1945 zerstört wurden?

Glücklicherweise stellte sich dann heraus, dass die Verantwortlichen nach 1945 damit erfolgreich waren, die durch die Kriegszerstörung gerissenen Lücken in den Amtsveröffentlichungen größtenteils wieder zu füllen. Im Stadtarchiv Ludwigshafen befinden sich die zwei Hauptquellen für diese Amtsgeschichte: die Veröffentlichungen des Statistischen Amtes und die Verwaltungsberichte der Stadt Ludwigshafen1. Beide wurden vom Amt herausgegeben, sind lückenlos vorhanden und bieten eine sehr große Fülle wertvollen Materials.

Werner Appel Dipl.-Geogr., stellvertretender Leiter des Bereichs Stadtentwicklung bei der Stadt Ludwigshafen/Rhein, Arbeitsschwerpunkte Wohnen, Bautätigkeit, Einzelhandel, Statistik und räumliche Entwicklung : Werner.Appel@Ludwigshafen.de Schlüsselwörter: Statistik – Ludwigshafen – Amt – Geschichte – 100 Jahre

86

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

In welchen Kontext der deutschen Städtestatistik wurde das neue Amt „hineingeboren“?

Für die Beantwortung muss folgendes Ludwigshafener Spezifikum vorangestellt werden. Als die ersten Statistikämter in deutschen Städten in den 1860er und 1870er Jahren gegründet wurden, war Ludwigshafen noch keine 25 Jahre alt. Die 1853 gegründete bayerische Hafen- und Industriestadt hatte 1871 erst rund 8.000 Einwohner. Sie erlebte dann aber ein rasantes Wachstum: Bis etwa 1900 verdoppelte sich die Einwohnerzahl alle zehn Jahre durch Eingemeindung und Zuzug auf fast 80.000, 1914 waren es 94.000 Einwohner. Die Gründe, die für das neue Amt sprachen, waren folglich die gleichen wie bei den meisten deutschen Städten: Starkes Wachstum der Einwohnerzahl, der Fläche und des Bedarfs nach Zahlen zur Lösung innerstädtischer Problemstellungen.2 In Ludwigshafen kam dieser Moment allerdings viel später, weshalb es erst 1914 ein statistisches Amt erhielt.

Im Südwesten Deutschlands gründeten die größeren Städte ihre Statistik-Ämter meist deutlich früher: Frankfurt/Main (1865), Mannheim, Stuttgart (1895) Karlsruhe (1896), Nürnberg (1900), Freiburg (1905), Wiesbaden (1907) und Mainz (1912).

Trier (1920) und Saarbrücken (1935) folgten erst später. Kaiserslautern, Darmstadt und Heidelberg besaßen bis in die 1930er Jahre kein ausgebautes statistisches Amt, sondern lediglich kleinere Stellen in anderen Einheiten. 1938 hatten lediglich acht Großstädte weder ein statistisches Amt noch eine statistische Stelle eingerichtet. Kurz vor dem ersten Weltkrieg 1914 gab es immerhin 44 statistische Ämter, Ludwigshafen zählte hier bereits dazu.3 Der Ludwigshafener Oberbürgermeister Friedrich Krafft konnte demnach auf die Erfahrungen der anderen Ämter zurückgreifen. Schließlich formte er das neue Amt durch die Herauslösung des Einwohnermeldewesens aus dem Polizeimeldeamt und ergänzte es um die neue Statistikfachabteilung. Zu Beginn arbeiteten dort 11 Personen.

Die Gründung im Februar 1914 Der Stadtratsbeschluss im Februar 1914 legte auch eine komplette Geschäftsanweisung fest, in der folgende Aufgaben stehen4: - Durchführung der angeordneten Zählungen und Erhebungen

Historie

-

Sammlung, wissenschaftliche Verarbeitung und zweckdienliche Veröffentlichung des statistischen Materials Herstellen von Listen für öffentliche Wahlen und Wahlen zum Schöffen- und Geschworenenamt Zusammenstellen des Verwaltungsberichtes der Stadtverwaltung und die Wahrnehmung der Tätigkeit eines Einwohnermeldeamtes der Stadt

Bis das Amt seine Arbeit im Oktober aufnehmen konnte, musste ein Amtsdirektor erst noch gefunden werden, denn eine statistische Vorbildung war damals wenig verbreitet. Schließlich wurde Dr. Walter Klose berufen, der vom Statistischen Amt aus München kam. Anfang des Jahres 1915 verfasste der neue Direktor auf Wunsch eines SPD-Stadtrats einen Bericht über die neuen Aufgaben.5 Darin zählte er als besonders dringende Fragen auf: - Die Wohnungsnot der ärmeren Bevölkerung zu untersuchen, insbesondere die Missstände, die die allzu große Freiheit in der Art der Bebauung hervorgerufen hatten, - die Notwendigkeit, die „künftige Errichtung von Schulen und Altersheimen aufgrund der Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsstruktur zu planen“, - die Situation „der Armenpflege und Wohltätigkeit“ zu analysieren, - die Ermittlung der Arbeitslosigkeit in den einzelnen Gewerben, um die Notwendigkeit der Beschäftigung Arbeitsloser im Winter mit gemeindlichen Notstandsarbeiten betreiben zu können.

Als er diesen Text dem Oberbürgermeister überreichte, fügte er noch die Anregung hinzu, „außer den Stadträten je ein Exemplar der zu vervielfältigenden Denkschrift den Vorständen der einzelnen städtischen Sparten zuzustellen. Das erscheint mit Rücksicht auf die Tatsache zweckdienlich, dass über die Tätigkeit des Statistischen Amtes in den Kreisen der Beamtenschaft (und darüber hinaus) vielfach irrtümliche Anschauungen verbreitet sind, die auf diese Weise am besten berichtigt werden können“.

rationierten Lebensmittel, die Verrechnung mit den Produzenten und die Preisprüfungsstelle zugeordnet; das Amt wuchs auf über 120 Kräfte an. Es musste nicht nur die in allen Städten üblichen Erhebungen über die Vorräte durchführen, sein Personal stand auch am Schalter und war mit der täglichen Not der Menschen konfrontiert. (siehe Abbildung 1) Die Verwaltungsberichte wurden trotz alle Widrigkeiten weiter veröffentlicht. Der Oberbürgermeister entschied, „alle Zweige ‚friedensmäßigen Schaffens‘ in der Stadtverwaltung so eingehend wie früher“ darzustellen, „um sie in den jetzigen Zeiten großen Erlebens vor dem Schicksal zu bewahren, später ganz in Vergessenheit zu geraten oder als nebensächlich nicht genügend gewürdigt zu werden“6. Konsequent wurde dann für jedes Jahr ein „Kriegs-Verwaltungsbericht“ herausgegeben, wenn auch mit einer Verspätung von zwei Jahren.

Nach Kriegsende begann am 6. Dezember 1918 die französische Besatzungszeit; ein Schicksal, von dem die deutschen Städte rechts des Rheins weitgehend verschont blieben. Am 21. Dezember 1918, beklagte das Statistische Amt dem Statistischen Landesamt in München (Ludwigshafen gehörte damals zu Bayern) die Lage durch die Besatzung und die Absperrmaßnahmen zur rechten Rheinseite hin. Eine „rechtzeitige und regelmäßige Abwicklung der Zählungsangelegenheiten ist in keiner Weise mehr gewährleistet“, denn Briefe aus dem rechtsrheinischen Bayern kämen hier nicht oder verspätet an. „Ich bitte ergebenst dies in den künftigen Monaten würdigen zu wollen, wenn das diesseitige Amt mit seinen Arbeiten im Rückstand bleibt“, schrieb Direktor Walter Klose nach München.7

Abbildung 1: Ausweis für Kindernahrung im zweiten Lebensjahr 1915–1918

Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit Aus diesen Vorhaben wurde jedoch vorerst nichts. Die stark wachsenden Arbeiten im Rahmen der Zwangswirtschaft während des Krieges und in den Nachkriegsjahren sowie die durch die französische Besatzung verursachten Repressalien ließen den Arbeitsalltag sehr bald völlig anders aussehen. Das junge Amt hatte in den Anfangsjahren zunächst drei Kernaufgaben: die Herausgabe des Verwaltungsberichts, die Lebensmittelversorgung und die Kommunalstatistik.

Im ersten Jahr überlagerten aber die durch den Krieg bestimmten Tätigkeiten alles andere. Allein 25 Erhebungen, die die Erfassung der Lebensmittelvorräte, der Viehbestände, der Wohnungen und der Haushalte zum Ziel hatten, mussten 1915 bewältigt werden. Diese Erhebungsflut hielt die folgende Jahre noch an. Mit der Ausdehnung der Zwangswirtschaft kamen immer neue Aufgaben hinzu. Dem Statistischen Amt wurden die Ausgabestellen für Lebensmittelmarken, die Verteilung der

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

87

Historie

Abbildung 2: Umgehung der Besatzung, die Post ins Rheinland wird auf Schiffe verladen, 1923

fentlichungen des Zahlenmaterials in den üblichen Formaten der Monats- oder Vierteljahresberichte. Die erste wissenschaftliche Arbeit wurde 1920 publiziert. Sie befasste sich mit der „hypothekarischen Belastung von Grund und Boden“ vor dem Hintergrund der besorgniserregenden Wohnungsnot nach dem Krieg. Es sollte sich zudem bald herausstellen, dass die verspätete Dienstpost nur ein vernachlässigbares Problem ist im Vergleich zu den Behinderungen des Wirtschaftslebens als Folge der Besatzung. Gravierend waren die Sperrungen der Rheinbrücke, denn dadurch fielen die Zuliefer- und Absatzgebiete der Firmen weg. (siehe Abbildung 2)

Neuer Schwerpunkt Wirtschaftsförderung

Nur zwei Monate später starb er geschwächt durch den Krieg.

Seit Mai 1919 leitete Dr. Albert Zwick das Statistische Amt und gestaltete, entlastet von der allmählich zurückgehenden Zwangswirtschaft, maßgeblich den Aufbau der statistischen Arbeiten. Erst jetzt, 1919, begannen die regelmäßigen Veröf-

Durch die intensive Beschäftigung mit kommunalwirtschaftlichen Problemen während der Kriegs- und Nachkriegszeit, wurde im April 1921 mit einer bürgermeisteramtlichen Verfügung ausgesprochen, was schon Tatsache war: Die Bildung des Wirtschaftsreferats mit den Abteilungen Statistisches Amt und Wirtschaftsamt, beide verbunden durch die Verwaltungsabteilung, die Kanzlei. Die Tätigkeiten des Wirtschaftsamts

Abbildung 3: Veröffentlichungspraxis in größter Not, Vierteljahresbericht in Handschrift, 1923

88

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Historie

würde man heute als Wirtschaftsförderung bezeichnen. Es gab also schon sehr früh, gerade mal sieben Jahre nach der Gründung, eine thematische Erweiterung über die reine Statistik hinaus.

Die neue Wirtschaftsabteilung führte auch zu einer spürbaren Vergrößerung des Amtes, die Mitarbeiterzahl wuchs auf 22 Personen. Sie kümmerte sich sowohl um Wirtschaftsfragen als auch um Verkehrsfragen. Die Erfahrungen mit Preisstatistiken in der Zwangswirtschaft mündeten in die Heidelberger Promotion des „wissenschaftlichen Hilfsarbeiters“ Otto Stabel über die Ludwigshafener Preisindexziffer. Mit dieser Indexziffer entstand ein in der Inflation stark nachgefragtes Produkt, zu dem „Arbeitgeber und Arbeitnehmer Vertrauen haben konnten, so dass die Berechnungen als Grundlage für Lohnverhandlungen dienen konnten“.8 In der Pfalz herrschten durch die Separatistenbewegung um den Jahreswechsel 1923/24 noch zusätzlich chaotische Verhältnisse (siehe Abbildung 3). Die in Speyer sitzende „Autonome Regierung der Pfalz“ versuchte die öffentliche Darstellung in Presse und Verwaltungen zu beeinflussen, ohne dauerhaften Erfolg. Nach dem Ende von Inflation, Ruhrkrise und Separatistenbewegung sowie der einsetzenden Entspannung in den europäischen außenpolitischen Beziehungen kehrten im Jahr 1924, immerhin erst 10 Jahre nach der Gründung (!), einigermaßen normale Verhältnisse ins Arbeitsleben des Statistischen Amtes ein. Damit waren Kapazitäten frei für die dringend erforderliche Förderung des Wirtschaftslebens.

Ein großer Erfolg war das Jahr 1925, in dem eine Gartenbauausstellung, eine Landwirtschaftsausstellung, ein Turn- und ein Sängerfest sowie zahlreiche Kulturveranstaltungen das Aufstreben der jungen Stadt dokumentieren.9 Die umfangreiche Pressearbeit dieses Ausstellungsjahres hatte die Institutionalisierung zur Folge. „Der bisher schon im Amt mit Erfolg gepflegte Verkehr mit der Presse führte 1925 zur Einrichtung der bürgermeisteramtlichen Pressestelle innerhalb des Statistikamtes. Sie stellte in harmonischer Zusammenarbeit mit den Redaktionen der Ludwigshafener Tageszeitungen die Verbindung her zwischen Bürgermeisteramt und breiter Öffentlichkeit“10.

Umbruch Ende der 1920er Jahre Als das Amt im November 1927 seinen Direktor Dr. Albert Zwick11 ins Statistische Amt nach Köln ziehen lassen musste, bedeutete das einen spürbaren Verlust von Aktivitäten und Bedeutung. Der zielstrebige Fachmann Zwick fand in Köln sicherlich aussichtsreichere Ausgangsbedingungen für seine Karriere vor als in der pfälzisch-bayerischen Provinz. Durch seine Mitwirkung im Vorstand des Verbands Deutscher Städtestatistiker, war er über Aufstiegschancen in anderen Städten sicher bestens informiert.

Obwohl (oder gerade weil) das Statistische Amt im Verantwortungsbereich des Oberbürgermeisters verblieb, musste es in der Folgezeit einen einschneidenden Bedeutungsverlust hinnehmen. Zunächst wurde die Leitungsstelle aus Einsparungsgründen nicht wiederbesetzt, sondern die Aufgabe dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Otto Stabel übertragen.

Immerhin blieb das Amt erhalten, denn in den ausgehenden

1920er Jahren fielen solche Ämter vereinzelt der Einsparung vollständig zum Opfer.

Die Ausstattung des Amtes schildert Dr. Otto Stabel in einem Schreiben an seinen Kollegen der Stadt Linz im März 1928. Das elfköpfige Personal (zwei Stellen waren gerade vakant) setzte sich zusammen aus dem Amtsleiter (Akademiker), einem Inspektor, fünf Obersekretären (darunter ein Akademiker), zwei Kanzleigehilfinnen (davon eine für Schreibmaschine), einem Diätar und einem Amtsdiener. Unter den 11 Personen waren also zwei Beamtinnen. An Maschinen standen dem Amt zur Verfügung: eine Additionsmaschine („Goertz A“ mit elektrischem Antrieb), eine Rechenmaschine für alle Rechnungsarten („Mercedes-Euklid“), ein Vervielfältigungsapparat („Rotary-Cyclostyle“) und zwei Schreibmaschinen (StA, LuA 588, S. 164 f.). In der Weltwirtschaftskrise waren die häufigen Wahlen eine Hauptbeschäftigung. Um Kosten zu senken, wurden sowohl die Belegschaft als auch die Veröffentlichungen des Statistischen Amtes stark reduziert. Es gab nur noch die „Ludwigshafener Wirtschaftszahlen“, eine auf vier Seiten verkürzte Sammlung wichtiger Kennzahlen, die aber immerhin in allen Krisenjahren produziert wurden.

1933: Gewaltsamer Umbruch und neue Wertschätzung Mit der Einsetzung des Reichsstatthalters in Bayern griff auch in Ludwigshafen die Entmachtung und Verfolgung verachteter Menschen und Institutionen um sich. Trotz gewaltsamer Gleichschaltung von Stadtrat, Rathaus und Ämtern blieb der rechtsliberale Oberbürgermeister als einer von nur acht in Deutschland noch einige Jahre im Amt – Huldigung und Anbiederung prägten sein Vorgehen.12 Die Parteileute der NSDAP waren überwiegend jung oder hatten nicht die nötige Fachkenntnis. Daher wundert es nicht, dass das Statistische Amt nicht in den Fokus der Entlassungen geraten war. Denn es hatte bereits viele Wahlen und im Juni die Volkszählung organisiert. Im Sommer 1933 wurde der Leiter des Statistischen Amtes zum Kämmerer berufen und sein Stellvertreter Dr. Karl Moll zum neuen Direktor. Da dieser sich selbst als sehr pflichtbewussten Beamten beschrieb und in seinem Metier sehr erfahren war, immerhin arbeitete er seit 1921 im Statistischen Amt, konnte er den neuen Machthabern wertvolle Dienste leisten. Gleichzeitig biederte er sich aber nicht an und entpuppte sich bald als unbequemer Beamter.

Noch 1939 unterschrieb Dr. Moll, keiner Partei anzugehören13.

In einer ausführlichen und für diese Zeit bemerkenswert mutigen und forschen „Denkschrift über die Lage des Einzelhandels in Ludwigshafen am Rhein“ rechnet Dr. Karl Moll den finanziellen Schaden des Boykotts jüdischer Geschäfte in Ludwigshafen tatsächlich aus.14 Die Gemeinde müsse mit einem Gesamt-Steuerausfall von 200 000 bis 300 000 Reichsmark jährlich rechnen. Dabei nicht eingerechnet sind Einnahmeausfälle durch geringere Bürgersteuer, geringere Umsätze der deutschen Händler infolge der entlassenen Beschäftigten der jüdischen Geschäfte usw., die noch einmal einen fünfstelligen Betrag bedeuten. Auch stellte er fest, dass der Zweck des Boykotts, die Förderung deutscher Händler, bei weitem nicht eingetreten sei. Zum einen seien gar nicht die entsprechen-

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

89

Historie

den Geschäfte vorhanden (so gab es keinen nicht-jüdischen Anbieter für Damenkonfektion) und zum anderen komme der Verlust in Ludwigshafen überwiegend dem Mannheimer Handel zugute. Seine Warnungen verhallten ungehört, aber auch ungestraft.

Das Amt erfuhr durch die Neuordnung des Staates eine neue Wertschätzung, denn „die zunehmende Regelung und Ordnung unserer Lebensverhältnisse stellte erhöhte Anforderungen an die Statistik, die vor allem zahlenmäßige Unterlagen zu liefern hatte für die Beurteilung der Maßnahmen auf dem Gebiete des unmittelbaren Lebensbedarfs, ihre Voraussetzung, ihr Ausmaß und ihren Erfolg“15 (siehe Abbildung 4). Für die zunehmenden statistischen Arbeiten konnte die Einteilung der Stadt in statistische Bezirke vervollständigt werden. Auch das tägliche Geschäft der Einwohnermeldevorgänge wurde durch den Einsatz einer Plattenkartei rationalisiert. Die „Einwohnerplattei“ ist eine von der Papierform überführte Urkatei, in der für jeden Einwohner eine metallene Platte mit der Prägemaschine einer Adrema-Anlage angefertigt wurde. Im Jahr 1936 durfte das Wahlamt die neue Technik bei der Reichstagswahl am 29. März einsetzen, die sich „sehr gut bewährte“, wie alle Wahlvorstände berichteten.16 Es ist grotesk: Ausgerechnet die grundlegenden Vorgänge einer Demokratie, die Wahlen, konnten nun rationeller durchgeführt werden – obwohl sie seit März 1933 nur noch eine Scheinfunktion ausübten.

Abbildung 5: Ernährungsamt, 1939

90

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Abbildung 4: Neue Publikation, erste Ausgabe „Wort und Zahl“, 1935

Der Direktor des Statistischen Amtes kam nach einigen Jahren doch in das Fadenkreuz der Machthaber. Er hatte sein Pflichtbewusstsein über die Interessen der Parteiorganisationen gestellt als er seinen Parteifunktionären einen halbstündigen Sonderurlaub für Parteitermine verwehrte. Am Ende der umfangreichen Vernehmungen wurde ihm angelastet, dass „alle Äußerungen einen solchen Mangel an Verständnis

Historie

für die Bewegung erkennen lassen, dass allein hieraus einem deutschen Beamten ein schwerer Vorwurf gemacht werden muss“. Schließlich bekam Dr. Moll am 26. Juni 1939 einen Verweis durch den Oberbürgermeister Dr. Erich Stolleis. Von einer schwereren Strafe sah der Oberbürgermeister ab, weil „Dr. Moll als Spezialist für das Statistische Amt tätig ist, dort immer außerordentlich eifrig gearbeitet und ausgezeichnete Leistungen erzielt hat. Aus dieser Tatsache kann trotz der in seinen Äußerungen zum Ausdruck gekommenen Gesinnung auf eine positive Grundhaltung zum nationalsozialistischen Staat geschlossen werden“. Dieser strafende Verwaltungsakt schadete seiner Karriere nicht und scheint mehr dafür gedacht gewesen zu sein, die Parteibasis der NSDAP zu beruhigen, die argwöhnisch den parteilosen Direktor beäugte. Denn einen Tag später, am 27. Juni 1939, wird Dr. Karl Moll die Leitung des Ernährungsamtes übertragen und nicht einmal ein Jahr später wird er erneut befördert. (siehe Abbildung 5) In den letzten Kriegsjahren beschränkte sich die Arbeit des Amtes überwiegend auf die Versorgung der Ludwigshafener Bevölkerung mit lebensnotwendigen Produkten. Das Ernährungsamt war eine der wichtigsten kriegswirtschaftlichen Einrichtungen in Ludwigshafen geworden. Das blieb es noch einige Jahre über die Niederlage von 1945 hinaus.

Trümmer in Zahlen fassen und Wiederaufbau Dr. Karl Moll, gehörte neben Dr. Otto Stabel, dem späteren Oberbürgermeister Valentin Bauer und anderen zu den wenigen noch anwesenden Verantwortlichen der Stadt, die sich im Keller des zerstörten Polizeipräsidiums „zum Zwecke der ordnungsmäßigen Übergabe der Stadt aufhielten“17. Die meisten leitenden Beamten der Stadtverwaltung, vor allem die mit Uniform, waren über den Rhein geflüchtet. Am ersten Tag nach der Besetzung, am 24. März 1945, erschienen die ersten Vertreter der amerikanischen Zivilverwaltung. Sie setzten zunächst als Spitze der deutschen Verwaltung den Kämmerer Dr. Otto Stabel und als sein Stellvertreter den Leiter des Statistischen Amtes, Dr. Karl Moll, ein. Dieses Interregnum dauerte jedoch wenige Wochen bis ein neuer Oberbürgermeister bestimmt war. Moll verantwortete weiterhin sowohl das Amt für Statistik als auch die Ernährungsversorgung. Die Prüfungen der Alliierten über seine politische Vergangenheit überstand er reibungslos.

An „normale“ Statistiken war aber außer den notwendigen Zählungen in den ersten Jahren nach 1945 nicht zu denken, denn es galt das tägliche Überleben zu organisieren. Hier spielte Dr. Karl Moll als Leiter des Ernährungsamtes eine der Hauptrollen. Aber er konnte auch nur den Mangel verwalten.

Fehlende Brennstoffe zum Heizen, kaum Lebensmittel und Kleider sowie viel zu wenige Wohnungen kennzeichnen die bittere Not der ersten Nachkriegsjahre. In dieser Zeit avancierte der Leiter des Statistischen Amtes zur wichtigsten Person, wenn es darum ging, die katastrophalen Zustände in der zerstörten Stadt zu dokumentieren.18 Neben den Zerstörungen der Gebäude und den Umbrüchen in der Bevölkerungsentwicklung war die Zuteilung von Lebensmitteln durch die französische Besatzungsmacht das beherrschende Thema. Sie berechnete sich nach dem Kaloriengehalt. Die Mitarbeiter im

Ernährungsamt stellten aber regelmäßig fest, dass die zugewiesene Kalorienmenge nicht zum Erhalt des Körpergewichts der Hungernden ausreichte. Nach Angaben des Völkerbundes wären für einen Erwachsenen zur Aufrechterhaltung der Gesundheit und Arbeitskraft täglich 2.400 Kalorien notwendig.

In Ludwigshafen waren offiziell täglich 1.200–1.300 Kalorien zur Verteilung vorgesehen, bei den Menschen angekommen sind aber oft nur 1.100, in manchen Monaten sogar nur rund 800 Kalorien. Die rechnerischen Kalorienwerte wurden weiter reduziert einmal durch die schlechte Qualität, zum Beispiel „waren die Hülsenfrüchte syrische Linsen, die sehr stark mit Schmutz und Käfern durchsetzt und meist ungenießbar waren“, und zum anderen durch die Tatsache, dass die Kalorienangaben der Besatzungsbehörden immer Bruttowerte für unzubereitete Lebensmittel waren, zum Beispiel beim Fleisch also noch die Knochen abgezogen werden mussten.

Am Sonntag, den 20. Juni 1948, fand die Währungsreform, der Umtausch von Reichsmark in die D-Mark, statt. Die Verantwortung für die Vorbereitung und Durchführung hatte der Direktor des Statistischen Amtes.19 Er musste für die Einrichtung der Umtauschstellen sorgen, die Stadtsparkasse übernahm die Verteilung des neuen und die Entgegennahme des alten Geldes. Für die Durchführung nutzte man die „Infrastruktur“ des Ernährungsamtes und seine Erfahrung mit der Ausgabe von großen Mengen. Am Sonntag um sechs Uhr sortierten die Kassierer das neue Geld in die eisernen Wahlurnen des Statistikamtes und wurden in vier Omnibussen und 30 Personenwagen mit ausreichend Polizeischutz in die Zahlstellen in den Schulen gebracht. Dr. Moll hielt am Ende seines Protokolls fest, alle hätten „mit Eifer ihr Bestes“ gegeben und waren „wegen der außerordentlichen Strapazen sehr erschöpft“. „Ausdrücklich möchte ich betonen, dass nicht der geringste Verdacht absichtlicher Geldhinterziehung besteht“, war sein abschließendes Fazit.

Im Jahr 1950 wurde das Statistische Amt verkleinert. Die organisatorisch zum Kämmerer Dr. Otto Stabel gehörende Einheit verlor durch die Gründung des Presse- und Werbeamts seine Abteilung Verkehrs- und Wirtschaftsförderung und legte fortan den Schwerpunkt auf die klassischen Arbeiten der Statistik und Wahlen. Kurz vor seinem Ruhestand nach immerhin 43 Jahren im Statistischen Amt, davon 37 Jahre als sein Leiter, veröffentlichte Dr. Karl Moll 1963 das erste Statistische Jahrbuch für Ludwigshafen. Das bereits bei der Amtsgründung beabsichtigte Werk hatte, unterbrochen durch schwere Krisenzeiten, fast 50 Jahre auf sich warten lassen.

Übergang zu Stadtforschung und Stadtentwicklungsplanung Der Nachfolger von Dr. Karl Moll, Egon Dheus, trat im Oktober 1964 sein Amt an. Er veränderte das Veröffentlichungswesen und erweiterte, ganz zeitgemäß, die Aufgabenstellung um die Stadtforschung zur Erarbeitung von sozialwissenschaftlichen Grundlagen der Stadtentwicklung. Sie sollte vergangene Veränderungen, Wachstumskräfte und zukünftige Entwicklungstendenzen der Stadtentwicklung in den Blick nehmen. Egon Dheus legte hierfür jedoch nur den Grundstein, denn bereits 1965 wurde er Direktor des Amtes für Statistik in München.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

91

Historie

Sein Nachfolger, Karlheinz Hieb, führte den eingeschlagenen Weg fort und setzte neue Schwerpunkte bei der Informationsverarbeitung im Übergang zur digitalen Welt. (siehe Abbildung 6) Der anhaltende Zuzug von ausländischen Beschäftigten nach Ludwigshafen ließ die Verständigungsprobleme mit ihnen anwachsen. Daher „war es notwendig, dass die Sachbearbeiter der Lohnsteuerkartenstelle die in ihrem Arbeitsgebiet gebräuchlichen Worte in italienischer, griechischer und türkischer Sprache erlernten“20. Die Aktualisierungsarbeiten für die Plattei nahmen allerdings wachsenden Raum ein. Rund 60.000 Anschriftenplatten waren jährlich neu zu prägen. Daher wundert es nicht, dass für das Jahr 1966 geplant war, die Einwohner- und Lohnsteuerplattei der Adrema-Anlage auf das Lochkartensystem, das seit 1961 bei der Steuerverwaltung bereits im Einsatz ist, umzustellen.

Die grundlegenden Stadtforschungen Ende der 1960er Jahre gingen dann ab 1969 fließend über in die integrierte und koordinierte Stadtentwicklungsplanung. Zu diesem Zeitpunkt spielte die besondere Beziehung des damaligen Oberbürgermeisters, Dr. Werner Ludwig, zu München eine Rolle. Er schreibt in seinen Erinnerungen: „Die Entwicklung einer Stadt muss langfristig geplant werden. Dr. Hans-Jochen Vogel – mit dem ich in der SPD und im Städtetag eng zusammenarbeitete – hatte als Oberbürgermeister in München eine Stabstelle eingerichtet, nach deren Vorbild ich das Amt für Stadtentwicklung und Grundlagenforschung einrichtete, das mir unmittelbar unterstand“21. Die Aufstellung des Stadtentwicklungsplans wurde zur Hauptaufgabe des Amtes, weshalb auch die personellen Voraussetzungen geschaffen werden mussten: vier neue Mitarbeiter widmeten sich dieser umfangreichen Aufgabe. Parallel hieß das Amt seit 1974 nur noch „Amt für Stadtentwicklung“ und verlor im Namen bis heute das Wort Statistik.

Das umfangreiche Konstrukt „Stadtentwicklungsplanung“ war ganz typisch für viele deutsche Großstädte in den 1960er und 1970er Jahren. In Ludwigshafen wurden mit dem Langfris-

Abbildung 6: Lochkarte Gebäudedatei, 1968–69

92

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

tigen Entwicklungskonzept und dem 1977 beschlossenen Flächennutzungsplan wesentliche Aussagen für die räumliche und städtebauliche Entwicklung getroffen. Zusätzlich gab es zwischen 1976 und 1979 weitere Fachplanungen: Sportstätten-Leitplan, Landschaftsplan, Kindergartenbedarfsplan, Sozialplan und Spielplatzbedarfsplan. Die umfassende Klammer „Stadtentwicklungsprogramm 1990“ blieb jedoch eine unvollständige Sammlung einzelner Fachpläne, wurde als Programm nicht beschlossen, blieb hinter seinen eigenen Ansprüchen weit zurück und wurde in den Folgejahren nicht mehr regelmäßig aktualisiert. Die Statistik geriet bei diesen neuen Schwerpunkten der planenden Stadtentwicklung zwangsläufig ins Hintertreffen.

Die wachsenden Umweltkonflikte in den 1970er Jahren erweiterten vorrübergehend erheblich die Arbeitsinhalte. Die ersten Untersuchungen galten Problemen der Lärmbekämpfung, der Luftreinhaltung und des Industrie- und Verkehrslärms (1972–74). Bemerkenswert ist hierbei, dass solche Fragestellungen auch in einer von der chemischen Industrie sehr stark geprägten Stadt bearbeitet werden durften. Ein anderes neues Sachgebiet war die aufkommende Stadterneuerung. Neben dem 1971 festgelegten Sanierungsgebiet „Nord-Hemshof“ – dem damals nach Berlin-Kreuzberg zweitgrößten Sanierungsgebiet in Deutschland – kamen weitere Quartiere hinzu. Kurze Zeit später wurde dieser Komplex in ein eigenes Amt ausgegliedert. Neben den klassischen Inhalten der statistischen Berichterstattung und der Wahlorganisation etablierte sich in den 1960er Jahren das Bildungswesen. 1971 entstand der erste Schulentwicklungsplan für Ludwigshafen. Die regelmäßigen Berichte, Bedarfs- und Entwicklungspläne im Bildungssektor sind bis heute eines der kontinuierlichen Aufgabengebiete.

Untersuchungen und Berichte zur Sozialstruktur folgten in den Jahren danach. Es entstand die erste Jugendbefragung (1982), Studien zur Jugendgerichtshilfe, zur Jugendkriminalität, zur stationären Altenpflege, über Alleinerziehende und zur Sozialhilfebedürftigkeit, um nur eine Auswahl zu nennen.

Historie

EU und Umfragen – Das Arbeitsgebiet wächst Seit 1993 wurde eine weitere Kernkompetenz aufgebaut: Die Durchführung von Bürgerumfragen, wovon es mittlerweile sechs gibt. Die jüngste datiert aus dem Jahr 2013.

Nach einer innerstädtischen Umstrukturierung im Jahr 2002 kamen die Aufgaben „Regionalplanung“ und „EU-Förderung“ zum ehemaligen „Amt“, das mittlerweile „Bereich für Stadtentwicklung“ heißt. Im selben Jahr hat der Stadtrat beschlossen, einen Stadtentwicklungsausschuss und einen Stadtentwicklungsbeirat zu gründen. Die Geschäftsführung wurde dem Bereich Stadtentwicklung übertragen. Beide Gremien dienen der Diskussion von Themen, die für die Stadtentwicklung bedeutsam sind und zur Vorbereitung von Stadtratsbeschlüssen zur Stadtentwicklung. Der Beirat hat eine beratende Funktion und besteht aus Vertretern Ludwigshafener Institutionen.

Zu den anderen kontinuierlichen Aufgaben, die der Bereich heute wahrnimmt, zählen der Mietspiegel (seit 1979), die Sozialberichterstattung, Analysen, Berichte und Konzepte zum Einzelhandel (seit 1968), die Auftragsstatistiken für das statistische Landesamt Rheinland-Pfalz, regelmäßige Aktualisierung und Veröffentlichung des Straßenverzeichnisses, die Wahlhelfergewinnung sowie die Feststellung und Berichterstattung der Wahlergebnisse. Eine Aufgabe, die 1914 formuliert wurde, ist bis heute im Fokus: Die Publikation wichtiger Ergebnisse.

Die Veröffentlichungspraxis kennt zwei Säulen, die sowohl digital auf der städtischen Homepage, als auch in gedruckter Form erscheinen: die Schriftenreihe „Informationen zur Stadtentwicklung“ (seit 1972, sie enthält unter anderem den Statistischen Jahresbericht und das Statistische Jahrbuch) und Abbildung 7: Neue Schwerpunkte, Koordination der EU-Förderung

die „Stadtteilpässe“ (seit 2003). Neben den oben genannten Standardaufgaben, ist die digitale Bereitstellung kommunaler Daten ein aktuell wachsendes Thema. Erschwerend ist die kommunale Finanznot, gepaart mit personellen Wechseln im eigenen Bereich. Trotz allem möchten wir die Netzwerke des Kosis-Verbunds stärker nutzen und planen den Einsatz neuer Instrumente des Datenmanagements für Ludwigshafen.

Die ausführliche Publikation „100 Jahre Städtestatistik in Ludwigshafen am Rhein“ steht als Download unter www.ludwigshafen.de/nachhaltig/stadtentwicklung/veroeffentlichungen, Nr. 3/2014, zur Verfügung oder wird Mitgliedern des VDST auf Bestellung an den Autor unentgeltlich zugesendet.

1

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

15 16 17

18 19 20 21

Die erste Publikation des Statistischen Amtes erschien 1919. Mit Ausnahme einer kriegsbedingten Lücke von 1938–45 werden bis heute durchgehend Veröffentlichungen herausgegeben. Die Verwaltungsberichte wurden 1974 leider eingestellt. Ab diesem Jahr ist die Quellenlage deutlich dürftiger und lückenhafter.

Siehe auch Grohmann, Heinz, 2004, Von den Wurzeln der Statistik zum Informationsmanagement. In: Stadtforschung und Statistik, 2/2004, S. 34.

Jahresangaben aus Meyer, M., 1938, Die deutsche Städtestatistik in ihren Vertretern. Nürnberg, S. 11 f.

Zusammengefasst aus dem Stadtratsbeschluss, Stadtarchiv Ludwigshafen (StA), PA I 38, S. 116–121.

Bericht von Dr. Klose an den Stadtrat, StA, Akte LuA 588, S. 3–10.

Verwaltungsbericht der Stadt Ludwigshafen 1915, Vorbemerkung.

StA, Akte LuA 588, S. 299 f.

Verwaltungsbericht der Stadt Ludwigshafen 1923, S. 36.

Siehe ausführlicher bei Appel, Werner, 2015, Der Ebertpark. Ludwigshafen, S. 36–66.

Verwaltungsbericht der Stadt Ludwigshafen 1925, S. 48.

Dr. Albert Zwick baute nach 1945 das Statistische Landesamt von Rheinland-Pfalz in Bad Ems auf, dessen Leiter er bis 1957 war.

Der Oberbürgermeister konnte seine Haut solange retten, bis er die Interessen der Stadt über die der Gauleitung der NSDAP stellte, dann musste er abdanken.

Personalakte Dr. Moll, StA, Akte LuN 5102.

StA, Akte Ds 662-1. Da die Denkschrift nicht in dem damals üblichen Formaten gedruckt ist, ist ziemlich sicher, dass sie nicht veröffentlicht wurde. Sie war also für den internen Gebrauch und eventuell für die Stadträte bestimmt.

Verwaltungsbericht der Stadt Ludwigshafen, 1935, S. 26.

Verwaltungsbericht der Stadt Ludwigshafen 1935, S. 29.

StA, Akte LuN 59. Die Akte LuN 59 im Stadtarchiv enthält eine Reihe von sehr wertvollen Berichten über die Verhältnisse in Ludwigshafen in den Jahren 1945 bis 1950, die fast alle von Dr. Karl Moll, dem Leiter des Statistischen Amtes geschrieben wurden. Besonders hervorzuheben sind folgende Texte: „Ludwigshafen am Ende des Krieges 1945“, „Ludwigshafen und seine Bevölkerung“ und „Not und Elend in Ludwigshafen“.

Die folgenden Angaben stammen aus StA, Akte LuN 59.

Die folgenden Angaben stammen aus StA, Akte LuN 60.

Verwaltungsbericht der Stadt Ludwigshafen, 1964, S. 22.

Ludwig, Werner, 1997, Unterwegs. Neustadt a. d. W., S. 160.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

93

Entdeckt Rezension

Kinderarmut in Deutschland Eric Seils, Hans-Böckler-Stiftung

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung beschäftigt sich seit vielen Jahren unter anderem mit Fragen der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen. Zu diesen Themen bietet der WSI Verteilungsmonitor aktuelle Grafiken, Daten und weiterführende Informationen.

Aktuell hat WSI-Forscher Eric Seils anhand von Daten des Mikrozensus 2014 die Lebenslage von Kindern untersucht.

Kinder sind in Deutschland nach wie vor besonders von Armut betroffen: 19 Prozent aller Mädchen und Jungen unter 18 Jahren leben in einem einkommensarmen Haushalt. Die Unterschiede nach Region sind weiterhin beträchtlich.

Auch wenn die Messgröße „Armutsgrenze“ (60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens der Bevölkerung in Privathaushalten) nicht unumstritten ist (siehe dazu: Stadtforschung und Statistik 2/2013), gibt der Vergleich der Kinderarmut 2005 bis 2014 einen guten Einblick in die regionalen Einkommensunterschiede. Sehr lobenswert ist auch, dass die Daten für den gesamten Zeitraum in weiterverarbeitbarer Form zur Verfügung stehen.

Die wichtigsten Daten und Hintergrundinformationen zur Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren sowie zu den möglichen Auswirkungen der aktuellen Einwanderungswelle können im Internet abgerufen werden.

Text: Hubert Harfst

94

& WSI-Verteilungsmonitor Special Feature, Januar 2016, Text, Abbildungen und Daten kostenfrei abrufbar im Internet unter www.boeckler.de/wsi_62998.htm

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

Entdeckt Bücher

Shell Jugendstudie – Das Standardwerk der Jugendforschung in Deutschland Shell Deutschland (Herausgeber)

Was denkt die Jugend im Jahr 2015? Wie sicher fühlen sich Jugendliche in Anbetracht steigender Jugendarbeitslosigkeit in Europa? Welche Erwartungen und Werte haben junge Menschen?

Die 17. Shell Jugendstudie setzt die Langzeitberichterstattung über die junge Generation in Deutschland seit über 60 Jahren fort und dokumentiert die Lebenswelten und Wünsche Heranwachsender. Die Studie basiert auf den Ergebnissen repräsentativer Befragungen im ersten Halbjahr 2015. Ob und inwieweit sich die Einstellungen und Meinungen

im zweiten Halbjahr 2015 geändert haben, ist leider nicht erfasst.

Zusammenfassung der Studie (PDF, 98 KB): http://s01.static-shell.com/content/dam/ shell-new/local/country/deu/downloads/pdf/shell-jugendstudie-2015-zusammenfassung-de.pdf Text: Verlag/Hubert Harfst

& 978-3-596-03401-7, 19,99 Euro, 448 Seiten, erschienen als FISCHER Taschenbuch, Frankfurt/Main, Oktober 2015

Zensus Kompakt – Endgültige Ergebnisse des Zensus 2011 Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Herausgeber)

Auf knapp 100 Seiten gibt das nun aktualisierte Heft „Zensus Kompakt“ einen Überblick über die endgültigen Zahlen des Zensus 2011 für Deutschland insgesamt und die einzelnen Bundesländer.

Das im Januar 2015 von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder herausgegebene Heft enthält umfassende Daten zur Bevölkerungsstruktur, zum

Gebäude- und Wohnungsbestand sowie zu Haushalts- und Familienzusammenhängen in Deutschland.

Text: Herausgeber & Das Heft kann als PDF-Datei kostenlos heruntergeladen werden unter www.statistikportal.de. Die Print-Version ist ebendort für 6 Euro erhältlich.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

95

Entdeckt Bücher

Reurbanisierung in baden-württembergischen Stadtregionen Axel Fricke, Stefan Siedentop, Philipp Zakrzewski (Herausgeber)

& ISBN 978-3-88838-398-4, 33,90 Euro Erschienen bei der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL). Hannover. 1. Aufl. 2015, 205 S. Kostenfrei abrufbar unter http://shop.arl-net.de

96

Die Suburbanisierung als intraregionale Dekonzentration hat in den baden-württembergischen Stadtregionen deutlich an Dynamik eingebüßt, teilweise hat sie sich sogar in eine „Reurbanisierung“ umgekehrt. Über die Hintergründe und Dauerhaftigkeit dieses Phänomens ist eine lebhafte Debatte entbrannt. So ist zu hören, der aktuelle Reurbanisierungstrend sei ein temporärer Effekt, bedingt durch besondere demographische und bildungspolitische Konstellationen.

Andere betrachten die Reurbanisierung als Ergebnis eines sozioökonomischen Strukturwandels und damit als neue, dauerhafte Phase der Stadtentwicklung. Unsicherheiten bestehen darüber hinaus auch im Hinblick auf eine evidenzbasierte Bewertung der Wirkungen von Reurbanisierung und angemessene politische Antworten.

Vor diesem Hintergrund verfolgt dieser Band das Anliegen, eine Bestandsauf-

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2016

nahme aktueller demographischer Entwicklungsprozesse in Deutschland und Baden-Württemberg vorzunehmen und zum Gegenstand einer raumordnungsund stadtentwicklungspolitischen Positionsbestimmung zu machen. Welche Bevölkerungsgruppen und welche Wanderungstypen bestimmen den Reurbanisierungstrend? In welchem Maße könnten sich Reurbanisierungsprozesse als persistent erweisen? Welche planerischen Strategien und Konzepte werden in baden-württembergischen Städten bereits verfolgt? Welche mittel- und langfristigen Herausforderungen offenbaren sich für Stadtplanung und Politik?

Auf diese und weitere Fragen rund um das Thema Reurbanisierung in BadenWürttemberg versuchen die Autoren aus Wissenschaft und Praxis Antworten zu geben.

Text: Verlag