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Zur statistischen Erfassung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in den USA: Die „Point-in-Time“ Zählung am Beispiel von Portland, Oregon

Ingo Heidbrink

Zur statistischen Erfassung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in den USA

Die „Point-in-Time“-Zählung am Beispiel von Portland, Oregon

In den USA existiert seit dem Jahr 2003 mit der „Point-in-Time“Zählung eine regelmäßige statistische Erfassung von Personen, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit erfahren. Im Rahmen dieser Stichtagserhebung werden in einer festgelegten Nacht im Januar Personen, die „auf der Straße“ ohne Obdach leben, sowie wohnungslose Personen in Unterkünften nach einer US-weit einheitlichen Methode gezählt. Der vorliegende Beitrag stellt die Methode am Beispiel von Portland/Gresham/Multnomah County im Bundesstaat Oregon vor und erläutert Möglichkeiten und Schwächen.

Dipl.-Geograph Ingo Heidbrink

wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt für Statistik und Wahlen, Abt. Statistik und Stadtforschung, der Landeshauptstadt Düsseldorf : ingo.heidbrink@duesseldorf.de

Schlüsselwörter:

Obdachlosigkeit – Wohnungslosigkeit – Obdachlosenzählung – USA – Portland – Point in Time

Einleitung

Wohnungslosigkeit ist in den USA ein gesamtgesellschaftliches Problem, das im Kontext der Krise des Wohnungsmarktes und unzureichender sozialstaatlicher Instrumente betrachtet werden muss (NLCHP 2017). Das U.S. Department of Housing and Urban Development verö entlicht regelmäßig Zahlen zum Ausmaß von „homelessness“1. Im Jahr 2019 ergab die o zielle Zählung, dass in einer einzigen Nacht im Januar ca. 568.000 Menschen in den USA als wohnungs- oder obdachlos galten (HUD 2020). Auch wenn diese Zahl auf den ersten Blick hoch erscheinen mag, wird vielfach angemerkt, dass die Erfassungsmethode Beschränkungen aufweist, die zu einer Untererfassung des Problems führen.

Nicht erst seit der großen Rezession des Jahres 2008 und der sich daran anschließenden sozialen Verwerfungen ist Obdachlosigkeit in vielen amerikanischen Großstädten zu einem sehr sichtbaren Bestandteil des ö entlichen Lebens geworden. Besonders deutlich wird dies in den Metropolen der Bundesstaaten der Westküste, wie Los Angeles, San Francisco, Seattle und Portland. Dort leben Obdachlose in großer Zahl in Zelten, provisorischen Behausungen, auf den Gehwegen, Plätzen oder an Rändern von vielbefahrenen Highways. In einigen amerikanischen Städten haben sich ganze Stadtviertel zu Zeltstädten von Obdachlosen entwickelt (z.B. Los Angeles, Skid Row). Die Soziologin Jutta Allmendinger, die auch in Deutschland zum Thema Wohnungsarmut forscht, nennt die US-amerikanischen Zustände ein „Höllenvorbild“ für Deutschland und emp ehlt das Thema im Rahmen der Armutsforschung stärker in den Blick zu nehmen (Interview in Die Zeit vom 28.11.2019). Hierzu bedarf es einer verlässlichen Datengrundlage über das Ausmaß von Wohnungs- und Obdachlosigkeit, wie von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe seit Jahren gefordert wird (BAGW 2020).

In Deutschland existiert eine regelmäßige Berichterstattung zum Thema Wohnungsnot bislang ausschließlich auf Landesebene von Nordrhein-Westfalen (MAGS 2018). Diese erfasst jedoch nur untergebrachte wohnungslose Personen und solche, die den Fachberatungsstellen als wohnungslos bekannt sind. Obdachlose, die ohne jede Unterkunft „auf der Straße“ leben und keine Beratungsstellen aufsuchen, werden nicht erfasst. Obdachlosenzählungen, die diese Lücke schließen könnten, wurden in Deutschland bislang nur von den Städten Berlin, Hamburg und München in Eigenregie durchgeführt2. Mit dem zum 1. April 2020 in Kraft getretenen

Gesetz zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung (WoBerichtsG 2020) wurde ein erster Schritt zur Verbesserung der bundesweiten Datenlage zum Thema Wohnungslosigkeit gemacht.

In den USA wird bereits seit dem Jahr 2003 regelmäßig das Ausmaß von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in einer kombinierten Zählung, der sogenannten „Point-in-Time“-Zählung, erfasst und darüber berichtet. Diese US-weite Erhebung bezieht sich sowohl auf Personen, die ohne jede Unterkunft obdachlos „auf der Straße“ leben, als auch auf wohnungslose Personen, die temporär in Notunterkünften und Übergangswohnheimen unterkommen. Der vorliegende Beitrag3 gibt einen kurzen Einblick in die Methode der Zählung am Beispiel von Portland/ Gresham/Multnomah County4 im US-Bundesstaat Oregon. Er stellt die Möglichkeiten und den Nutzen dieser Erhebung dar, blickt aber auch kritisch auf die methodischen Schwierigkeiten. Anhand ausgewählter Ergebnisse des Jahres 2019 werden beispielhaft Aussagen zu Ausmaß und Entwicklung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Portland dargestellt und vor dem Hintergrund der methodischen Fragen diskutiert.

Die Zählmethode

In den USA ist das U.S. Department of Housing and Urban Development (HUD) die für Wohnungs- und Obdachlosigkeit zuständige Behörde, die die Richtlinien der Zählung vorgibt und die gesammelten Ergebnisse auf nationaler Ebene in einem jährlich erscheinenden Bericht an den Kongress verö entlicht. Die Datenerhebung selbst, die „Point-in-Time“Zählung (PIT-Zählung), erfolgt auf der räumlichen Ebene der Continuum of Care (CoC). Dies sind lokale Planungseinheiten, die für die Koordinierung der Obdachlosendienste in einem Gebiet, das den Abgrenzungen einer Stadt, eines County oder einer Metropolregion entsprechen kann, zuständig sind. Die CoCs sind verantwortlich für die Durchführung der Zählungen und berichten an das HUD, das die lokalen Maßnahmen mit Bundeszuschüssen unterstützt. Um sicher zu gehen, dass die US-weiten Zählungen vergleichbare Ergebnisse hervorbringen, wird die Zählmethode weitestgehend vorgegeben. Das Datum der Zählung soll möglichst immer innerhalb der letzten zehn Tage im Januar liegen. Als Stichtagszählung handelt es sich somit um eine reine Momentaufnahme (HUD 2015).

Die Zählung besteht aus zwei Teilen: Die Straßenzählung (unsheltered count) soll all jene Personen erfassen, die ungeschützt an einem ö entlichen Ort übernachten, der in der Regel nicht als reguläre Schlafgelegenheit für Menschen konzipiert wurde (HUD 2019). Sie wird in den USA seit dem Jahr 2003 im mindestens zweijährigen Turnus durchgeführt, wobei einige CoCs darüber hinaus jährlich zählen. Ergänzt werden die Angaben aus der Straßenzählung durch die Erfassung der wohnungslosen Personen in Unterkünften (sheltered count). Dabei wird unterschieden zwischen Notunterkünften5 und Übergangswohnheimen6. Beide Zählungen nden in derselben Nacht statt. Viele CoCs erheben im Rahmen der Zählung freiwillig demogra sche Zusatzmerkmale, wie zum Beispiel das Alter, die ethnische Zugehörigkeit oder die Haushaltsstruktur. Bei der Durchführung der Zählung sind die CoCs auf die Unterstützung von Organisationen, die in der Wohnungs- und Obdachlosenarbeit vor Ort tätig sind sowie auf zahlreiche ehrenamtliche Helfer angewiesen. Die ermittelten Daten werden nach Angaben des HUD von Politik, Planungsbehörden und gemeinnützigen Organisationen genutzt, um die Vergabe von Fördermitteln zu steuern, Pläne und Strategien auszurichten und um die Angebotsstruktur zu koordinieren (HUD 2019).

Die an der „Point-in-Time“-Methode geübte Kritik bezieht sich auf eine Reihe unterschiedlichster Aspekte und Beschränkungen. Vielfach wird kritisiert, dass die zugrunde gelegte De nition zu eng sei und verschiedene Personengruppen ausschließt. Dies betri t zum Beispiel Personen und Familien, die ohne feste Wohnadresse bei Freunden, Verwandten und Bekannten unterkommen und im Amerikanischen informell als „doubled-up“ bezeichnet werden. Eine Untersuchung der Portland State University kommt mit Blick auf die Region Portland zu dem Ergebnis, dass unter Beachtung der „doubled-up“-Wohnungslosen ca. 2 % der Gesamtbevölkerung als wohnungs- oder obdachlos gelten (PSU 2019a). Darüber hinaus bleiben jene Personen unberücksichtigt, die am Tag der Zählung in Krankenhäusern und Gefängnissen untergebracht waren. Da unter diesen „unsichtbaren“ Wohnungs- oder Obdachlosen ein hoher Anteil Angehöriger der „People of color“7 ist, wird das Ausmaß der Betro enheit dieser Bevölkerungsgruppe durch die Ergebnisse der PIT-Zählung unterschätzt (NLCHP 2017).

In einigen Bundesstaaten werden zudem verschärfte Obdachlosengesetze, eine zunehmende Kriminalisierung von und Gewalt gegen Obdachlose als Gründe dafür benannt, dass diese Menschen verborgene Orte aufsuchen, an denen sie in der Nacht der Zählung nicht angetro en werden. Des Weiteren wird kritisiert, dass es sich bei der Zählung um eine Stichtagserhebung handelt, die keine Aussage zur Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen im Verlaufe eines Jahres ermöglicht (ECONorthwest 2018). Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf den vorgegebenen Zeitpunkt der Zählung im Winter, einer Jahreszeit, in der es am wahrscheinlichsten ist, das Obdachlose Schutz an den unterschiedlichsten Orten suchen und daher weder auf der Straße noch in Unterkünften angetro en werden. Diese Aspekte der Untererfassung können zudem durch die Anzahl der freiwilligen Straßenzähler und auch durch die vorherrschenden Wetterbedingungen beein usst werden (NLCHP 2017).

Das Beispiel Portland

Die Stadt Portland liegt im Nordwesten der USA im Bundesstaat Oregon an der Grenze zu Washington. Sie ist mit über 648.000 Einwohnern die größte Stadt und das wirtschaftliche Zentrum des Bundesstaates. Portland ist zudem Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Multnomah County mit ca. 813.000 Einwohnern. Die weit über die städtischen und über die County-Grenzen hinausgehende Metropolregion PortlandVancouver-Hillsboro hat knapp 2,5 Millionen Einwohner und ist derzeit auf Rang 25 der größten Metropolregionen der USA (U.S. Census Bureau 2018).

Die Einwohnerzahl der Stadt Portland nahm zwischen 2010 und 2018 um knapp 65.000 Personen zu (+ 11,1 %). Der Verwaltungsbezirk Multnomah County verzeichnete im selben

Abbildung 1: Portland in Oregon/USA

Portland

OREGON

Quelle: Portland State University, Institute of Portland Metropolitan Studies

Zeitraum ein Wachstum von 76.500 Personen (+ 10,4 %). In der Metropolregion Portland-Vancouver-Hillsboro wuchs die Bevölkerungszahl im Betrachtungszeitraum um 11,7 % auf knapp 2.492.000 im Jahr 2018 (Abb. 2).

Nicht nur demographisch, auch wirtschaftlich betrachtet hat Portland ein Jahrzehnt des Wachstums hinter sich. Die Wirtschaft wächst insbesondere in den wissensintensiven Branchen. Portland ist Teil des sogenannten „Silicon Forest“, einer Region in der sich zahlreiche Hightech-Unternehmen be nden, wie der Halbleiterhersteller Intel, der mit ca. 20.000 Arbeitnehmern am Standort Hillsboro der größte Arbeitgeber der Metropolregion ist. Die Beschäftigtenzahlen in der Region sind seit 2010 um 24,4 % gestiegen. Die Arbeitslosenquote liegt seit dem Jahr 2017 durchgehend auf dem niedrigsten Stand bei 3,9 %8 (Potiowsky 2019). Der wirtschaftliche Boom hat die Region Portland insbesondere für jüngere, gut ausgebildete Fachkräfte in der Altersklasse 25 bis 39 Jahre attraktiv gemacht. In den Jahren nach der großen Rezession hatte die Metropolregion die sechst höchste Nettomigrationsrate9 dieser Bevölkerungsgruppe im Vergleich der 50 größten U.S. Metropolregionen (Jurjevich et al 2017). Das durchschnittliche Haushaltseinkommen stieg zwischen 2011 und 2016 um rund 9 % (U.S. Census Bureau, ACS Estimates). Portland’s Attraktivität erklärt sich auch aus der Tatsache, dass die Stadt innerhalb der USA als ausgesprochen liberal und progressiv sowie nachhaltigkeitsorientiert in der Stadt- und Verkehrsplanung gilt.

Allerdings ist mit dem wirtschaftlichen Erfolg und der Attraktivität der Stadt ein zunehmender Mangel an bezahlbarem Wohnraum verbunden. Ebenso wie Seattle und San Francisco erlebt Portland ein „housing trilemma“ (Chanay et al 2018): Eine starke Wirtschaft und eine hohe Lebensqualität gehen zu Lasten der Erschwinglichkeit von Wohnraum. Portlands wirtschaftlicher Erfolg kommt nicht allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zugute, sondern verschärft die Situation für Haushalte mit geringen Einkommen. Zwischen 2011 und 2016 verzeichneten nur die höheren Einkommensklassen Zunahmen ihrer Einkünfte, während die unteren Einkommen in diesem Zeitraum stagnierten oder sogar abnahmen. Gleichzeitig stiegen die durchschnittlichen Angebotsmieten zwischen 2011 und 2019 um 48% (Portland Housing Bureau, CoStar Data). Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass insbesondere Haushalte mit geringen Einkommen von einer seit Jahren steigenden Mietkostenbelastung betro en sind.

In Portland fand die PIT-Zählung des Jahres 2019 in der Nacht des 23. Januar statt. Die Organisation und Durchführung der Zählung und die Auswertung und Verö entlichung der Daten erfolgten in Zusammenarbeit zwischen der Portland State

Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung Stadt Portland, Multnomah County und Metropolregion Portland-Vancouver-Hillsboro, 2010, 2015 und 2018

Quelle: U.S. Census Bureau, Portland State University, Population Research Center

Abbildungen 3 und 4: Straßenszenen in Portland Downtown, August 2019

Fotos: Heidbrink, 2019 University (PSU), dem Joint O ce of Homeless Services (JOHS) in Multnomah County und dem Portland Housing Bureau. Für die Straßenzählung wurden zunächst auf der Grundlage von bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Standorte von Obdachlosenlagern10 und dem Wissen von Experten der Hilfsorganisationen jene Gebiete bestimmt, an denen mit hoher Wahrscheinlichkeit obdachlose Personen anzutre en sind. Das so de nierte Untersuchungsgebiet wurde in 13 Zonen unterteilt. Jede Zone wurde einer vor Ort tätigen, gemeinnützigen Hilfsorganisation zugeteilt, die die Koordination der Interviewer in diesem Gebiet übernahm. Mehr als 270 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von insgesamt 88 Organisationen sowie Ehrenamtliche haben Obdachlose in jener Nacht an ihren Übernachtungsorten aufgesucht, gezählt und befragt. Die Befragung fand anhand eines Fragebogens mit 14 Fragen statt (PSU 2019b). Die Zahl der wohnungslosen Personen, die sich in der Nacht der Zählung in Notunterkünften und Übergangsunterkünften aufhielten, wurde von den Einrichtungen bereitgestellt oder einer kommunalen Datenbank11 entnommen. Die zusammengeführten Daten und die statistischen Auswertungen wurden wie in den vorherigen Jahren in Form eines Analyseberichtes verö entlicht und zudem erstmals im Jahr 2019 online als Dashboard im Internet verö entlicht (http://ahomeforeveryone.net/point-in-time-dashboard; abgerufen am 07.06.2020).

Die PIT-Zählung ergab, dass insgesamt 4.015 Personen in Portland entsprechend der HUD-De nition als obdach- bzw. wohnungslos galten. Davon lebten 2.037 (50,7 %) Personen ungeschützt „auf der Straße“. Weitere 1.459 (36,3%) wohnungslose Personen lebten in Notschlafstellen und 519 (12,9%) Personen in Übergangswohnheimen. Gegenüber dem Jahr 2017 nahm die Gesamtzahl der als wohnungs- bzw. obdachlos identi -

Abbildung 5: Wohnungs- und obdachlose Personen in Portland nach Lebenssituation, gemäß HUD-De nition, 2009 bis 2019

6.000

5.000

4.000

3.000

2.000

1.000

0 4.145

1.690

864 4.655 4.441

1.928 1.572 3.801

1.042

1.009 974 872 4.177 4.015

757 519

1.752 1.459

1.591 1.718 1.895 1.887 1.668 2.037

2009 2011 2013 2015 2017 2019 Ungeschützt in Notunterkünften in Übergangswohnheimen

Quelle: Portland State University, Point-in-Time Count 2019, eigene Darstellung

zierten Personen um 162 Personen geringfügig ab (- 4,0 %). Verglichen mit den Ergebnissen der Vorjahre zeigt sich, dass nur im Jahr 2015 eine geringere Gesamtzahl ermittelt wurde (3.801).

Betrachtet man nur die Entwicklung der gezählten Straßenobdachlosen zeigt sich ein Anstieg zwischen 2017 und 2019 von 1.668 auf 2.037 (+ 22,1 %). In der Zeitreihe seit 2009 ist dies der höchste absolute und auch relative Wert dieser Teilgruppe. Mit einem Anteil von 50,7 % lebten in der Nacht der Zählung somit mehr als die Hälfte der von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betro enen Personen in Portland „auf der Straße“. Die Zahl der Personen in Übergangswohnheimen sank seit 2011 kontinuierlich von knapp 2.000 auf 519. Die Zahl der Personen in Notschlafstellen verdoppelte sich 2017 gegenüber 2015 auf 1.752 (+880) und ging im Jahr 2019 auf 1.459 Personen wieder zurück (Abb. 5).

Verschiedenste Ein ussfaktoren sollten bei der Interpretation der zeitlichen Verläufe berücksichtigt werden. So wird davon ausgegangen, dass der Rückgang der Gesamtzahl der Wohnungs- und Obdachlosen im Jahr 2019 größtenteils auf die Maßnahmen der in der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe tätigen Einrichtungen zurückzuführen ist (PSU 2019b). Unter der Bezeichnung „A Home for Everyone“ (AHFE) arbeitet in Portland/Gresham/Multnomah County ein Zusammenschluss von Behörden, gemeinnützigen Trägern und Wirtschaftsvertretern daran, Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu reduzieren. AHFE’s Ansatz umfasst Präventionsprojekte (homelessness prevention), Projekte die Obdachlose beim Übergang in permanenten Wohnraum unterstützen (permanent housing placement) und die Unterhaltung von Notunterkünften. Zwischen 2015 und 2019 stieg die Zahl der durch AHFE unterstützten Personen in „housing placement“-Projekten von 4.700 auf knapp 9.000 (+91%) und die Zahl derer in „homeless prevention“-Projekten von 1.680 auf knapp 3.500 (+ 108%). Trotz dieser Maßnahmen hat sich die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen im selben Zeitraum nur geringfügig verändert (Abb. 6). Das Forschungsinstitut ECONorthwest geht davon aus, dass ohne die erfolgten AHFE-Maßnahmen die Zahl der wohnungs- und obdachlosen Personen deutlich höher läge (ECONorthwest 2018).

Weitere methodisch bedingte Ein üsse auf die in Abbildung 5 dargestellten Veränderungen sind: Die höhere Zahl von freiwilligen Helfern und Interviewern im Jahr 2019, wodurch vermutlich mehr Straßenobdachlose erfasst werden konnten als im Jahr 2017. Zudem war der Winter 2019 vergleichsweise mild, während 2017 ein besonders kalter Winter in der Region war, was dazu geführt haben könnte, dass 2017 mehr Obdachlose in Notunterkünften oder „unsichtbar“ bei Verwandten und Bekannten unterkamen. Demgegenüber geht der Rückgang von Personen in Übergangswohnheimen auf einen vom HUD initiierten Strategiewechsel zurück, wonach ein Teil der bestehenden Plätze in staatlich geförderten Übergangswohnheimen in kostengünstigeren dauerhaften Wohnraum (permanent housing) umgewandelt wurde (PSU 2019b).

Die an die PIT-Zählungen gekoppelten Befragungen ermöglichen über die Gesamtzahlen hinaus weiterführende Aussagen zu soziodemogra schen Merkmalen sowie zur Lebenssituation. Merkmale die im Rahmen der Befragung in Portland erhoben werden sind unter anderem: Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Dauer der Obdachlosigkeit, Dauer des Aufenthalts vor Ort, gesundheitliche Einschränkungen, Veteranenstatus und die Frage, ob die Person in der Nacht der Zählung alleine war oder in Begleitung.12

Da die Befragung eine freiwillige Beteiligung voraussetzt, ist unter Berücksichtigung der oftmals schwierigen persönlichen Umstände der Befragten mit einem vergleichsweise

Abbildung 6: Wohnungs- und obdachlose Personen gemäß HUD-De nition sowie Personen die im Rahmen von AHFE-Projekten Unterstützung erhielten, Portland, 2013 bis 2019

10000

8000

6000

4000

2000 Wohnungs- und obdachlose Personen nach HUD-Definition

Personen in "housing placement"Projekten

Personen in "homeless prevention"Projekten

0

2013 2015 2017 2019 Anmerkung: Zur besseren Vergleichbarkeit wurde den PIT-Daten mit Stichtag 23.1.2019 ein Datenbankabzug der im Rahmen von AHFEProjekten unterstützten Personen zum 31.1.2019 gegenübergestellt. Quelle: Portland State University, Point-in-Time Count 2019, eigene Darstellung

hohen Anteil von Verweigerungen zu rechnen. 2019 wurden im Rahmen der Straßenzählung von den insgesamt 2.037 gezählten Obdachlosen 707 komplett verweigerte Befragungen (34,7 %) erfasst. Darüber hinaus enthalten die ausgefüllten Fragebögen häu g Lücken, da nicht jede Frage beantwortet wurde. Generell wird angemerkt, dass die Qualität der Befragungsergebnisse stark von der Befragungssituation, dem gesundheitlichen Zustand der Befragten und der jeweiligen Frage abhängt. Während die Antworten zu den Fragen nach dem Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und Veteranenstatus vergleichsweise zuverlässige Ergebnisse liefern, sind die Selbsteinschätzungen der Befragten zur Dauer der Obdachlosigkeit und zur gesundheitlichen Situation oftmals weniger zuverlässig.

Eine weitere Einschränkung betri t den Vergleich von Befragungsergebnissen zwischen den Jahren. Im Jahr 2019 wurden in Portland, mit Blick auf die Planung und den Einsatz der freiwilligen Helfer, die bislang größten Anstrengungen unternommen valide Ergebnisse zu erhalten. So wurden für die Straßenzählung des Jahres 2019 in etwa doppelt so viele und besser geschulte Interviewerinnen und Interviewer eingesetzt als 2017.

Dennoch liefern die Befragungen wichtige Zusatzerkenntnisse auf die Fragen, welche Bevölkerungsgruppen überproportional häu g von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betro en sind und welches die au älligsten Problemlagen sind. ECONorthwest identi ziert als die zwei wichtigsten lokalen Trends von Obdachlosigkeit in der Region Portland: 1. Angehörige der „People of color“ sind häu ger von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit betro en als Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft. Von allen Wohnungs- oder

Obdachlosen in Portland gehören 38,1% zur Gruppe der „People of color“, wohingegen diese nur 29,5 % der Gesamtbevölkerung stellen. Die weiße Bevölkerung hingegen macht 70,5% der Gesamtbevölkerung aus, gegenüber einem Anteil von 58,4 % in der Gruppe aller Wohnungs- und Obdachlosen.13 Jedoch ist davon auszugehen, dass das Ausmaß der Überrepräsentanz der „People of color“ in der Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit größer ist als die

PIT-Ergebnisse aussagen. Denn die Zählung schließt die „doubled-up“-Bevölkerung aus und wohnungslose „People of color“ leben überproportional häu g ohne feste

Wohnadresse bei Verwandten oder Freunden und sind somit für die Statistik unsichtbar (PSU 2019b). 2. Der Anteil der Personen die das HUD als „chronically homeless“ de niert, ist im Jahr 2019 in Portland auf 44,1 % angestiegen. Somit sind, unter Berücksichtigung der

Schwierigkeiten bei der Erfassung dieser Daten, 1.769 Personen in Portland ermittelt worden, die seit mindestens einem Jahr obdach- bzw. wohnungslos sind und mindestens eine oder mehrere gesundheitliche Einschränkungen haben. Von diesen Personen lebte der überwiegende Teil (66,5%) „auf der Straße“. Unter diesen ungeschützt lebenden „chronisch Obdachlosen“ ist der Anteil an psychischen

Erkrankungen (41,2%) und Drogenabhängigkeit (45,6 %) am höchsten. Diese besonders gefährdeten Personen benötigen spezielle Hilfen, die über eine reine Versorgung mit Wohnraum hinausgehen.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die PIT-Zählung trotz methodischer Schwächen als hilfreiches Instrument angesehen wird, um statistische Grundlageninformationen zur Anzahl wohnungs- und obdachloser Personen in den USA zu erheben. So werden besondere Problemlagen und Bedürfnisse von betro enen Bevölkerungsgruppen erkannt, aus denen sich zielgerichtete Hilfsmaßnahmen ableiten lassen. Zudem wird von Experten betont, dass die PIT-Daten einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte zum Thema leisten. Hervorzuhebenden ist die einheitliche Methode, ein regelmäßiger Turnus, die zeitgleiche Erfassung von Straßenobdachlosigkeit und wohnungslosen Personen in Unterkünften, und die von vielen CoCs genutzte Option im Rahmen der Erhebung weitere Aspekte abzufragen.

Allerdings wurde aufgezeigt, dass die zugrunde gelegte De nition eine Reihe von Personengruppen ausschließt, woraus eine Untererfassung resultiert. Es ist wichtig auf diese Einschränkung hinzuweisen und zu betonen, dass die gezählten Wohnungs- und Obdachlosen nur den sichtbaren Teil eines größeren Problems abbilden, das in den USA in engem Zusammenhang mit der „a ordable housing crisis“ gesehen wird. Die Daten der PIT-Zählung geben weder Auskunft über die Gründe für Wohnungs- und Obdachlosigkeit noch über die E ektivität der Strategien und Maßnahmen zur Bekämpfung des Problems. Beide Aspekte sollten bei der Interpretation der PIT-Ergebnisse berücksichtigt werden. Hinzu kommt, dass zeitliche Vergleiche aufgrund methodisch bedingter Ein üsse schwierig sind und ohne Hintergrundwissen zu Fehlinterpretationen führen können.

Insgesamt ist der Eindruck entstanden, dass die Planungsbehörden und handelnden Akteure in den Städten und Countys, die Möglichkeit haben, die Qualität der PIT-Ergebnisse zu beein ussen – je nachdem welche Bedeutung sie der Zählung beimessen, wie viele Ressourcen sie bereitstellen und wie das Thema in der Ö entlichkeit kommuniziert wird. Im liberalen Portland hat das Thema einen großen gesellschaftlichen Stellenwert. Die Zahl der unterstützenden Organisationen und freiwilligen Helfer ist größer als anderswo. Die mit der Zählung beauftragten Einrichtungen, das JOHS und die PSU, sind bemüht das Erhebungsverfahren im Rahmen der Vorgaben zu verbessern und die Ergebnisse vor dem Hintergrund der methodischen Schwierigkeiten transparent zu erklären. Eine Reihe weiterer universitärer Einrichtungen unterstützt die Arbeit mit angewandter wissenschaftlicher Forschung.

Welche Erkenntnisse lassen sich aus den beschriebenen Erfahrungen für deutsche Städte ableiten? Auch wenn sich das Ausmaß der sichtbaren Obdachlosigkeit in den USA erheblich von den Zuständen in deutschen Städten unterscheidet, so sind Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot auch in Deutschland zunehmend wichtige Themen. Eine verlässliche Datengrundlage gilt als Voraussetzung für die Entwicklung zielgenauer Handlungsprogramme. Das kürzlich verabschiedete Bundesgesetz zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung sowie einer Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen wird von Fachleuten als wichtiger Schritt begrüßt um erstmals zum 31.01.2022 bundesweit Daten zum Umfang und zur regionalen Verteilung von Wohnungslosigkeit

in Deutschland zu erheben (BAGW 2020). Es wird erwartet, dass diese Informationen auf der kommunalen Ebene eine große Wirkung auf die Arbeit von Verwaltungen und freien Trägern haben werden und auch zu einer Verbesserung der Information der Ö entlichkeit führen. Darüber hinaus sollen die zu erfassenden Datenbestände der wissenschaftlichen Grundlagen- und Begleitforschung dienen.

Kritisch beurteilt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe vor allem die in dem Gesetzentwurf zugrunde gelegte De nition von Wohnungslosigkeit. Diese wird als zu eingeschränkt beurteilt da folgende Personengruppen nicht berücksichtigt werden: Erstens „Personen, die wohnungslos bei Freunden und Bekannten kurzfristig Unterschlupf nden“, zweitens „Personen, die kurzfristig in der Familie verbleiben“ und drittens „Personen ohne jede Unterkunft auf der Straße, aber mit Kontakt zu Beratungsstellen“ (BAGW 2020). Nach Schätzungen der BAGW umfassen diese drei Gruppen über 70% der wohnungslosen Personen in Deutschland. In allen drei Gruppen sind wohnungslose EU-Bürgerinnen und Bürger überrepräsentiert, wodurch es zu einer Untererfassung dieser Bevölkerungsgruppe kommt. Auch die Gruppe der anerkannten wohnungslosen Ge üchteten sollte nach Ansicht der BAGW mit erhoben werden. Mit Blick auf Obdachlose, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben und keinen Kontakt zu Hilfesystemen haben, sowie wohnungslose Personen die temporär in regulärem Wohnraum wohnen, ermöglicht der Gesetzentwurf im Rahmen der sogenannten „Ergänzenden Berichterstattung“ jedoch die Durchführung von Sondererhebungen. Darüber hinaus schlägt die BAGW vor, ggf. in einem zweiten Schritt, auch die Zahl der unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedrohten Personen zu erfassen (BAGW 2020).

Wie am Beispiel der PIT-Zählung für Portland gezeigt wurde, sind methodische Aspekte und der Umfang der Erhebung bestimmend für die Qualität der Ergebnisse. Es ist zu befürchten, dass die dem deutschen Gesetzentwurf zugrunde liegende De nition zu einer Untererfassung der von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betro enen Personen in Deutschland führen wird.

1 Der im Rahmen der US-weiten „Point-in-Time“-Berichterstattung verwendete Begri „homelessness“ bezieht sich sowohl auf Personen die obdachlos, ohne jede Unterkunft auf der Straße leben (Obdachlosigkeit) als auch auf Personen die ohne eigene Wohnung temporär in Unterkünften leben (Wohnungslosigkeit). 2 Für einen Überblick über Beispiele zur Zählung von Straßenobdachlosigkeit, siehe Busch-Geertsema 2019. 3 Der Beitrag ist zwischen August und September 2019 am Population

Research Center der Portland State University entstanden. Der Autor bedankt sich bei Charles Rynerson (Population Research Center), ohne den der Aufenthalt nicht möglich gewesen wäre, sowie bei

Prof. Jason Jurjevic (University of Arizona). 4 Im Folgenden wird der Einfachheit halber die geogra sche Bezeichnung „Portland“ gewählt, obwohl sich die hier dargestellten Ergebnisse auf das über die Stadtgrenzen von Portland hinausgehende

Gebiet von Portland/Gresham/Multnomah County beziehen. 5 Notunterkünfte (emergency shelter) bieten Obdachlosen Unterkunft für i. d. R. eine Nacht. 6 Übergangswohnheime (transitional housing) bieten Wohnungslosen und ihren Familien eine vorläu ge Unterkunft und Unterstützung für bis zu 24 Monate, mit dem Ziel der Vermittlung in dauerhaften

Wohnraum. 7 „Person of color (Plural: people of color) ist ein Begri aus dem anglo-amerikanischen Raum für Menschen, die gegenüber der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft als nicht-weiß gelten und wegen ethnischer Zuschreibungen („Sichtbarkeit“) alltäglichen, institutionellen und anderen Formen des Rassismus ausgesetzt sind.“ (https:// de.wikipedia.org/wiki/Person_of_color. Abgerufen am 14.06.2020). 8 Wert für August 2019 9 „Net Migration Index“ 10 Wichtige Partner von Behörden wie Strafverfolgungsbehörden, Parkverwaltungen und ö entlichen Versorgungsunternehmen teilten ihr

Wissen über die Standorte von Obdachlosenlagern. 11 Homeless Management Information System (HMIS). 12 Zum kompletten Fragebogen siehe PSU 2019b, Appendix A. 13 Dabei sind bestimmte ethnische Gruppen, wie die Angehörigen der „Black/African American“ und der „American Indian/Alaska Native“ am stärksten von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betro en (PSU 2019b).

Literatur

BAGW, Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (2020): Stellungnahmen zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung vom 09.01.2020. Berlin. Busch-Geertsema, Volker (2019): Ansätze zur

Zählung von „Obdachlosen auf der Straße“ in

Deutschland, Europa und anderen Ländern der Welt – ein Überblick. In: Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Wohnungslos 2/19. Berlin. Chanay, Jessica; Desai, Nishant; Luo, Yuxuan;

Purvee, Davaadorj (2018): “An Analysis of

Homelessness and A ordable Housing in

Multnomah County, 2018”. Portland. ECONorthwest (2018): Homelessness in the

Portland region. A review of trends, causes, and the outlook ahead. Portland. HUD, U.S. Department of Housing and Urban

Development (2015): Point-in-Time Count

Methodology Guide. HUD, U.S. Department of Housing and Urban

Development (2020): The 2019 Annual Homeless Assessment Report (AHAR) to Congress. Jurjevich, Jason R.; Schrock, Greg; Kang, Jihye (2017): „Destination Portland: Post-Great

Recession Migration Trends in the Rose City

Region“. Portland. MAGS, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und

Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (2018): Integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung 2018 in Nordrhein-Westfalen. NLCHP, National Law Center on Homelessness and Poverty (2017): Don’t count on it. How the

HUD Point in time count underestimates the homelessness crisis in America. Potiowsky, Thomas and Portland State University, Northwest Economic Research Center (2019): „Portland MSA Economic & Population

Outlook (October 2019)“. Portland. Portland Housing Bureau (2018): State of

Housing in Portland 2018. PSU, Portland State University, Homelessness

Research & Action Collaborative, Northwest

Economic Research Center (2019a): Governance, Costs, and Revenue Raising to Address and Prevent Homelessness in the Portland Tri-

County Region. PSU, Portland State University, Regional Research Institute (2019b): 2019 Point-in-Time.

Count of Homelessness in Portland/Gresham/

Multnomah County, Oregon.

Laura Wette, Bernd Kramer

WEBWiKo – digitale Werkzeuge zur Unterstützung der kooperativen Regionalentwicklung

Das BMBF-geförderte und federführend durch den Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen geleitete Projekt WEBWiKo hat als Ziel, zusammen mit den Kommunen eine regionale demogra sche Datenbasis und darauf aufbauende Bevölkerungsprognosen zu erstellen. Die Ergebnisse sollen sowohl in leicht vermittelbarer Form für sporadische Nutzende demogra scher Daten, als auch komplexer für Datenexperten präsentiert werden. Dadurch wird die Region als Ganzes gestärkt und ihre Kompetenz in der Verarbeitung demogra scher Daten erhöht. Im vorliegenden Beitrag wird gezeigt, wie regionale Zusammenarbeit von Beginn an zu einem Tool führen kann, von dem sowohl die Region als auch die einzelnen Kommunen pro tieren.

Laura Wette

M. Sc. Geogra e. Seit 2017 Projektmitarbeiterin beim Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen e. V. im Forschungsprojekt „Werkzeuge und Methoden zur Erstellung kleinräumiger Bevölkerungsprognosen und Wirkungsszenarien in der interkommunalen Kooperation“. : wette@kommunalverbund.de

Dipl.-Inform. Bernd Kramer

Geschäftsführender Gesellschafter des WEBWiKo-Projektpartners regio gmbh, Themenschwerpunkte: Datengewinnung, Datenschutz, zentrale Dateninfrastruktur, Vermarktung der Werkzeuge, Übertragung in andere Regionen. : kramer@regio-gmbh.de

Schlüsselwörter:

Regionale Kooperation – Demogra e – Digitalisierung – Kleinräumige Bevölkerungsprognosen – Datenanalysewerkzeuge

Einleitung und Ausgangslage

Die interkommunale Kooperation wird in eng ver ochtenen Regionen wie dem stadtregionalen Ver echtungsraum des Oberzentrums Bremen (sog. Region Bremen) immer wichtiger. Die knapper werdenden Ressourcen „bezahlbarer Wohnraum“ und „freies Bauland“ sorgen neben anderen Entwicklungen in der Region dafür, dass die Menschen sich verstärkt regional und weniger kommunal orientieren (Abb. 1). Demogra sche Prozesse wie Wanderungsbewegungen machen demnach an administrativen Grenzen nicht Halt, sondern sind auch von den kommunalen Entwicklungen und politischen Entscheidungen der Nachbargemeinden abhängig. Schrumpfen und Wachsen nden so kleinräumig bis regional nah beieinander statt, was die Kommunen vor planerische Herausforderungen stellt. Ein Beispiel: Wachsender Wohnraumbedarf in einem Quartier steht zunehmendem Leerstand im anderen gegenüber, bedingt dadurch wird auch die Beplanung der sozialen Infrastrukturen wie Schulen und Kitas komplexer.

Abbildung 1: Die zeitliche Entwicklung des Wanderungssaldos pro 1000 Einwohner in der Region Bremen.

Quelle: Landesamt für Statistik Niedersachsen, Statistisches Landesamt Bremen

Dadurch steigt in den Kommunen der Bedarf an kleinräumig verfügbaren, regelmäßig aktualisierten, demogra schen Daten auf der einen Seite, auf der anderen aber auch die Notwendigkeit interkommunaler Kooperation und einer gemeinsamen Bearbeitung dieser Herausforderung aufgrund der Zunahme von Wanderungsbeziehungen in der Region Bremen.

Der Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen hat diese Kooperation institutionalisiert und zuletzt 2015 mit dem Grundsatzbeschluss zur kooperativen Regionalentwicklung eine politisch beschlossene Handlungsgrundlage gescha en. Darauf aufbauend werden themenbezogen Projekte durchgeführt, die den Zusammenhalt der Region und die regionale Entwicklung stärken.

Die Region Bremen ist in sich sehr heterogen: Städtische und ländliche Bereiche und auch Wachstum und Schrumpfung liegen dicht beieinander. Zwei Bundesländer, drei Ämter für regionale Landesentwicklung, fünf Landkreise, sieben Träger der Regionalplanung und insgesamt 28 Landkreise, Städte und Gemeinden machen die interkommunale Zusammenarbeit komplex. Unterschiedlich vorhandene personelle Kapazitäten, aber auch Wissensstände sowie die Vielzahl an Partnern, mit denen kooperiert wird, stellen für den regionalen Austausch von Daten und die Bearbeitung von Analysen zur Lösung von regionalen, demogra schen Herausforderungen eine große Aufgabe dar. Eine regionale Koordination emp ehlt sich daher. Aus diesem Grund hat der Kommunalverbund zusammen mit vier Forschungs- und sechs Praxispartnern (Abb. 2 und 3) das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt WEBWiKo („Werkzeuge und Methoden zur Erstellung kleinräumiger Bevölkerungsprognosen und Wirkungsszenarien in der interkommunalen Kooperation“) initiiert, das den Kommunen mittels digitalisierter Prozesse Werkzeuge an die Hand geben möchte, um die gegenwärtig anstehenden demogra schen Aufgabenstellungen gemeinsam in regionaler Kooperation zu bewältigen.

Das Projekt WEBWiKo

In der Laufzeit von April 2017 bis Januar 2020 wurden im Projekt Werkzeuge und Methoden entwickelt, die den Verwaltungsmitarbeitenden in den Kommunen die demogra schen Daten in angemessener und leicht zugänglicher Weise zur Ver-

Abbildung 2: Die WEBWiKo-Praxispartner in der Region Bremen. fügung stellen. Die Werkzeuge werden zunächst exemplarisch in den sechs Praxiskommunen eingesetzt, perspektivisches Ziel ist jedoch die Nutzung in der gesamten Region Bremen. Der WEBWiKo-Werkzeugkasten untergliedert sich in drei Säulen, die in Abbildung 4 dargestellt sind und im Folgenden ausführlicher beschrieben werden.

Abbildung 4: Der WEBWiKo-Werkzeugkasten

Gra k: © regio gmbh

Säule 1: Datengewinnung und gemeinsame Dateninfrastruktur

Für den Aufbau einer gemeinsamen, regionalen und kleinräumigen Dateninfrastruktur wird auf die Daten aus den Einwohnermeldeämtern (EMA) zurückgegri en, die die einzige Möglichkeit sind, kleinräumiger als die Gemeindeebene zu werden. Bei der oben geschilderten, heterogenen Struktur der Region Bremen war eine wichtige Anforderung, dass die Gewinnung der Daten ohne den Einsatz einer abgeschotteten Statistikstelle auskommen soll. Vorangegangene Aktivitäten des Kommunalverbunds zur Gewinnung demogra scher Daten hatten noch die Statistikstelle der Stadt Bremen genutzt. Der organisatorische und personelle Aufwand zur Aufbereitung der Daten war jedoch für ein kontinuierliches, regionales Demogra e-Monitoring nicht darstellbar, sodass im WEBWiKoProjekt neue Wege gefunden werden sollten.

Der Forschungspartner regio gmbh hat mit Unterstützung des Statistischen Landesamtes Bremen ein Verfahren (EMA-Da-

Abbildung 3: Die WEBWiKo-Forschungspartner.

ten-Aggregation) entwickelt, mit dem die Umsetzung dieser Anforderung trotz der Nutzung sensibler Bevölkerungsdaten ermöglicht werden kann. Das grundlegende Konzept ist, dass die personenbezogenen Einzeldaten in den Einwohnermeldeämtern verbleiben und nur aggregierte und anonymisierte Daten in die gemeinsame Dateninfrastruktur übernommen werden. Dadurch verliert man zwar etwas an Flexibilität in den Datenauswertungen gegenüber einer abgeschotteten Statistikstelle, in der die Einzeldaten vorliegen dürfen. In der Zusammenarbeit mit den Praxispartnern im WEBWiKo-Projekt haben sich allerdings keine Fragestellungen ergeben, die sich nicht mit den erzeugten Bevölkerungsdaten beantworten ließen.

Die EMA-Daten-Aggregation ist eine Webanwendung, die lokal im Einwohnermeldeamt im Internet-Browser ausgeführt wird. In einem ersten Schritt werden die aus dem Einwohnermeldewesen exportierten Bestands- und Bewegungsdaten in die Anwendung eingelesen und im lokalen Speicher vorgehalten. Als nächstes werden die eingelesenen Einzeldaten in einem ersten Anonymisierungsschritt nach ihren Bevölkerungsmerkmalen aggregiert. Die enthaltenen Adressen (Wohnadresse bei den Bestandsdaten, Geburten und Sterbefällen, Quell- und Zieladresse bei den Zu-, Fort- und Umzügen) werden georeferenziert und auf die festgelegten räumlichen Einheiten (Stadt- oder Ortsteile und Rasterzellen, siehe unten) aggregiert. Aus dem Geburtsdatum wird ein Altersjahr und aus den verschiedenen Staatsbürgerschaften der Status deutsch/ nicht-deutsch. Darüber hinaus wird das Merkmal Geschlecht aus den Einzeldaten übernommen. Bereits jetzt sind in vielen Fällen – insbesondere in dichter besiedelten Gebieten – keine Rückschlüsse mehr auf Einzelpersonen möglich. Für eine vollständige Anonymisierung werden in einem zweiten Schritt die verbliebenen Einzelfälle (Personenzahlen unter 3) mittels einer vereinfachten Anwendung des SAFE-Verfahren eliminiert und nicht in der regionalen Dateninfrastruktur gespeichert.

Im Rahmen des Projektes wurden für das Verfahren Stellungnahmen von den Datenschutzbehörden der Länder Niedersachsen und Bremen eingeholt. Von diesen wurde das Verfahren als datenschutzkonform eingeschätzt unter der Voraussetzung, dass eine vollständige Anonymisierung erreicht wird. Die letztliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens liegt allerdings bei den Datenschutzbeauftragten der einzelnen Kommunen.

Nutzung des KOSIS-Datensatzes in der Stadt Bremen

Mit der Stadt Bremen gab es unter den Praxispartnern ein Mitglied des KOSIS-Verbundes. Der Projektpartner Statistisches Landesamt Bremen hat für das WEBWiKo-Projekt eine Möglichkeit gescha en, die vorliegenden Daten des KOSIS-Datensatzes Bevölkerungsbestand in die EMA-Daten-Aggregation ein ießen zu lassen und eine Anbindung an das KOSIS-Werkzeug AGK für die Georeferenzierung zu scha en. Grundsätzlich wäre das auch mit dem Datensatz Bevölkerungsbewegungen möglich. Da dort allerdings keine Adressen für die Zuzugsquelle bzw. das Fortzugsziel vermerkt sind, würde man darüber die kleinräumigen Wanderungen innerhalb der Region Bremen nicht darstellen können. Aus Sicht der Praxispartner und des Kommunalverbunds liegt aber gerade hier ein großer Mehrwert der WEBWiKo-Werkzeuge, weshalb auch für Bremen die Bewegungsdaten aus dem Einwohnermeldewesen exportiert werden.

Kleinräumige Gebietsgliederung vs. INSPIRE GRID

Neben der Aggregation auf der Ebene der kommunalen, kleinräumigen Gebietsgliederung (in der Regel Stadt- oder Ortsteile) nimmt das Werkzeug EMA-Daten-Aggregation automatisch auch eine Aggregation auf Rasterebene vor. Zur Standardisierung wird das von der europäischen Initiative zum Aufbau einer Geodateninfrastruktur INSPIRE de nierte Raster in verschiedenen Au ösungen (500 m, 1 km, 10km) mit dem gesamten Merkmalssatz der Bevölkerungsdaten befüllt. Die Betrachtung und Analyse von statistischen Daten im regelmäßigen Raster ist ein etabliertes Verfahren, das auch bereits im Zensus 2011 eingesetzt wurde (BKG 2017; Neutze 2015). Darüber hinaus bieten Raster sowohl bei der kommunalen als auch der regionalen Betrachtung weitere Vorteile: • Bevölkerungsdaten auf Rasterebene ermöglichen eine di erenziertere Betrachtung der Entwicklungen in den

Kommunen. Gerade in ländlichen Kommunen mit einzelnen Siedlungskernen und ansonsten disperser Bebauung verzerren z. B. kleine Baugebiete in Ortsteilgrenzlage den

Eindruck für den gesamten Ortsteil. Zudem ergeben sich dadurch genauere Analysen für einzelne Fachplanungen.

Zwei Beispiele: Bei der Erstellung kommunaler oder regionaler Einzelhandelskonzepte können Versorgungslücken wesentlich besser ausgemacht werden. Der Katastrophenschutz kann im Notfall in einem Umkreis die Anzahl der zu evakuierenden Personen genauer bestimmen und wird so bei der Koordinierung unterstützt. • Rasterzellen sind unabhängig von administrativen, mitunter historisch gewachsenen und dadurch ggf. heute rein planerisch nicht mehr sinnvollen Ortsteilgrenzen, die eine regionale und teils auch kommunale Gegenüberstellung ausschließen. Rasterzellen dagegen, da immer gleich groß, können auch zwischen Kommunen und an Gemeindegrenzen verglichen werden (Deißelmann u. Meinel 2013 nach Witt 1970; Arnberger 1977). Die Beobachtung und das Aufdecken bestimmter Entwicklungen an den Gemeindegrenzen sind auch in der regionalen Betrachtung wichtig und ermöglichen die Lösung verschiedener Fragestellungen wie z. B. „Finden Abwanderungen von einer in die andere Kommune an der Grenze statt?“ oder „Wäre der

Besuch einer Kita oder Schule in der Nachbargemeinde aufgrund der Nähe ggf. für die Familien sinnvoller?“ • Durch die Speicherung im Raster können zukünftig die

WEBWiKo-Daten bei Bedarf sehr schnell und einfach mit den Zensus-Ergebnissen verschnitten werden, was für die

Kommunen vor allem 2021 zur Bewertung ihrer Einwohnerverzeichnisse und des Zensusergebnisses interessant werden könnte.

Säule 2: Kleinräumige Bevölkerungsvorausberechnung

Die erfassten und gespeicherten Bestands- und Bewegungsdaten bilden die Grundlage für eine regionale und mit den Kommunen abgestimmte Bevölkerungsprognose. Im Verlauf des Projektes stellte sich allerdings heraus, dass die vollständig anonymisierten Daten nicht zu einem validen Prognoseergebnis führen, so dass die Prognose die aggregierten, noch nicht vollständig anonymisierten Daten verwendet. Um den Bestimmungen der DS-GVO Rechnung zu tragen, werden diese Daten nur für diesen einen Zweck verwendet und getrennt von den vollständig anonymisierten Daten gespeichert. Allerdings bedarf es zusätzlich einer vertraglichen Regelung (Vertrag zur Auftragsverarbeitung) zwischen der jeweiligen Kommune und dem Betreiber der regionalen Dateninfrastruktur.

Die Prognoserechnung erfolgt zunächst auf der Stadt- und Ortsteilebene nach der Kohorten-/Komponenten-Methode und nutzt die Möglichkeiten des im WEBWiKo-Projekt verfolgten regionalen Ansatzes durch einige spezielle Konzepte aus: • Um ausreichend hohe Bevölkerungszahlen für die Berechnung von Geburten-, Zuzugs- und Fortzugsraten zu bekommen, werden die kleinräumigen Gebiete pro Komponente nach verschiedenen Kriterien interkommunal geclustert • Um das Wanderungsverhalten für die Prognoserechnung besser abbilden zu können, werden auf regionaler und auf kommunaler Ebene Wanderungspools gebildet, die für eine kleinräumige Verteilung der Zuzüge und Fortzüge herangezogen werden.

Für die Prognoserechnung werden von einem regionalen Prognose-Verantwortlichen die grundlegenden Annahmen und weiteren Rahmenbedingungen wie die verwendeten Ausgangsjahre festgelegt. Dabei werden drei verschiedene Prognoseszenarien kon guriert – ein mittleres, ein oberes und ein unteres Szenario, um einen Entwicklungskorridor für die auf der Prognose beruhenden Planungen zu de nieren. Nach erfolgter Prognoserechnung für die Stadt- und Ortsteilebene wird das Ergebnis noch proportional zu den bestehenden Bevölkerungsstrukturen auf das 500m-Raster verteilt.

Damit ein realitätsnahes Prognoseergebnis erzielt werden kann, ist es darüber hinaus wichtig, dass das lokal in den beteiligten Kommunen vorhandene Wissen über besondere Entwicklungen, wie z.B. Neubaugebiete, in die Rechnung mit ein ießen können. Dafür wurde im WEBWiKo-Projekt der Prognose-Editor entwickelt, der es den einzelnen Kommunen ermöglicht auf kleinräumiger Ebene die Fortschreibung zu beein ussen. So kann beispielsweise in einem Gebiet mit einem geplanten Neubaugebiet der Zuzug für einen gewählten Zeitraum relativ erhöht werden. (s. Abb. 5)

Aufgrund der begrenzten Projektlaufzeit konnten die Beein ussungsmöglichkeiten nur begrenzt mit den beteiligten Praxiskommunen getestet werden. Es stellte sich aber bereits heraus, dass es manchen kommunalen Partnern nicht leicht fällt die kleinräumigen Entwicklungen anhand von Fortschreibungsparametern zu beschreiben. Hier besteht Potenzial für zukünftige Entwicklungen, um das lokal vorhandene Wissen noch besser in die Prognoserechnung ein ießen lassen zu können. Ein weiterer in Zukunft näher zu untersuchender Punkt ist, ob durch die kommunale Anpassung der Fortschreibungsparameter negative E ekte bei der Prognoserechnung für andere Kommunen entstehen können und ob sich auch innerhalb der Kommune ein stimmiges Gesamtbild ergibt.

Darüber hinaus war in dem Projekt problematisch, dass die Bevölkerungsdaten nur von vier Praxispartnern zur Verfügung standen. Die neuen Konzepte werden ihre Stärken erst ausspielen können, wenn wirklich eine gesamträumliche

Abbildung 5: Der Prognose-Editor zur kleinräumigen Anpassung der Prognose-Annahmen.

Prognose mit allen Kommunen des Kommunalverbunds gerechnet werden kann. Entsprechend wird auch eine weitere Evaluation der Prognoseergebnisse notwendig werden, wenn diese für die gesamte Region vorliegen.

Es zeigte sich in der Praxisphase des Projektes aber schon, dass in der regionalen Prognoserechnung trotz aller Unsicherheiten auch große Chancen liegen. Viele der kleineren Kommunen des Kommunalverbunds verfügten in der Vergangenheit nicht über eine Bevölkerungsprognose, sodass beispielsweise in der Kindertagesstättenplanung nur die Geburten hochgerechnet werden, ohne das Wanderungsgeschehen zu berücksichtigen. Noch wichtiger im Umgang mit den Risiken einer kleinräumigen Prognoserechnung ist allerdings die Möglichkeit, die Prognosen mit aktuellen Daten jährlich neu zu berechnen und dadurch sich verändernde Entwicklungen schnell berücksichtigen zu können. Der Digitalisierungsgrad der Werkzeuge zur Datengewinnung und zur Prognoserechnung ist so hoch, dass die jährliche Wiederholung mit geringem Personaleinsatz gelingt.

Säule 3: Werkzeuge zur Betrachtung und Analyse der Bestands-, Bewegungs- und Prognosedaten

Die dritte Säule enthält die regionale Bereitstellung aller Daten für die teilnehmenden Kommunen und deren Verwaltungen. Damit eine breite Nutzung der Daten für die vielfältigen Planungs- und Entscheidungsprozesse sowohl innerhalb einer Kommune, als auch interkommunal oder regional möglich wird, wurden zum einen leicht zu bedienende interaktive Webanwendungen entwickelt, sogenannte Dashboards. Die Dashboards stellen die Daten sowohl räumlich in Form einer Karte, als auch zeitlich in Form eines Liniendiagramms dar. In einigen Dashboardansichten kommen noch weitere Diagramme hinzu, z.B. Balkendiagramme für die Darstellung der Altersstrukturen. Alle Gra k-Elemente sind dynamisch miteinander verbunden, was die Analysemöglichkeiten der Daten stark verbessert. Es können dabei sowohl einzelne Jahre, Altersgruppen als auch einzelne räumliche Einheiten ausgewählt und näher betrachtet werden. Alle weiteren Darstellungen passen sich dynamisch an die getätigte Auswahl an. Der Dashboard-Zugang ermöglicht so niedrigschwellig den schnellen Zugri auf die von kommunalen oder regionalen Akteuren benötigten Daten (Abb. 6–8). Das Wanderungsdashboard ermöglicht mit seinen anschaulichen Darstellungen der Zuzüge, Fortzüge und des Wanderungssaldos einen neuen und gerade in vielen der kleineren Kommunen bisher nicht verfügbaren Blick auf das regionale und überregionale Wanderungsverhalten. Besonders hervorzuheben ist die Darstellung der kleinräumigen innerregionalen Wanderungen, mit denen genau zu analysieren ist, von welchem Stadt- oder Ortsteil in welchen anderen Stadt- oder Ortsteil bzw. von welcher Rasterzelle in welche Rasterzelle gewandert wird. In der Praxisphase haben die kommunalen Planer darüber schon ganz neue Erkenntnisse gewonnen zu Aussagen, die davor eher in Form von Vermutungen vorlagen. Im Rahmen des WEBWiKo-Projektes wurde unter anderem darüber diskutiert, ob die Dashboards ausschließlich den Kommunalverwaltungen und dem Kommunalverbund für Analysen und Datenaufbereitungen zur Verfügung stehen oder ob sie auch ö entlich zugänglich sein sollen, damit sie beispielsweise von politischen Vertretern oder in Bürgerbe-

Abbildung 6: Das Demogra e-Dashboard, Bevölkerung nach Geschlecht und Alter in der kleinräumigen Gliederung.

teiligungsprozessen verwendet werden können. Hier ergab sich unter den Praxiskommunen noch kein einheitliches Meinungsbild, so dass eine Entscheidung darüber bei Einführung der Werkzeuge im gesamten Raum des Kommunalverbunds noch getro en werden muss.

Nur für die kommunalen Mitarbeiter, die sich intensiver mit der Datenanalyse beschäftigen, steht darüber hinaus ein Expertentool – das vom Projektpartner OFFIS entwickelte MUSTANG (Abb. 9) – zur Verfügung, über das der gesamte Datenschatz bereitgestellt wird und das zur Erstellung komplexer Analysen befähigt. Die Daten können in MUSTANG exibel in der gewünschten Form ausgewählt und sowohl als Tabellen als auch als Gra ken oder Karten aufbereitet werden. Für eine Weiterverarbeitung in anderen Programmen wie z.B. einer Tabellenkalkulation oder einem Geoinformationssystem stehen passende Exportformate zur Verfügung.

Abbildung 7: Das Demogra e-Dashboard, Bevölkerung nach Geschlecht und Alter im Raster.

Abbildung 8: Das Wanderungsdashboard auf kleinräumiger Ebene.

Abbildung 9: Das Expertenwerkzeug MUSTANG.

Darüber hinaus werden die Bestands-, Bewegungs- und Prognosedaten mit sogenannten Wirkungsszenarien zusätzlich in Wert gesetzt, indem sie themenbezogen erweitert werden. Im Rahmen von WEBWiKo wurde exemplarisch ein Wirkungsszenario für die Kita-Planung erstellt, bei dem zunächst neben den demogra schen Daten auch die Anzahl der genehmigten Plätze jeder Krippe und jedes Kindergartens und Horts in den Praxiskommunen abgefragt wurden. Ein eigens für die Kita-Planung angefertigtes Dashboard ermöglicht zudem die Beein ussung der Bedarfsquoten und eine kleinräumige Gegenüberstellung der Kinder in der entsprechenden Altersgruppe und der verfügbaren Plätze.

WEBWiKo und die regionale Zusammenarbeit

Das Projekt wurde von Beginn an regional gedacht und bearbeitet. Die Erfüllung der Anforderungen und Bedürfnisse von Kommunen und Region an die Datenstrukturen und die Werkzeuge waren ein Hauptziel des Projektes. Regelmäßig wurden im Reallabor die bereits erzeugten Methoden mit diesen Bedarfen abgeglichen und ggf. die Entwicklung angepasst. Die Praxispartner wurden so ausgewählt, dass die Belange der unterschiedlichen Gebietskörperschaften in die Werkzeugentwicklung ein ießen: So wurden trotz der gesamtregionalen Betrachtung auch Spezialfälle der Kommunen, die aufgrund der Größe bestehen, berücksichtigt.

Mit dem „Grundsatzbeschluss zur kooperativen Regionalentwicklung“ hat der Kommunalverbund sich 2015 ein aktualisiertes Leitbild gegeben. Zur Umsetzung der Leitziele sollen u.a. eine gemeinsamen Wissensbasis, die Quali kation der Akteure und die Bündelung bestimmter Kompetenzen und Ressourcen an einer Stelle beitragen. Die in WEBWiKo entwickelten Methoden erfüllen alle Anforderungen, um diese Ziele zu erreichen, etwa mittels der modernen, digitalisierten Datensammlungsverfahren und der Bereitstellung der Daten in der Form, wie sie vom jeweiligen Nutzenden (für den Datenexperten im Expertentool oder für den Datenlaien im Dashboard) verarbeitet werden kann. Die Bündelung der Kompetenzen und Ressourcen kann ebenfalls mit WEBWiKoMethoden umgesetzt werden: Der Kommunalverbund wird damit in die Lage versetzt, als regionaler Datendienstleister zu fungieren und regionale und – wenn gewünscht – kommunale Analysen anzufertigen und so das Ziel der Bündelung der Ressourcen umzusetzen: Gerade kleinere Gemeinden, die keine Statistikstelle und oft auch mangels Personal nicht die Zeit für tiefergehende Analysen haben, können davon pro tieren. Zugleich wird das Wissen und Know-how in der Region auf einen Stand gebracht, wodurch die „Partnerschaft auf Augenhöhe“, eines der wichtigsten Prinzipien des Kommunalverbunds, gefördert wird.

Auch die Arbeit des Kommunalverbunds an sich wird von WEBWiKo pro tieren können: Nahezu alle regionalen Strategien und deren Fortschreibungen basieren auf den Bevölkerungsdaten. So wurden für die Erstellung einer regionalen Wohnungsmarktstrategie, ein Projekt, das als Modellvorhaben der Raumordnung vom Kommunalverbund durchgeführt wird, bereits Bevölkerungsprognosen und aktuelle Wande-

rungsbewegungen verwendet, um den zukünftigen Bedarf an bezahlbarem Wohnraum abschätzen zu können. Für das Regionale Zentren- und Einzelhandelskonzept (RZEHK), das unter Leitung des Kommunalverbunds erstellt wurde, gibt es ebenfalls Anwendungsgebiete: Wo leben welche Bevölkerungsgruppen und wo muss dementsprechend eine bestimmte Nahversorgung vorhanden sein? Solche und ähnliche Fragen können mit den WEBWiKo-Werkzeugen schnell und ächendeckend beantwortet werden. In beiden Anwendungsfällen kann der hohe Mehraufwand durch die Einzelabfrage in den 28 Mitgliedskommunen beseitigt werden.

Aber auch die Landkreise und Gemeinden bzw. Städte können Nutzen aus den Daten ziehen: Die Kosten für Prognosen, die zahlreiche Kommunen an externe Büros vergeben und die die Grundlage weiterer planerischer Aufgabenfelder bilden, können bei gleichzeitiger, erhöhter Fortschreibungsfrequenz eingespart werden. Die Landkreise können die kreisangehörigen Gemeinden von Datenanfragen entlasten, indem sie alle Daten zentral an einer Stelle abrufen. Die Speicherung und Darstellung der Daten im Raster ermöglicht den Gemeinden und Städten die Bearbeitung neuer Fragestellungen und vereinfacht bisherige Abläufe wie die Spielplatzplanung, Strategie- bzw. Konzeptentwicklung (z. B. Einzelhandel) etc.

Ausblick

Auch wenn durch die begrenzte Projektlaufzeit des WEBWiKoProjekts nicht alle der Ideen der Entwickler und Wünsche der Verwaltungsmitarbeitenden umgesetzt werden konnten, so sind doch einsatzfähige und praxistaugliche Werkzeuge für ein kontinuierliches Demogra e-Monitoring entstanden. Die positiven Rückmeldungen durch die Praxispartner im Projekt zeigen deutlich, dass ein Bedarf an regionalen, kleinräumigen Daten und Analysen besteht. Der Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen ist bestrebt, die WEBWiKo-Werkzeuge regionsweit einzuführen. Mit einem entsprechenden politischen Beschluss könnte er die Aufgabe eines regionalen Datendienstleisters für die Kommunen übernehmen und damit die Datensammlung, Prognoseberechnung und darauf aufbauende Analysen, Monitorings etc. für das gesamte Verbundgebiet anstoßen. Besonders hilfreich ist für den Einsatz in der gesamten Region, dass keine Notwendigkeit für die Einrichtung einer abgeschotteten Statistikstelle besteht.

Der Projektpartner regio gmbh ist dabei, die entstandenen Lösungen so weiterzuentwickeln, dass sie auch langfristig einsetzbar und zu betreiben sind. Dadurch können die Werkzeuge auch anderen interessierten Regionen angeboten werden.

Darüber hinaus wurde im Projekt festgestellt, dass die Methoden zur datenschutzkonformen Gewinnung kleinräumiger Daten auch für andere Anwendungsbereiche ein großes Potenzial haben. So könnten in dem Dashboard für das Wirkungsszenario Kita-Planung beispielsweise Daten zur Belegung ergänzt werden und man so besser analysieren, aus welchen Wohngebieten die Kinder welche Kita besuchen und so eine bessere Standortplanung für neue Kitas ermöglichen. Aber auch für ein Wirkungsszenario Wohnungsmarkt ergäbe sich Potenzial z.B. in der Ermittlung von Haushaltszahlen (ähnlich zum Verfahren HHGEN aus dem KOSIS-Verbund) oder für eine kleinräumige Aufbereitung der Bautätigkeit.

Literatur

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Die Geschichte des „Grand Hotels Abgrund“

Unter dem Titel „Grand Hotel Abgrund“ hat der Londoner Publizist Stuart Je ries ein aktuell ausgerichtetes Buch über die Geschichte des berühmten Frankfurter Instituts für Sozialforschung vorgelegt. Neben dem bereits 1976 erschienenen Buch von Martin Jay über die Geschichte der Frankfurter Schule (Martin Jay, Dialektische Phantasie – Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, S. Fischer Verlag Frankfurt 1976) und dem voluminösen Band von Rolf Wiggershaus mit 795 Seiten (Die Frankfurter Schule, Carl Hanser Verlag München 1986) erzählt Jeffries eine „Gruppenbiografie“ der Personen des Instituts vor dem Hintergrund der Katastrophen und Kriege des 20. Jahrhunderts. „Er arbeitet sich nicht durch die Archive oder entdeckt neue Quellen, sondern arrangiert Bekanntes in leicht lesbarer Form, ergänzt um einzelne Werkanalysen – alles so präsentiert, dass es ideal zu einer intellektuellen Cocktailparty passt, vielleicht weniger ins Doktorandenkolloquium“ schreibt Alexander Cammann in seiner Rezension in DIE ZEIT (48/2019).

Die leichte Lesbarkeit des Buches von Je ries unterscheidet sich vom tiefgründig philosophischen Ansatz des Buches von Rolf Wiggershaus und dem recht ober ächlichen Buch von Martin Jay, ohne die wesentlichen Debatten, Auseinandersetzungen und Intrigen im Institut auszublenden. Je ries kann auf die große Fülle der bereits vorliegenden Materialien wie Briefe, Verö entlichungen und interne Dokumente zurückgreifen und eine vielschichtige Biogra e der bekannten Mitglieder wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse vorlegen. Die heute weniger bekannten Mitarbeiter wie Leo Löwenthal oder Friedrich Pollock sowie die dem Institut nahestehenden Walter Benjamin oder Erich Fromm werden ebenfalls als wichtige Ideengeber und Diskussionspartner vorgestellt.

& Stuart Je ries, Grand Hotel Abgrund, Verlag Klett-Kotta 2018, 28 Euro

Max Horkheimer, der Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, hatte bereits Anfang der dreißiger Jahre die Zeichen der Zeit, das Aufkommen des Faschismus in Deutschland und seine Gefahr für die jüdischen Mitbürger/innen, erkannt, alles Vermögen des Instituts in die Schweiz transferiert und damit das Überleben des Instituts und seiner Mitarbeiter im Exil in Amerika gesichert. Entstanden sind die wesentlichen Schriften überwiegend im amerikanischen Exil und nicht in Frankfurt, wo das Institut 1923 gegründet wurde und wohin es 1951 zurückkehrte.

Die Kritische Theorie, die Frankfurter Schule war in der Bundesrepublik selbst zu einem Begri geworden und hatte großen Ein uss auf die sich entwickelnde Studentenbewegung der 68er Jahre. Die Aufsätze aus der mittlerweile berühmten Zeitschrift für Sozialforschung, die Studien über Autorität und Familie, über den autoritären Charakter und vor allem das Hauptwerk, die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno, werden von Je ries in ihrem ideengeschichtlichen Zusammenhang unterhaltsam und brilliant geschrieben vorgestellt. Sein Buch geht jedoch über die Gründungsphase in den frühen zwanziger Jahren, das Exil in den USA, die Rückkehr in die Bundesrepublik und den Tod Adornos 1969 hinaus: Habermas, der Entstehung der GRÜNEN und der aktuellen Bedeutung der Kritischen Theorie sind die letzten Kapitel gewidmet. Laut Je ries ist die Frankfurter Schule und ihre Kritische Theorie deshalb so bedeutend, weil sie versuchte, die Konsequenzen aus dem Scheitern der europäischen Arbeiterbewegung im Kampf gegen den Faschismus und dem Scheitern der russischen Revolution mit seiner Transformation in den Stalinismus zu ziehen und die moderne westliche Version des Kapitalismus samt Kulturindustrie zu verstehen. Ein lesenswertes Buch! Günther Bachmann

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