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Wir Vaterlosen

Geschichten aus der Itzlinger Schreibwerkstatt

Es war eine fürchterliche Zeit, die Kriegs- und Nachkriegszeit, trotzdem fallen mir einige Episoden ein, die zum Schmunzeln anregen. Einige davon will ich hier niederschreiben. Zwischen dem Pfarrhaus und dem Mesnerhaus haben die Veteranen des Dorfes, noch gezeichnet von der gerade erlebten bzw. überlebten Zeit, ein Kriegerdenkmal errichtet. Zwei Marmortafeln, mit einer riesigen Kette abgesperrt – „Nie wieder!“. Auf der linken Tafel waren die gefallenen Soldaten des Ersten, auf der rechten die des Zweiten Weltkrieges angeführt. Es waren derer wesentlich mehr. Wir Buben konnten damals schon lesen oder zumindest die Namen entziffern. Das ging nicht so einfach.

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„Schau, dort der Hussauf Matthias, das ist mein Vater“, sagte der Seppl. – „Das ist dein Vater? Du bist ja der Möschtl Seppl!“ – „Ja, Hussauf ist der Schreibname und Möschtl der Hausname, genau gesagt Mirtl im Tale.“ Manche Schulkameraden hatten sogar drei Namen. Den richtigen Schreibnamen, den Hausnamen und dann kam oft noch ein Spitzname dazu. Der Schweiger Rudi hieß David – warum? Keine Ahnung. Der Loisi war der Lange. Er war wirklich einen halben Kopf größer als wir anderen.

Jetzt aber zu meiner Geschichte: Eine beliebte Freizeitbeschäftigung von uns Buben war das Spiel „Räuber und Gendarm“. Die Einteilung lautete „Oberdorf gegen Unterdorf“. – Ich habe mein Heimatdorf in einer anderen Geschichte bereits vorgestellt. Nun kam eine zweite Variante ins Spiel, die sich bald noch größerer Beliebtheit erfreute: die Vaterlosen gegen den Rest. Wir Vaterlosen waren die Mehrheit und unbezwingbar. Wir kannten keinen Zapfen-

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streich und unsere Mütter drückten meistens ein Auge zu, wenn wir in der Spielleidenschaft die Turmuhr ignorierten. Der Georg war ein armes Schwein. Sein Vater war der Dorfschuster. Der Georg hieß eigentlich bei uns der „Schuaster Schorschi“. Wenn der Schorschi den Zapfenstreich überschritt, gab es Tränen, genau gesagt Riemen und Tränen, denn in der Schusterwerkstatt hingen genügend Riemen an der Wand. Auch der Naz hatte einen strengen Vater und die Meiers, Nazens Eltern, hatten Ziegen. Die mussten beaufsichtigt werden. Was tun: Ziegen hüten oder der Räubermannschaft helfen? Die Räubermannschaft war in der Minderheit, die brauchten den Naz dringend. Die Ziegen brauchten den Bewacher nicht, die suchten ihr Futter auch ohne Aufseher in fremden Wiesen und Gärten. Die Mutter wartete ungeduldig daheim mit dem Milchschemel auf die Ziegen, der Vater mit dem Stock auf seinen Jüngsten.

Wir Vaterlosen spielten hemmungslos weiter und wurden in der Dämmerung sehnsüchtig von unseren Müttern mit Speis und Trank erwartet. Ja, wir Vaterlosen wurden beneidet, das muss man sich einmal vorstellen. Ein Vaterloser ist dann doch einmal aufgefallen. Es war der Zumsi, ich glaube, sein Name war Heinz. Seine Mutter war Postmeisterin und Zums kannte keine Sperrstunde. Noch dazu verfügte Zums über ein Fahrrad, ein Damenrad, das war ein Privileg. Er schaffte die Kurve beim Kastanienbaumrennen im Schulhof mit Bravour. Seine Kurventechnik erreichte niemand, seine blutenden Knie auch nicht.

Es war zur Weihnachtszeit, die Huatara Buam, fünf an der Zahl, führten das Adventspiel der Herbergsuche im Dachboden des Lagerschuppens vom Lederhandler auf. Ihr Vater, vormals Hutmacher im Ort, daher Huatara Buam, stand ebenfalls auf der Marmortafel des Kriegerdenkmals. Da niemand die Vorbereitung zum Weihnachtsspiel

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stören sollte, ersuchte der ältere „Huatara“ den Herrn Pfarrer, einen unerlaubten Eintritt zu verhindern. Der Zugang zum Dachboden war eine angelehnte Leiter und endete an einer Bodentür. Das Drama begann, als Zumsi – er war „Mitglied des Ensembles“ – zu spät kam. Er wollte unbedingt noch zu seinen Schauspielfreunden, der Pfarrer blockierte aber den Zugang. „Ich muss hinein“, so der Zums. – „Ich darf niemand hineinlassen, ich habe es versprochen“, so der Pfarrer! Die Diskussion ging hin und her, bis dem Zums die Geduld riss und er dem Pfarrer ins Wadl biss! Der Zugang zur Bühne war freigekämpft und der Zums, genau gesagt der Heinzi, hieß in Zukunft offiziell im Dorf der„Pfarrerwadleinibeisser Heinzi“.

Geschrieben von Ernst Griehser