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EINFÜHRUNG

LAKESHORE // COSMOPOLITAN HABITAT

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Quelle: IES

// URBAN RECYCLING AROUND LAKE CONSTANCE

Jörg Schröder

URBAN RECYCLING Der Bodenseeraum wird als Wachstumsregion außerhalb der Metropolen bezeichnet (Scherer, Gutjahr 2012), der durch die Lage zwischen zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz stark international geprägt ist. Für den Städtebau steht - als Teil regionalen Vernetzung - das Thema der räumlichen Verdichtung und Entwicklung im Vordergrund, da Ziele der Nachhaltigkeit eine weitere diffuse Siedlungsexpansion ausschließen. Die sinnvolle Begrenzung weiteren Flächenverbrauchs, bis hin zum Ziel der Flächenkreislaufwirtschaft (Schröder 2020) als städtebaulicher Antwort auf die Herausforderung des Klimawandels, stellt Städte und Gemeinden in Wachstumsregionen vor erhebliche Herausforderungen. Fragen dabei sind nicht nur die oft kaum bekannten Lagen von Konversionsarealen, ihre Größe und Komplexität, und die damit verbundenen Eigentumsaspekte und Schadstoffbelastungen. Organisations-, Finanzierungs- und Entwicklungsmodelle für Konversionsprojekte sind außerhalb von Metropolen kaum etabliert. Städtebauliche Forschung kann hier einen Beitrag liefern, indem räumliche Szenarien zur Klärung von Optionen in der Entwicklung unterstützen. Zudem können Visionen zur Diskussion gestellt werden, die für komplexe und langjährige Entwicklungsprozesse Leitbilder bieten können. Der mit LAKESHORE verfolgte Ansatz des Urban Recycling geht dabei über die im Sinn der Nachhaltigkeit bereits an sich sinnvolle Neunutzung nicht mehr genutzter Räume hinaus, die das Prinzip der Wiederverwendung auf den Städtebau überträgt. Vielmehr steht im Fokus, diese Räume durch ihre Neuverwendung in neue Kreisläufe einzusetzen, ja sogar damit neue Kreisläufe zu starten (Ricci, Schröder 2016), und die Gestaltung und Entwicklung von Stadt umfassend auf Regeneration auszurichten (Schröder 2018). Der dadurch angesprochene räumliche Fokus geht über die unmittelbare Nähe zu urbanen Zentren - in beiden Fallstudien in Lindau und Friedrichshafen gegeben - hinaus und spricht gesamtörtliche wie auch neue regionale Kooperationen an. Kreisläufe betreffen dabei sowohl Stoffströme als auch Kapital-, Wissens- und Kulturströme. Neue städtebauliche Entwicklungsprojekte nahe zu urbanen Zentren sprechen zudem die Herausforderungen für Innenstädte an, die sich durch Digitalisierung, Verlagerung des Handels und einer Neudefinition zentraler Funktionen ergeben; sie können als Teil von Zukunftsszenarien für diese Zentren eingesetzt werden.

COSMOPOLITAN HABITAT Unter dem Stichwort Cosmopolitan Habitat geht es nicht nur um die Ausrichtung des Städtebaus auf globale Verantwortung im Klimawandel und in Zielen der Nachhaltigkeit gehen, sondern auch um eine kulturelle und gesellschaftliche Dimension. Dieses Stichwort betrifft nicht nur Metropolen, der Herausforderung des Klimawandels und gesellschaftlicher Umbrüche kann sich keine Stadt entziehen. Cosmopolitan (vom griechischen kosmos: Welt und politai: Bürger) Habitat (vom lateinischen habitare: siedeln) thematisiert internationale Debatten rund um den Austausch zwischen verschiedenen Kulturen und Gesellschaftsgruppen, dem Erfahren von Lebensräumen und Prozessen, die durch die „Maker-Kultur“ unterstützt werden sowie die räumliche Dimension von Migration. Entwickelt in Kooperation zwischen der Leibniz LAKESHORE // COSMOPOLITAN HABITAT

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8 Universität Hannover mit der Universität Palermo (Schröder, Carta, Scaffidi, Contato 2021; Schröder, Cappeller 2020), ist „Cosmopolitan Habitat“ ein Forschungsprojekt, das die globale Herausforderung von Städten und ihren Einfluss auf die Zukunft des Urbanen hervorhebt. Es fragt nach direkt greifbaren und übergeordneten Aspekten des kulturellen Erbes und sieht eine kosmopolitane Ausrichtung als Faktor für Produktivität und Offenheit. Der Bodenseeraum durch die internationale Ausrichtung zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz und darüber hinaus bereits kosmopolitan geprägt. Die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Dynamik der Region, die in zahlreichen Kooperationen, neuen Mobilitätsprojekten und als transnationale Euroregio Bodensee ein wesentlicher Standortfaktor ist, geht mit gelebtem Kosmopolitanismus in den Städten und Orten einher ist. Er zeigt sich in einer vielfältigen Baukultur, im Kulturerbe und naturräumlichen Elementen wie dem See, den Alpen, dem Obst- und Weinanbau; ergänzt durch den industriellen Hintergrund (Zeppelin) und aktuellen Schwerpunkten in Forschung, Kultur, Bildung, Industrie und Tourismus. Damit für LAKESHORE verbundene Fragen betreffen die Atmosphären, Macher, und Antriebskräfte für eine offene Gestaltung von Lebensräumen und Lebensqualität der Region.

NEW URBAN MIX Für einen hochattraktiven und damit auch hochpreisigen Raum wie die Bodenseeregion spielt soziale Integrativität im Anspruch an öffentliche und gemeinschaftliche Räume und insbesondere im Hinblick auf Wohnen eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt geht es dabei um Möglichkeiten für Jüngere, die für Zukunftsperspektiven und für die wirtschaftliche Innovation der Region wichtig sind. Neue Verbindungen von Arbeiten und Wohnen, neue Arbeitsformen in der Digitalisierung, neue Formen der Produktivität aber auch neue Ansprüche an Gemeinschaftlichkeit und Kultur legen nahe, für die integrierte Entwicklung gut angebundener Konversionsareale in nicht direkt zentralen Lagen ein New Urban Mix als Ziel zu formulieren (Schröder 2020). Bisherige städtebauliche Modelle waren für getrennte Funktionen wie Wohnen separat entwickelt (exemplarisch: Atelier 5 2000; Waechter-Böhm 2000; Ebner, Herrmann 2009; a+t research group 2013; Schröder, Hartmann 2016B). Auch wenn Modelle in einem nächsten Schritt bereits soziale und typologische Mischung ansprachen und um zusätzliche Komponenten erweitert wurden (Wietzorrek 2014), müssen sie für das Ziel des New Urban Mix neu gedacht und erfunden werden. Dazu soll LAKESHORE einen Beitrag liefern, der zusammen mit weiteren Forschungsergebnissen (Schröder, Hartmann 2016A) insbesondere mittlere und kleine Städte anspricht. Die für LAKESHORE entwickelten Modellprojekte stellen ein breites Themenspektrum dar, das neue Arbeitsformen digitaler Produktivität, Umgang mit erneuerbaren Ressourcen, neue Wohnformen, Inklusion, Multiplace-Living, Migration und besonders Möglichkeitsräume für Jüngere umfasst.

Zwei Fallstudien: Lindau und Friedrichshafen Der Vergleich der beiden Fallstudien in Lindau (25.000 Einwohner) und in Friedrichshafen (47.000) Einwohner) bietet aufschlussreiche Parallelen, aber auch Differenzen. Die Komplexität der für Konversionsareale zu lösenden Fragen hat

sich in beiden Fällen bestätigt. Obwohl die beiden betrachteten Areale (Hinterer Hafen in Friedrichshafen und Bahnareal Reutin) in den jeweiligen Stadtentwicklungskonzepten (Stadt Friedrichshafen 2018, Stadt Lindau 2015) als Entwicklungsprojekt vorgesehen sind, steht die Umsetzung noch an. Das Areal in Friedrichshafen liegt direkt am Hafen und neben der Innenstadt, seine Entwicklung ist damit in hohem Maß mit den Herausforderungen diese beiden urbanen Räume verbunden. Das Areal in Lindau ist bisher - trotz seiner Nähe zur Stadtinsel - nicht im städtischen Bewusstsein präsent und zudem durch die Bahntrasse beeinträchtigt, andererseits stellen der neue Bahnhof mit überregionaler Anbindung und der bestehenden Stadtteil Reutin wertvolle Anknüpfungspunkte dar. Diese Parallelen und Differenzen werden in den dargestellten Entwurfsprojekten in einer Bandbreite von räumlichen Szenarien interpretiert. Im Mittelpunkt der entwurflichen Arbeit in den ausgewählten Konversionsarealen steht in diesem Fall nicht die Organisation und Governance des Entwicklungsprozesses - obwohl prozessuale Faktoren eine wichtige Rolle für die Erarbeitung der Entwürfe spielen -, sondern städtebauliche Zukunftsvisionen. Sie erschließen bereits in ersten Schritten neue Qualitäten, lösen lokal und regional neue Verknüpfungen und Impulse aus und sind mit neuen architektonischen Modellen regionalen Bauens verbunden. Dabei soll insbesondere neue Mobilität gefördert und genutzt werden: Fuß- und Radbewegungen als vorhandene Stärke des Bodenseeraums, der neue Bahnhof Reutin an der Magistrale München-Zürich, die Katamaranverbindung zwischen Friedrichshafen und Konstanz, das regionale Bodeseeticket sowie das Projekt der Ringbahn, die bereits eine regionale Zukunft um den See aufspannen. Der Entwurf formuliert damit einen aktuellen Beitrag zur Zukunft von Lebensräumen am Bodensee, durch die städtebaulichen Entwürfe werden durch Einblicke in größere Maßstäbe gesetzt: die Bezüge und die mögliche Rolle der Areale im Ortskontext, zum See und zur gesamten Bodenseeregion. Die Fallstudien zeigen hohe, bisher noch verborgene, Potenziale für Nachhaltigkeit und für alternative Entwicklungspfade, die von bisherigen Standardmodellen der Siedlungsentwicklung grundlegend abweichen.

Bibliographie: // a+t research group (2013) 10 Stories of Collective Housing. // Atelier 5 (2000) Siedlungen und städtebauliche Projekte. // Ebner P., Herrmann E., eds. (2009 ) Typologie+. // Ricci M., Schröder J. eds. (2016) Towards a Pro-active Manifesto. // PRIN ReCycle Series, New Life Cycles for Architectures and Infrastructures of City and Landscape. Roma, Aracne. // Scherer R., Gutjahr M. (2012) Die Bodenseeregion. Eine Wachstumsregion im Verborgenen. // Schröder J., Hartmann S. eds. (2016A) See-Wohnen. Low Rise High Density. Entwurf Stadt Winter 2015-16. Hannover, Regionales Bauen und Siedlungsplanung, Leibniz Universität Hannover. // Schröder J., Hartmann S. eds. (2016B) Low Rise High Density. Referenzkatalog. Hannover, Regionales Bauen und Siedlungsplanung, Leibniz Universität Hannover. // Schröder J. (2018) “Regenerative City Design”. In: Schröder J., Carta M., Hartmann S., eds. (2018) Creative Heritage. Berlin, Jovis. // Schröder J. (2020) “Climate Commons. Circular Design für neue Siedlungsmodelle”. In: Schröder J., Diesch A. eds. (2019) Climate Commons. Hannover, Regionales Bauen und Siedlungsplanung, Leibniz Universität Hannover, pp. 9–17. // Schröder J., Cappeller R. eds. (2020) Cosmopolitan Habitat: Urban Narratives. Hannover, Regionales Bauen und Siedlungsplanung, Leibniz Universität Hannover. // Schröder J., Carta M., Scaffidi F., Contato A., eds. (2021) Cosmopolitan Habitat. Berlin, Jovis. // Stadt Friedrichshafen (2018) Integriertes Stadtentwicklungskonzept (ISEK) Friedrichshafen. // Stadt Lindau (2015) Integriertes Stadtentwicklungskonzept (ISEK) Lindau 2030. // Waechter-Böhm L., ed. (2000) Über Wohnbau. Carlo Baumschlager und Dietmar Eberle. // Wietzorrek U. (2014) Wohnen+. Neue Formen urbaner Nachbarschaften. LAKESHORE // COSMOPOLITAN HABITAT

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10 // KOSMOPOLITISCHE DIMENSIONEN ALTERNATIVEN KREIEREN. MODELLE DENKEN. MISCHUNG ERMÖGLICHEN

Riccarda Cappeller

Was städtische Räume ausmacht ist ihre Vielfalt, was sie prägt ist das Zusammenkommen der Gesellschaft, dem sie einen Rahmen geben. Wie sie gestaltet werden, hängt also unter anderem vom unmittelbaren Kontext, dem umgebenden Raum, seinen sozialen und politischen Gegebenheiten und Grundsätzen, sowie den zeitgenössischen Vorstellungen und Erwartungen an einen Lebensraum, seine Organisation und Zukunftsprognose ab. Ausgehend von der Idee des Kosmopolitischen, die eine auf Offenheit basierende Lebensform und die Interaktionen und Diskussion mit Personen anderer kultureller Hintergründe als Potenzial befürwortet, stehen humanistische und demokratische Grundsätze wieder mehr im Vordergrund. (Watt 2010) Dies meint jedoch nicht das Entstehen von Einheitlichkeit, sondern ist gerade durch die Produktion von Heterogenität charakterisiert. (Warf 2012) Für das Entwerfen gebauter Räume bedeutet dies vor Allem das Denken von Komplexität, das Kreieren von Alternativen, die solche Differenzen nicht nur zulassen, sondern auch fördern. Es geht darum möglichst verschiedene Lebensmodelle in einer räumlichen Dimension zusammenzubringen, beziehungsweise neue, zeitgemäße Formen für das Leben in urbanen Räumen zu entwickeln, die eine solche Mischung ermöglichen.

Mit dem Entwurf LAKESHORE.COSMOPOLITAN HABITAT und dem Fokus auf den Bodenseeraum als Vierländerregion (Österreich, Schweiz, Liechtenstein und Deutschland) im Herzen Europas ist in dieser Hinsicht eine Möglichkeit geboten, die nicht nur auf der lokalen oder der theoretischen Ebene das Thema eines zukunftsfähigen Zusammenlebens adressiert, sondern diesen auch im überregionalen, globalen Zusammenhang betrachtet. Der Bodenseeraum ist Grenzregion und damit – dank seines Standortes und den wirtschaftlichen Verflechtungen, Pendlerbewegungen und transnationalen Transfer sowie der Tradition grenzüberschreitender Zusammenarbeit – Laboratorium für europäische Integration. Charakteristisch ist seine raumstrukturelle Vielfalt, die enge Nachbarschaft dynamischer Wirtschaftszentren und dicht besiedelte und ländlich strukturierte Räume, in denen Landwirtschaft bis heute eine prägende Rolle spielt. Der Region wird ein Bevölkerungswachstum prognostiziert, dem es bereits jetzt mit neuen Modellen für eine integrative und zukunftsfähige Stadtentwicklung an verschiedenen Standorten rund um den See als Erweiterung bestehender urbaner Räume zu begegnen gilt. „Integrativ“ meint an dieser Stelle zum einen die Vision einer nachhaltigen europäischen Stadt, die Aspekte des Klimawandels, innovative Mobilität und das Management städtischer Dienstleistungen zur kommunalen Daseinsvorsorge mitdenkt, gleichzeitig ist damit aber auch soziale Integration und Inklusion gemeint, welche die Gestaltung von Raum für die Menschen und ihre Interaktion als Handlungsschwerpunkt setzt und Diversität in Raum und Gesellschaft als Ziel formuliert.

Konkret zeigen die entstandenen Entwürfe also räumliche Situationen in denen neue Wohn- und Arbeitsmodelle für dichtere Strukturen des Zusammenlebens, kreative innerstädtische Pro-

duktion und kulturelle Angebote für die zufällige Begegnung und den Austausch zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine Rolle spielen und über die neue Netzwerke als mögliche Strukturen der überregionalen Zusammenarbeit erweitert werden können und diese vor einem neuen, auch regionsspezifischen und kulturell bezogenem Hintergrund denken.

// WARF, B. (2012) “Cosmopolitanism and space”. In: Geographical Review, 102(3), Iii-Vi. Zugang 2. Oktober 2020, http://www.jstor. org/stable/41709186

// WATT K. (2010) “Cosmopolitanism and the architecture curriculum”. In: Spandrel: Journal of the School of Planning and Architecture, 1 (1). pp. 35–44.

// BUNDESMINISTERIUM FÜR VERKEHR, BAU UND STADTENTWICKLUNG (2011) Metropolitane Grenzregionen. Abschlussbericht des Modellvorhabens der Raumordnung (MORO): „Überregionale Partnerschaften in grenzüberschreitenden Verflechtungsräumen“. Zugang 2. Oktober 2020, https://www.bodenseekonferenz.org/bausteine.net/f/9664/MetropolitaneGrenzregionen_WWW_20110221. pdf?fd=2 LAKESHORE // COSMOPOLITAN HABITAT

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