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ZWEI FRAUEN VERSETZEN BERGE

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LOUISE VARDEMAN

LOUISE VARDEMAN

Die Zwillinge Caro und Anita Gehrig nutzen ihren Ruf als Mountainbike-Ikonen, um ihren Sport weiblicher zu machen: mit Technik-Camps, Mentalworkshops und Atemübungen speziell für Frauen.

Die Zwillinge aus Flims-Laax, Kanton Graubünden, sind wie immer gut drauf, lachen und scherzen. Aber Caro und Anita Gehrig, 35, gestehen, dass sie gerade auch etwas wehmütig sind und unter FOMO leiden – das steht für fear of missing out, also die Angst, etwas zu verpassen.

Der Grund dafür: Ende März begann die World Series in ihrer Rad-Spezialdisziplin Enduro (EWS) im australischen Tasmanien, und die Gehrig-Twins, zwei absolute Stars in der Mountainbike-Community, waren zum ersten Mal seit zehn Jahren nicht dabei. «Das Wiedersehen mit der Bikerinnen-Szene, der grosse Zirkus des Weltcups – all das ist natürlich ein alljährliches Highlight für uns gewesen», sagt Caro Gehrig. «Die World Series-Bewerbe haben unser Leben lange Zeit bestimmt», sagt Anita. «Wir waren einfach ständig irgendwo unterwegs, aber das Leben geht weiter, diese Zeit ist einfach vorbei.»

Andererseits: Der Abschied vom Enduro, einer Disziplin, bei der man einen Berg erklimmt, um dann auf einem Trail möglichst schnell talwärts zu cruisen, öffnet die Türe für eine andere grosse Aufgabe, der sich die Schwestern widmen, und die lautet: noch mehr Frauen für das Mountainbiken begeistern.

In der weiblichen Bike-Welt hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Die Konkurrenz wird immer grösser, die Zeitabstände zwischen den besten zehn Fahrerinnen sind mittlerweile genauso gering wie bei den Männern. «Früher gab es etwa eine Frau unter fünfzehn Bikern, heute ist das Verhältnis immerhin ein Drittel Frauen zu zwei Drittel Männern», schätzt Anita. Doch sie will mehr. Wie das funktionieren soll? Ganz einfach: mit Empowerment. «Vielen Frauen fehlt es nach wie vor an Selbstbewusstsein, weil sie sich allein oder mit ihrem Partner nicht zu fahren trauen», sagt Caro Gehrig. «Das ist leider immer noch ein Thema. Deshalb raten wir den Mädels, eher mit anderen Bikerinnen zu fahren, die den Trail als ähnlich grosse Herausforderung empfinden.»

Zum einen geht es Caro und Anita darum, anderen Frauen dabei zu helfen, den Schritt zur Profikarriere zu schaffen. «Wir wissen, was es dafür braucht, kennen Sponsoren und sind gerne für die jungen Bikerinnen da, wenn sie Tipps oder Kontakte benötigen. Bis heute gibt es noch zu wenige weibliche Profs.» Andererseits kämpfen die Twins dafür, dass der Frauenanteil unter den Mountainbikerinnen weiterhin ansteigt. Daher betreiben sie seit vielen Jahren ein «Women’s Bike Camp» in ihrer Heimat Flims.

Dort arbeiten Caro und Anita mit den Teilnehmerinnen an Kurventechniken, Spitzkehren, Drops und unterschiedlichen Sprüngen. Vom Einsteigerinnen- bis zum Fortgeschrittenen-Level steht das Camp allen Frauen offen. «Die meisten Männer glauben von Anfang an, dass sie alles besser können und keine Beratung brauchen, vielen geht es nur um Geschwindigkeit», sagt Anita. Ihre Schwester ergänzt: «Die Frauen könnten eigentlich genauso gut fahren wie die Männer, sie sind oft nur weniger auf der Suche nach Adrenalin. Wir zeigen ihnen Tipps und Tricks für die Trails.» Die Folge: Die Frauen seien zwar meistens etwas langsamer, dafür aber technisch besser, weil sie mehr an ihrer Technik arbeiten. «Am Ende zahlt sich diese Arbeit aus», versichert Anita.

Frauen fahren gleich gut wie Männer – nur mit weniger Adrenalin.

Für kommenden September haben die beiden Bike-Ikonen noch ein spezielles Wochenende unter dem Namen «Specialized Women’s Bike Fest» organisiert. Dort reicht das Programm von Workshops für Fahrtechnik bis hin zu Mental-Einheiten. «Ein typischer Fehler ist, dass du aus Angst vor einem Sturz im falschen Moment bremst», sagt Caro Gehrig. «In den Mentaltrainings geht es um Konzentrations- und Atemübungen, um sich geistig auf den Trail einzustellen und angstfrei zu fahren», sagt Anita.

Blick nach vorne Anita (li.) und Caro sehen noch viel Potential für Frauen im BikeSport.

Nach dem Frust die Freude

Die Gehrig-Zwillinge wissen, wovon sie sprechen. Sie gehören heute zu den bekanntesten Mountainbikerinnen weltweit. Ein Jahrzehnt lang pedalierten die beiden durch die Weltgeschichte, fuhren EnduroRennen in Europa, Amerika, Australien und Neuseeland. Vor allem Anita Gehrig konnte bei der World Series brillieren, stand mehrmals auf dem Podium und wurde in der Worldcup-Endwertung Dritte.

«Irgendwann wurden wir für andere Bikerinnen zu Vorbildern, das macht uns schon stolz», sagt Caro. Wie sie sich gegenseitig zu ständigen Höchstleistungen gepusht haben? «Wir hatten immer eine sehr gesunde Konkurrenz zueinander, haben meistens zusammen trainiert», sagt Caro Gehrig. Und sie gibt zu: «Anita konnte bei den grossen Rennen einfach immer die bessere Leistung abrufen. Für mich war das manchmal frustrierend, aber ich habe mich immer für sie gefreut.»

Auch international haben Caro und Anita so einiges für die weibliche Mountainbike-Community bewirkt. Allen voran mit ihrer Bike-Reise durch den Iran. Der Trip wurde in der preisgekrönten Dokumentation «Free Riding Iran» festgehalten. Bei ihren Fahrten durch Dörfer animierten die Twins Frauen dazu, sich aufs Velo zu setzen und zu fahren. Und sie lernten Irans bekannteste Mountainbikerin, Faranak Parto Azar, kennen. Später konnten sie Faranak sogar zu den Cross-Country-Weltmeisterschaften in der Lenzerheide holen. «Darauf sind wir stolz, es war schön, dass wir mithelfen konnten, so etwas möglich zu machen», sagt Caro. Dabei war es ein Zufall, dass die beiden Prof-Bikerinnen wurden.

Aufgewachsen sind Caro und Anita am Bodensee, fernab von schroffen Bergen und alpinen Trails. Die Bike-Wettbewerbe kannten sie bloss als Zuseherinnen. Der ältere Bruder nahm sehr erfolgreich an einigen Cross-Country-Rennen teil, die Schwestern lernten dadurch dessen Freunde aus der Mountainbike-Szene kennen, von denen die meisten aus Graubünden kamen, dem «Home of Trails», wie Mountainbiker den Kanton nennen. Im Winter gingen die Gehrig-Zwillinge snowboarden, im Sommer ging es mit dem Kopf durch die Wand für die neue Leidenschaft am Bike, sie unternahmen Cross-Country-Touren, lernten durch Erfahrung Tritt für Tritt die Techniken. «Zum Glück hat uns die Mountainbike-Szene gut aufgenommen, die Jungs haben uns viel beigebracht, was keine Selbstverständlichkeit war», erinnert sich Caro. Bald bestritten beide erste Rennen, zunächst in der Disziplin Downhill, wo sie auf Anhieb mit den Besten mithalten konnten.

Als 2012 die Enduro World Series ins Leben gerufen wurde, wussten beide, dass das ein Sprungbrett in die Prof-Karriere werden könnte. Sie gaben nach und nach alle Nebenjobs auf und konzentrierten sich nur noch aufs Mountainbiken. Nach den ersten Erfolgen klopften auch bald die ers-

«Ein typischer Fehler: bremsen im falschen Moment – aus Angst vor einem Crash.»

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