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LESESTOFF. Der „Stone Man“ zertrümmert unsere Welt.
SCIENCE-FICTION Steinharte Geschichten
Sobald sich die Gestalt aus Stein in Bewegung gesetzt hat, kann sie nichts und niemand mehr aufhalten: Mit seinem Debütroman „Stone Man“ führt der Brite Luke Smitherd vor, wie die Welt mit existenzbedrohenden Gefahren umgeht.
Text JAKOB HÜBNER
Coventry in den West Midlands Englands: An einem lauen Sommerabend taucht mitten auf dem Millennium Place, einem beliebten Platz in der Innenstadt, plötzlich eine rund zweieinhalb Meter große, grob menschenähnliche Steinskulptur auf – tatsächlich materialisiert sich das Ding, das aussieht wie „das Männer-Piktogramm an einer Toilettentür“, buchstäblich aus dem Nichts, so als hätte Scotty es höchstpersönlich auf die Erde gebeamt.
Natürlich bildet sich augenblicklich eine schnatternde Zuschauermenge rund um die Erscheinung – alle haben die Handys gezückt und sind elektrisiert von dem Gedanken, hier einen echten SocialMedia-Heuler zu erleben. Während die Leute noch rätseln, ob es sich um einen Kunst-Event oder einen PR-Gag handelt, nimmt die Show richtig Fahrt auf: Die Kreatur, die später als „Stone Man“ die globale Berichterstattung beherrschen wird, setzt sich in Bewegung.
Unter den Schaulustigen ist zufällig auch der ehrgeizige Lokalreporter Andy Pointer. Gemeinsam mit der aufgekratzten Menge wird er Zeuge, wie der Stone Man ganz gemütlich über den Millennium Place stapft und dann, ohne langsamer zu werden, durch ein Museumsgebäude marschiert, als wäre es eine Filmkulisse aus Pappmaché. Der anfängliche Jubel wandelt sich zur schrillen Panik, in die sich schon bald die ersten Todesschreie mischen.
Auch Andy verfällt zunächst in Panik, aber bei ihm brennen nicht sämtliche
Erster Absatz aus „Stone Man“
Im Nachbarzimmer läuft der Fernseher. Der Ton ist laut, es sind die Nachrichten, und ich bekomme mit, wie ein schottischer Reporter verkündet, dass alles wieder von vorn losgeht. Natürlich wusste ich das schon, so wie jeder andere Zuschauer auch. Überall im Land und auf der ganzen Welt stellt man sich die „Preisfrage“: Wer wird es dieses Mal sein?
Sicherungen durch. Er wittert nicht nur seine große Chance als Journalist – die Story seines Lebens! –, sondern spürt auch eine mentale Verbindung zu diesem apokalyptischen Wesen. Aus irgendeinem Grund scheint er in der Lage zu sein, das Ziel des Stone Man zu lokalisieren – allerdings ohne jede Chance, die Kreatur auch nur einen Millimeter von ihrer grauenhaften Mission abzubringen. Der Stone Man geht unbeirrbar seinen Weg. Und nichts kann ihn aufhalten.
Die Rahmengeschichte, die uns der Brite Luke Smitherd hier auftischt, hat ungefähr so viel Raffinesse wie ein Bulldozer auf Autopilot. Aber um die geht es auch gar nicht.
Der besondere Reiz dieses Buchs, das – zunächst im Eigenverlag erschienen – in England durch die Decke ging und regelrechten Kultstatus erreichte, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Smitherd, der auch einen erfolgreichen Podcast („Are You Sure? With Smitherd and Shaw“) betreibt, wirft in seinem verwegenen Mix aus Science Fiction, Horror und Gesellschaftsroman einen ganzen Haufen moralischer und existenzieller Fragen auf – und beantwortet keine einzige davon. Er schmeißt sie uns einfach vor die Füße.
Da wäre zunächst der Stone Man selbst. Bei dessen Beschreibung bleibt Smitherd stets im Ungefähren und lässt damit der Fantasie des Lesers freien Lauf. Wichtig ist nur ein Punkt: Hier gibt es eine absolut tödliche Bedrohung, die man zwar kommen sieht, aber unter keinen Umständen abwenden kann.
Ein schlauer Schachzug gelingt Luke Smitherd auch mit der Figur des Reporters Andy. Er sitzt – als Erzähler dieser Geschichte – in einem Hotelzimmer und gibt die Geschehnisse in einer Art Gedächtnisprotokoll wieder. Warum, das erfahren wir erst gegen Ende des Buchs – und wäre an dieser Stelle ein geradezu gemeiner Spoiler. Verraten sei nur, dass Andy am AspergerSyndrom leidet und Probleme hat, soziale Empathie zu entwickeln – was wiederum Smitherd die Möglichkeit gibt, betont distanziert an die Sache heranzugehen und die Egozentrik unserer Gesellschaft auszuloten, ohne seinen Helden wie ein eiskaltes Arschloch wirken zu lassen.
Fazit: „Stone Man“ ist ein hinterhältiger Roman, der auf subtile Weise mit der Vorstellungskraft und den Ängsten der Leser spielt. Teil 2, „Die Rückkehr“, erscheint am 1. September, Teil 3, „Die Wiedergeburt“, ist für Jänner 2022 angekündigt.
LUKE SMITHERD „Stone Man – Die Ankunft“
Deutsch von Andreas Decker
Piper, 400 Seiten
LESETIPPS Heimkehr der Helden
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