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9 Landratsamt an vorderster Front gegen die Pandemie – Gespräch mit Amtsarzt Sandro Müller und Frank Reißmann, Abteilungsleiter Soziales und Ordnung.

Zu Fragen rund um die von Corona geprägte Situation im Gesundheitswesen sprachen wir mit Frank Reißmann, Abteilungsleiter Soziales und Ordnung, und Sandro Müller, Referatsleiter Öffentlicher Gesundheitsdienst im Landratsamt Erzgebirgskreis. Reißmann ist seit 1990 in der Behörde tätig. Der studierte Verwaltungsbetriebswirt ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Müller ist Arzt und hat am 8. Februar diesen Jahres die Referatsleitung angetreten. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

FRAGEN AN AMTSARZT SANDRO MÜLLER

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Sie sind seit diesem Jahr neuer Referatsleiter „Öffentlicher Gesundheitsdienst” im Landratsamt. Welche Aufgaben umfasst Ihr Verantwortungsbereich? Ich bin seit Jahresbeginn 2021 für den Landkreis tätig und seit 8. Februar 2021 Referatsleiter. Das Aufgabenspektrum ist breit gefächert, ebenso wie das Referat selbst. Zum Öffentlichen Gesundheitsdienst gehören die Ressorts Amtsärztlicher Dienst, Sozialpsychiatrischer Dienst, Gesundheitsförderung, Kinder- und Jugendärztlicher Dienst und der Infektionsschutz. Letzterer hat uns in der Pandemie besonders gefordert. Wichtig sind die Bereiche jedoch alle für die Erzgebirgsbevölkerung. Ein Beispiel: Wir führen jährlich die Einschulungsuntersuchungen durch. Dabei sind wir mit zwei Teams und 21 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Annaberg-Buchholz und AueBad Schlema für alle Vorschulkinder des Erzgebirgskreises im Einsatz. Dieses Jahr konnten wir aufgrund der Pandemie erst spät beginnen. Wenn in der zweiten Ferienwoche alle Untersuchungen abgeschlossen sind, waren 3.200 Mädchen und Jungen bei uns vorstellig. Diese Aufgabe ist essenziell, um gesundheitliche Defizite bei Kindern zu erkennen und diese mit den Eltern und behandelnden Kinderärzten zu thematisieren. Aufmerksam machen möchte ich auch auf das Leistungsspektrum des Sozialpsychiatrischen Dienstes, der als Anlaufstelle für Menschen mit seelischen Problemen, psychischen Störungen und psychiatrischen Erkrankungen sowie deren Angehörige beratend und mit Hilfsangeboten zur Verfügung steht. Sie sehen, wir sind nah am Menschen dran, auch wenn wir als Verwaltung agieren.

Beobachten Sie negative Tendenzen, die nichts mit Corona zu haben? Ein Beispiel, immer weniger Kinder können schwimmen, werden generell unsportlicher. Gilt das auch für den Erzgebirgskreis? Sie sind sicher nicht überrascht, dass ich die Frage nach negativen gesundheitlichen Entwicklungen mit „ja” beantworte, was ich nicht nur an eingeschränkten Schwimmfähigkeiten festmachen möchte. Gemeinhin sind das Themen, die wir alle kennen: Wir bewegen uns zu wenig, ernähren uns bisweilen nicht bewusst genug, geben Süchten nach, sind Stress ausgesetzt und informieren uns nicht ausreichend. Die gesetzlichen Krankenkassen verfügen über gute Basisdaten der Versicherten, die regelmäßig in Gesundheitsreports münden, die die skizzierten Auswirkungen widerspiegeln. Im Vergleich aller Altersgruppen sind Kinder die gesündesten Menschen, aber eben auch gefährdet. Ihr Gesundheitsverhalten wird maßgeblich vom sozialen Umfeld geprägt. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Es ist also insbesondere Aufgabe der Eltern, Kindern eine gesunde Ernährung, vielseitige Fähigkeiten wie Fingerfertigkeiten beim Basteln und Handwerken oder eben die Freude an Bewegung zu ermöglichen. Das Thema der Gesundheitsförderung nimmt gesellschaftspolitisch zunehmend Raum ein, weswegen es gegenwärtig nicht nur für Kinder, sondern für alle Lebensphasen eines Menschen Angebote und Programme gibt, um die physische und psychische Gesundheit zu stärken und zu erhalten. Insofern ist die Gesundheitsförderung ein durchweg positiv besetztes, zukunftsorientiertes Thema für mich.

Kommen wir auf die Pandemie zu sprechen. Gegenwärtig ist das Infektionsgeschehen im Landkreis stark gesunken, es gab aber auch andere Zeiten. Wie haben Sie die Pandemie erlebt und welche Erfahrungen nehmen Sie mit aus dieser Krise? Meinen beruflichen Wechsel vom Krankenhausalltag in den Öffentlichen Gesundheitsdienst habe ich in etwa am Ende der zweiten und zu Beginn der dritten Welle vollzogen. Insofern habe ich mindestens zwei Blickwinkel auf das Erlebte. Die medizinische Versorgung stationärer COVID-Patienten hatte kurz vor Weihnachten den Höhepunkt erreicht. Ich fasse mich kurz: Es waren zu viele Patienten, die einer stationären Behandlung bedurften. Die Kapazitäten, vor allem pflegerisches Personal, waren für diese Situation nicht ausreichend. Es war die Arbeit am absoluten Limit und darüber hinaus, auch wenn es per se die Aufgabe der Mediziner ist, um Menschenleben zu kämpfen. Den Kampf haben wir leider aufgrund der noch heute vielen Unbekannten von COVID-19 zu oft verloren. Im Öffentlichen Gesundheitsdienst war ich mit einem anderen Aufgabenschwerpunkt konfrontiert. Hier ging es vor allem um die Kontaktnachverfolgung, die bei hohen Fallzahlen und Kontakten eine immense Herausforderung war. Bisher referatsfremde Aufgaben, wie das Ausstellen von Pendlerbescheinigungen, haben es uns nicht leichter gemacht. Hinzu kamen häufig wechselnde rechtlichen Verordnungen von Bund, Land und Robert-Koch-Institut mit ihren Auswirkungen auf unsere Arbeit und das Leben aller. Die zum Teil große Verunsicherung der Bevölkerung war für uns deutlich spürbar und häufig auch nachvollziehbar. Wir haben in dieser Zeit unheimlich viel Unterstützung erfahren, ohne die mein Team und ich das von uns geforderte Pensum nicht hätten stemmen können. Das ist eine sehr positive Erfahrung, die ich mitnehme: Die Menschen stehen zusammen, wenn es kritisch ist. Vieles, was bisher im Verborgenen blieb, hat jetzt Aufmerksamkeit erfahren, zum Beispiel der Öffentliche Gesundheitsdienst. Vielleicht wage ich noch einen Ausblick: Ich gehe davon aus, dass wir ähnlich wie im Vorjahr nach der Ferienzeit wieder einen Anstieg an Fallzahlen haben, wenngleich vermutlich – und hoffentlich für uns alle – nicht so hoch wie im Herbst/Winter 2020. Für das damit einhergehende Arbeitspensum, das meinem Referat daraus erwachsen wird, haben wir in den letzten Monaten Strukturen und Prozesse etabliert, um dieses zu bewältigen. Zu hoffen ist, dass es weniger schwere Krankheitsverläufe gibt und die medizinische Versorgung stabil bleibt, wir alle uns zumindest mit einem Mindestmaß an Rücksicht zueinander verhalten und Maßnahmen wie das Impfen sich positiv auf die Infektionsentwicklung auswirken.

FRAGEN AN FRANK REISSMANN, ABTEILUNGSLEITER SOZIALES & ORDNUNG

Als Leiter der Abteilung Soziales und Ordnung haben Sie die Pandemie vom ersten Fall am 12. März 2020 bis heute in der Landkreisverwaltung begleitet. In regelmäßigen Pressekonferenzen mit dem Landrat haben Sie zur aktuellen Lage berichtet. Ein Thema, das immer wieder eine Rolle spielte und für viele dennoch nicht greifbar war, war die Einschätzung zur Lage in den Krankenhäusern. Wie bedrohlich war die Situation? Schaut man auf die Zahlen des RKI, gab es in der Woche mit den meisten Infektionen (KW 51/175,799) genau 12.509 Hospitalisierungen. Bei 1925 Krankenhäusern in Deutschland sind das pro Haus 6,4 in einer Woche, also nicht mal ein Patient pro Tag. Das liest sich nicht besonders problematisch, oder ist es eine Milchmädchenrechnung? Ja, das ist es – eine Milchmädchenrechnung. Zunächst: Das Intensivbettensystem ist nicht starr, sondern an konkrete Voraussetzungen gebunden. Es geht nicht nur um das Bett oder das Vorhalten eines Beatmungsgeräts, sondern vor allem auch darum, dass die pflegerische und medizinische Betreuung durch versiertes Personal gesichert ist. Nur wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, wird ein Bett im DIVI-Register geführt. Demnach ist jede Statistik, die nicht auf diesem System fußt, für sich genommen eine Milchmädchenrechnung. So kommt es, dass die Anzahl der vorgehaltenen ITS-Bettenkapazitäten für eine Region schwanken kann, weil hier immer tagesaktuell geschaut und von den Medizinern der Krankenhäuser gemeldet wird, was wirklich vorgehalten, belegt und versorgt werden kann. So haben es uns die Kliniker immer wieder vorgetragen. Hinzu kommt, dass der intensivpflichtige COVID-Patient bis zu 4 oder 6 Wochen zu versorgen ist, das heißt, ein Bett langfristig nicht neu belegt werden kann. Ein Beispiel aus der Vergangenheit. Am 15. April 2021 wurden 182 COVID-Patienten stationär in allen 6 Krankenhäusern im Erzgebirgskreis versorgt, 42 davon intensivmedizinisch. An diesem Tag wurde von diesen 6 Krankenhäusern noch ein freies ITS-Bett im Erzgebirgskreis an das DIVI-Register gemeldet. Dann ist die Lage schon sehr angespannt, weil am Ende Uwe Tippner (Mitte) für Premissima im Gespräch mit Frank Reißmann (rechts), Abteilungsleiter Soziales und Ordnung im Landratsamt Erzgebirgskreis, und Sandro Müller, Referatsleiter Öffentlicher Gesundheitsdienst in der gleichen Behörde. Foto: Olaf Seifert

auch für alle anderen intensivmedizinischen Fälle, zum Beispiel Notfälle, keine Kapazitäten – zumindest ortsnah nicht mehr – zur Verfügung stehen.

Mancherorts hat man den Eindruck, dass die Miesmacher in der Mehrheit sind. Sehen Sie das auch so? Nein, diesen Eindruck teile ich nicht und er ist auch so nicht bei uns angekommen. Ich bin überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit vernünftig mit der Pandemie umgegangen ist, sich informiert und Lösungen gefunden hat. Wenn man die Berichterstattung in den Medien verfolgt, könnte der eine oder andere allerdings schon auf den von Ihnen geäußerten Gedanken kommen. Aber die Menschen, die sich der Situation gestellt haben, haben entweder konstruktive Kritik eingebracht oder keine Hilfe eingefordert. Diese dürften sich mit ihrer Wahrnehmung und Erfahrung so nicht in den Medien wiederfinden. Das ist der Punkt an dem ich allen Bürgerinnen und Bürgern für ihr besonnenes Verhalten danken möchte. Ein herzliches Dankeschön dafür, dass sie nach besten Kräften und den jeweils eigenen Möglichkeiten eigenständige Lösungen gefunden und nicht alle Probleme mit einem Fingerzeig auf die Landkreisverwaltung verlagert haben. Danke auch allen in den medizinischen und pflegerischen Bereichen, den Akteuren in den Kitas und Schulen sowie und jenen, die im Landratsamt und das Landratsamt unterstützt haben. Das sind sowohl unsere Mitarbeiter, als auch Personal, das von extern gekommen ist, um uns zu helfen. Danke an Sie alle, ohne Unterstützung hätten wir die Situation nicht schultern können!

Glauben Sie, dass die Corona-Krise auch positive Auswirkungen hat? Sind die Erzgebirger näher zusammengerückt? Aus meiner Sicht ist eine positive Erfahrung, die wahrscheinlich jeder für sich machen konnte, dass es wichtig ist, sich in Krisen selbst zu helfen. Von heute auf morgen gab es durch den Lockdown einschneidende Veränderungen in unser aller Alltag. Ein Beispiel: Schulen- und Kindergärten wurden geschlossen. Die Betreuung, ob im Homeoffice oder anderweitig, sowie Homeschooling mussten organisiert und gemeistert werden. Das hat uns alle erleben lassen, dass Pragmatismus und eigenverantwortliches Handeln gefragt sind. Für uns in der Verwaltung wurde das konkret bei der Kontaktnachverfolgung deutlich. Dort haben wir die Aufgabe binnen kurzer Zeit so standardisiert und strukturiert, dass diese auch durch fachfremdes helfendes, zugeführtes Personal geleistet werden konnte. Im Übrigen wäre es ohne diese Hilfe zu Spitzenzeiten, etwa kurz vor Weihnachten, gar nicht gegangen. Schließlich war es das kreative Zusammenwirken, gepaart mit enormem persönlichen Engagement, was Systeme – sei es die Verwaltung bei der Kontaktnachverfolgung oder die Familie – hat funktionieren lassen. Ob die Erzgebirger deshalb näher zusammengerückt sind, kann ich nicht einschätzen – waren sie das nicht schon immer?