4 minute read

Wenn Moleküle aus dem Schulbuch steigen

Chemische Strukturformeln wirken oft abstrakt und schwer verständlich – besonders für Lernende. Das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Forschungs-projekt OrChemSTAR macht sie mithilfe von Augmented Reality und Künstlicher Intelligenz interaktiv erlebbar und diagnostiziert typische Fehler automatisch. Gemeinsam mit dem Ausbildungsmodul ChemStrucLearn entsteht so ein innovatives Lernsystem, das den Chemie-unterricht personalisiert und digital neu denkt.

Die Kamera eines Tablets richtet sich auf eine Seite im Schulbuch. Sekunden später beginnt sich auf dem Bildschirm ein dreidimensionales Molekül zu drehen. Was vorher kryptisch als Summenformel in der Fussnote stand, schwebt nun plastisch über dem Text – sichtbar, greifbar, lebendig. Ein einfacher Fingertipp zeigt freie Elektronenpaare, ein weiterer macht einen Zeichenfehler im eigenen Notizheft sichtbar. Willkommen in der erweiterten Realität des Chemieunterrichts.

Der Chemieunterricht steht vor einem Umbruch

«Die Projekte OrChemSTAR und ChemStrucLearn eröffnen neue Wege für das Lehren und Lernen chemischer Strukturen», erklärt Projektleiter LarsJochen Thoms von der Pädagogischen Hochschule Thurgau. «Durch die Kombination von Augmented Reality (AR), Künstlicher Intelligenz (KI) und fachdidaktischer Forschung werden abstrakte Formeln greifbar, typische Schülerfehler diagnostizierbar und Lernpfade individuell anpassbar.» Was als visionäres Experiment begann, entwickelt sich nun zu einem ernstzunehmenden didaktischen Werkzeug, das die Grenzen klassischer Unterrichtsformen überwindet – und Chemie zugänglich macht für alle, die bisher nur Bahnhof verstanden haben.

Die App OrChemSTAR: Strukturformeln neu erleben

Im Mittelpunkt steht eine App mit drei Funktionsmodi. Frieder Loch, Professor für User­ Centered Design und Studiengangsleiter Digital Design an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, tippt auf den Bildschirm des Tablets und erklärt: «Im AR ­Modus erkennt sie chemische Verbindungen in Schulbüchern oder Arbeitsblättern und überlagert sie mit Strukturformeln und 3D ­Visualisierungen – direkt auf dem Bildschirm. Im Scan­Modus werden handgezeichnete Formeln analysiert sowie typische Fehler wie fehlende Elektronenpaare erkannt und visuell hervorgehoben. Der Train­Modus schliesslich bietet eine Art Vokabeltrainer für Moleküle: Häufig falsch gezeichnete Verbindungen tauchen öfter auf, Lernwege werden adaptiv angepasst.» So entstehe eine digitale Lernumgebung, die nicht belehrt, sondern begleitet. Sie übersetzt Fachsprache in Visualisierungen, erkennt Schwierigkeiten und reagiert flexibel – ein Tutor im Hosentaschenformat.

YOLO, Roboflow und molekulare Muster

Die technische Basis bildet ein KI ­ Modell auf Grundlage des YOLO ­Frameworks («You Only Look Once»). Es wurde darauf trainiert, handgezeichnete chemische Strukturformeln zu erkennen – ein komplexes Unterfangen, das Hunderte annotierte Schülerzeichnungen erfordert. Mit dem Tool Roboflow werden Atome, Bindungen und freie Elektronenpaare aus Bildern extrahiert, klassifiziert und einem neuronalen Netzwerk zugeführt. Das Modell lernt so, typische Fehler zu diagnostizieren – etwa unvollständige Valenzen oder inkorrekte Ladungen – und gibt gezieltes Feedback. Die gesamte Anwendung funktioniert offline, ist datenschutzkonform und benötigt weder Internetverbindung noch Benutzerkonto.

ChemStrucLearn: KI ­ Kompetenz für angehende Lehrpersonen

Damit solche Systeme nicht im Elfenbeinturm der Forschung bleiben, wurde das universitäre Ausbildungsmodul ChemStrucLearn entwickelt. «Angehende Lehrpersonen der Naturwissenschaften lernen dort nicht nur, wie man KI­Modelle trainiert, sondern auch, wie man sie im Unterricht einsetzt. In mehreren Phasen – von der Datenerhebung bis zur Unterrichtssimulation – entwickeln sie praxisnahe Szenarien zur Integration von KI­gestützter Bilderkennung in den Schulalltag», erläutert Projektleiter Lars­Jochen Thoms von der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Ein Schwerpunkt liege dabei auf der didaktischen Reflexion: Welche Art von Rückmeldung ist hilfreich? Wie lässt sich eine App sinnvoll in analoge Lernprozesse einbetten? Und wie verändert sich die Rolle der Lehrperson, wenn ein Teil der Diagnose automatisiert wird?

Lernen aus Fehlern: präzise, individuell, sichtbar

Das eigentliche Potenzial der App liegt in der Fehlerdiagnose. Indem typische Schwächen wie fehlende Elektronenpaare oder falsch eingezeichnete Molekülteile automatisch erkannt werden, erhalten Lernende unmittelbares Feedback – ohne Wartezeit, ohne Bewertung. Sie lernen aus ihren Fehlern, nicht trotz ihnen. Der adaptive Train­Modus verstärkt diesen Effekt: Je häufiger ein Fehler vorkommt, desto gezielter wird er aufgegriffen. Diese individuelle Förderung entlaste die Lehrperson und schaffe Raum für differenzierten Unterricht – gerade in heterogenen Klassen ein echter Gewinn, so Thoms.

Herausforderungen und Ausblick

Natürlich gibt es auch Hürden: «Das Modelltraining erfordert erhebliche Rechenzeit, die Datenannotation ist aufwendig und die Integration in bestehende Lehrpläne will gut vorbereitet sein», ergänzt OST­Professor Frieder Loch. Doch die Ergebnisse sprechen für sich: Durch OrChemSTAR und ChemStrucLearn entsteht ein digitales Ökosystem, das nicht nur technologisch beeindruckt, sondern auch didaktisch überzeugt. Es zeigt, wie moderne Technologien sinnvoll in die Schule gebracht werden können – nicht als Selbstzweck, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe im Lernen.

Chemieunterricht auf Augenhöhe

OrChemSTAR und ChemStrucLearn stehen für eine neue Generation didaktischer Werkzeuge. Sie machen abstraktes Wissen sichtbar, geben unmittelbares Feedback und fördern individuelle Lernprozesse. Dabei verbinden sie technologische Exzellenz mit pädagogischer Sensibilität. Wer in Zukunft Chemie unterrichten oder lernen will, darf sich auf ein neues Kapitel freuen – eines, in dem Moleküle aus dem Buch steigen und Bildung plötzlich ganz nah ist. BrMi

Kontakt zum Projektverantwortlichen:

Prof. Dr. Frieder Loch I3 Institut für Interaktive Informatik, Professor für User-Centered Design+41 58 257 46 43frieder.loch@ost.ch

Prof. Dr. Lars-Jochen Thoms Pädagogische Hochschule Thurgau / Universität Konstanz +41 71 678 57 88lars.thoms@phtg.ch

This article is from: