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Zeitgenössischer Zirkus beim düsseldorf festival!

Zeitgenössischer Zirkus beim

© Pedro Greig

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Kein Genre entgeht seiner Revolution, auch die nicht, die sich in der Trivialecke so schön unbehelligt fühlten von den intellektuellen Erneuerern, die immerzu alles hinterfragen und kritisieren müssen. Aber auch da taucht eines Tages ein Widerständler auf und sagt: ‚So nicht mehr‘. In der Entertainmentsparte „Zirkus“ waren das in den 1970er Jahren die Tierschutzverbände. Sie rebellierten gegen die Shows mit Wildtieren und machten jedem ein schlechtes Gewissen, der immer noch einen Löwen durch einen Feuerring springen sehen wollte. Denn das war Zirkus doch: Menschen! Tiere! Sensationen! Oder?

Ein Ausflug in das poppig-leuchtende Gummi-Zelt, das auf einer großen Wiese am Rande der Stadt aufgebaut war, verhieß: Akrobaten hoch unter der Decke im Glitzerkostüm. Der Duft von Sägespäne, Pferdeäpfeln, Popcorn. Ein Clown stolpert und begreift nicht warum. Und ein Löwe reißt zornig sein Maul auf. Zirkus – ein Mischmasch aus Mensch- und Tierdressuren in der Sägespäne-Arena, dem „runden Ungetüm in bunten Farben“, wie der Theaterkritiker Alfred Kerr lästerte. Und dahinter ein Leben in schäbigen Wohnwagen. Die schmuddelig-tragische Welt des Wanderlebens und der Familiendynastien, die ihre Kunst von Generation zu Generation weitergaben. In Filmen und Romanen lebt dieses Klischeebild bis heute fort, noch immer greifen Autoren und Regisseure auf die 1920er Jahre zurück, wenn sie sich dem Sujet ‚Zirkus‘ zuwenden. Dabei ist hier längst nichts mehr wie es einmal war. Frankreich ist das Land, das als erstes mit dem Kult bricht und den „Cirque Nouveau“ erfindet, den Neuen Zirkus: Statt Nummern aneinander zu reihen und von einem Zirkusdirektor in Zylinder und Frack ansagen zu lassen, werden die Acts in ein Narrativ eingebunden. Es gibt eine Rahmenhandlung, die alles miteinander verknüpft. 1984 gründet in Kanada der Feuerschlucker Guy Laliberté mit zwei Partnern den „Cirque du Soleil“, der bald schon die Idee eines „Neuen Zirkus“ verbreitet. In den folgenden Jahrzehnten wächst der „Cirque du Soleil“

von Nicole Strecker

zum Global Player an, gründet Filialen weltweit, beschäftigt bis zu 5.000 Artisten, ehe Covid19 das Unternehmen an den Rand der Insolvenz bringt. Doch die neuen Standards sind seit den 1980er Jahren gesetzt. Überall verändert sich das Genre. Artistenschulen etablieren sich, bieten professionelle Ausbildungen an und sorgen für ein Selbstbewusstsein der neuen Generation als Künstler. Die drängen raus aus dem Zelt, hinauf auf die Theaterbühnen, suchen auch die Vernetzung mit anderen Künsten. In den 1990er Jahren ersetzt man die Stories dann durch Reflexionen über Themen. Der „Zeitgenössische Zirkus“ entsteht, neuerdings auch „Circus Dance“ genannt. Der verhandelt Genderpolitik und Identitätskrisen, stellt existenzielle Urfragen und übt Zeitkritik wie jede andere Kunstform auch. Er sei heute ein „Hybrid“, meint die Kulturpoetin und promovierte Zirkusexpertin Franziska Trapp. Zeitgenössischer Zirkus sei „ein Genre des Dazwischen. Zwischen Innovation und Tradition. Zwischen Kunst und Unterhaltung. Zwischen Körperlichkeit und Diskurs. Zwischen Politik und Ästhetik“. Wobei: Offen für den gesellschaftlichen und technischen Fortschritt war der Zirkus schon immer, betont Franziska Trapp: „Die wilden Tiere sind im Zuge des Kolonialismus nach Europa gekommen. Die Pailletten der Kostüme entstanden mit der Erfindung des elektrischen Lichts. Das heißt: Das Bild des Zirkus wurde immer auch von bestimmten Ideologien geprägt. In seiner Hochphase, zur Zeit der industriellen Revolution, ging es darum, zu dominieren. Der Mensch dominiert die Maschine oder eben Tiere.“ Und heute? Partriachalische Allmachtsfantasien sind eher nicht angesagt. Heute will der Artist eigentlich nur eines dominieren und kontrollieren: den eigenen Körper. Und man weiß längst nicht mehr so genau: Ist das noch Zirkus – oder nicht eigentlich Tanz? Wie bei dem Schweizer Martin Zimmermann. Choreograf, Regisseur, Artist – Clown? Wir erinnern uns: Die Spaßmacher waren mal niedliche Kreaturen mit runden tomatenroten Nasen, wuscheligen bunten Haaren, zu großen Schuhen und einer Tolpatschigkeit, neben der jedes Kind elegant wie eine Ballerina aussah. Doch schon sie sollen für die Coulrophobie verantwortlich gewesen sein, die krankhafte Angst vor Clowns. So entdeckte die Popkultur ihr Potenzial: In den 1980er Jahren verbreiteten Steven Spielbergs Killerclown ‚Pennywise‘ und andere Horrorclowns Angst und Schrecken. Im Jahr 2021 ist der Clown gar der Tod höchstselbst. So jedenfalls bei Martin Zimmermann, in dessen neuem Stück sich unter der weißen Schminke die furchteinflössendste mittelalterliche Allegoriengestalt verbirgt: Skelettdürrer Körper, das bleiche Gesicht zeichnen die schwarzen Schatten von Hohlaugen und Zähnen, auf den Gliedmaßen leuchten weiß die Knochen. Nur der Melonen-Hut wie ihn berühmte Komiker-Ahnen wie Charlie

© Nelly Rodriguez

Chaplin, Pan Tau oder ‚Dick und Doof‘ trugen, verrät, dass dieser Sensenmann vielleicht doch eher zum Totlachen taugt. Der Schweizer Artist Martin Zimmermann selbst spielt und tanzt diesen ‚Schnitter‘ und huldigt in seiner neuen, beim Düsseldorf Festival! gezeigten Produktion einer uralten, aber unvergänglichen Tradition: dem „Danse Macabre“, dem Totentanz. Ein triumphierender Knochenmann führt die Menschen jeden Alters tanzend ihrem Ende zu. Zahllos sind die Choreografen, die sich schon von diesem kuriosen Topos, der seit dem 14. Jahrhundert dokumentiert ist, inspirieren ließen: Mary Wigman, Kurt Jooss, Marco Goecke, John Neumeier, Jan Fabre... Die Verschmelzung von Thanatos und Tanz – so schmerzzerwühlt tragisch, so morbid-ekstatisch, so gallig zeitkritisch. Oder: So bizarr komisch, wie bei Martin Zimmermann, dessen Motto lautet: „Mein Humor ist die lächerliche Form des Traurigen.“ Sein ‚Tod‘ möchte eigentlich drei Outlaws, die auf einer Mülldeponie leben, holen. Aber die erweisen sich als überraschend zäh und entschlüpfen immer wieder ihrem Exitus – freilich ohne das selbst immer so genau geplant zu haben. Der Tod als Clown – das ist eindeutig mehr Beckett als Boulevard. Trotzdem geht beim Begriff „Zirkus“ noch immer eben diese Schublade auf: „Varieté“, gerade in Deutschland. Mit entscheidenden Konsequenzen. Denn während jeder Balletttänzer sich mit einer Pirouettendrehung in die Kategorie „Kunst“ schraubt, bleibt der durch die Luft kreiselnde Saltospringer schlicht „Gewerbe“. Und das heißt: Kein Zugriff auf die Fördertöpfe. Vor zehn Jahren gründete die Luftartistin Jenny Patschovsky deshalb gemeinsam mit anderen Zirkuskünstlern den Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus. Der BUZZ setzt sich für die Anerkennung der Sparte als Kunstform ein, denn offenbar, so Verbandsvorsitzende Patschovsky, tue man sich im ‚Land der Dichter und Denker‘ besonders schwer, sich von der alten Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur, zwischen Kunst und Populärkultur zu lösen. In Frankreich ist das anders. „Dort gibt es schon seit den 1980er Jahren staatliche Förderprogramme für den Zirkus“, sagt Patschovsky. „Mittlerweile existieren in vielen Regionen des Landes große Zirkuszentren, in denen von der Recherche über die wissenschaftlichen Begleitung und Produktion bis zur Aufführung alles koordiniert wird.“ Seit einem halben Jahrhundert gilt Zirkus in Frankreich als Kunstform. In Skandinavien seit 20 Jahren. In Großbritannien seit 10 Jahren. Und in Deutschland? Seit einem Jahr erhält der BUZZ erstmals Bundesmittel vom Fonds Darstellende Künste eV, was dem Ritterschlag zur Kunstform gleichkommt, nachdem in den letzten Jahren einiges in Bewegung geraten ist. Künstler mit Artistenausbildung wie die Gründer der Kölner Formation „Overhead Project“ wurden dem Zeitgenössischen Tanz zugeordnet und entsprechend gefördert und gezeigt. Große Festivals wie die Ruhrfestspiele programmieren den „Neuen Zirkus“ als Themenschwerpunkt. Und das Düsseldorf Festival! lädt schon seit 1996 Artistengruppen aus dem Ausland ein. Ein Stammgast im Programm: „Circa Contemporary Circus“ aus dem australischen Brisbane. 2004 von dem Regisseur Yaron Lifschitz gegründet, zählt „Circa“ zu den weltweit renommiertesten Zirkus-Kompanien, mit Gastspielen in 40 Ländern und Millionen Zuschauern. Atemberaubende Artistik, fliegende Leiber, Menschenpyramiden, Körperwelten, von denen man nicht ahnte, dass sie möglich wären. Eigentlich kann es auf einer Theaterbühne keinen wirklich guten Science-fiction geben, denn während in Romanen und Filmen tatsächlich die gruseligsten, tollsten TranshumanistenFantasien entworfen werden können, völlig losgelöst von der Erde, bleibt auf einer Tanz- und Theaterbühne das Material doch ziemlich begrenzt, weil: menschlich. Aber wenn einer das überhaupt kann, dann wohl Lifschitz mit seinen legendär wagemutigen, gelenkigen Performern. „Humans 2.0“ heißt seine neue Show verheißungsvoll, eine Fortsetzung seiner Erfolgsproduktion „Humans“ – jetzt als Fantasie über den Menschen der Welt von Big Data. Vermutlich doch eine Mischkreatur, die ihre organische Substanz längst technisch gepimpt hat und sich deshalb stärker, schneller, unberechenbarer bewegt? Aber möglicherweise ist dieses digital getunte Geschöpf auch intelligenter als wir und uns deshalb moralisch weit überlegen? Eine Liebeserklärung an den Menschen sei dieses Stück, kündigt Lifschitz an. Im übrigen ist er keiner, der sich gern über seine Konzepte auslässt. „Je weniger wir uns anstrengen, eine Geschichte oder ein Thema zu vermitteln“, sagte er einmal über seine Arbeit, „umso mehr lesen die Menschen hinein.

Martin Zimmermann: Danse Macabre

Mi 15.9. & Do 16.9., 20 Uhr, Theaterzelt, Burgplatz, S. 42 Yaron Lifschitz & Circa: Humans 2.0

Fr 17.9. – So 19.9., 20 Uhr, Theaterzelt, Burgplatz, S. 45

Ich denke, Körper sind unweigerlich poetisch und politisch. Sobald man sich in die eine oder andere Richtung verbiegt, oder zweimal in die eine und einmal in die andere Richtung, kodiert man bereits den Körper.“ Trotzdem: Die utopische Kraft der Kunst ist derzeit unübersehbar eines seiner Themen. Denn alles, was je mit Zirkus verbunden wurde, hat die Sparte in den letzten Jahren befragt, analysiert, dekonstruiert. Aber in einem ist sie sich doch treu geblieben: der Ästhetik des Risikos. Der Thrill, ob der Balanceakt auf dem Schlappseil gelingt. Die Jonglage mit Bierflaschen. Der Sprung meterhoch oben in die Arme eines Partners. Der Tod springt mit. Der mögliche Schmerz – ein treuer Schatten des Künstlers. Die Artisten gehen für uns an Grenzen. Sie schenken uns für ein paar Sekunden den Glauben an den Körper als Wunderwerkzeug. Ist der Mensch – so schlecht, so schuldig – nicht doch ein bisschen göttlich? Das ist die schönste Illusion der Kunst. Kein Bühnen-Genre schenkt sie uns großzügiger als der Zeitgenössische Zirkus.

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