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Haus im Moos

Auf den Mensch gekommen

HAUS im MOOS in Karlshuld Von der Trockenlegung eines Niedermoores und den Folgen Autorin: Steffi Klatt

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Gruselig, kalt, feucht und insgesamt lebensfeindlich – so erlebten die Menschen vor gut 200 Jahren das Donaumoos, mit 20.000 Hektar das größte zusammenhängende Niedermoorgebiet in Süddeutschland. Kein Gedanke, dort zu leben oder es freiwillig zu betreten. Die Gefahr, sich im Nebel zu verlaufen, im Morast einzusinken und für immer zu verschwinden, war zu groß. Heute ist das Donaumoos eine gut erschlossene Region mit hoher Lebensqualität, rund 15.000 Menschen leben hier verteilt auf drei Gemeinden. Was ist geschehen?

Das Haus im Moos lädt ein, die gut 200jährige Besiedlungsgeschichte mit all ihren Höhen und Tiefen kennen zu lernen und hautnah zu erleben. Mitten im Donaumoos gelegen, umfasst das Haus im Moos ein Tagungs- und Bildungszentrum mit Übernachtungsmöglichkeit für Gruppen, ein Heimatmuseum und ein Freilichtmuseum. 1997 von der Stiftung Donaumoos errichtet, um die kulturellen Wurzeln dieser einzigartigen und jungen Kulturlandschaft zu erhalten, werden hier getreu dem Leitspruch „Aus der Herkunft in die Zukunft“ auch Perspektiven für eine nachhaltige Entwicklung des Donaumooses als Natur- und Lebensraum aufgezeigt. So ist es eine Hauptaufgabe der staatlich anerkannten Umweltstation, ihren Gästen den unmittelbaren Zugang zur Donaumoos-Natur zu ermöglichen und das Bewusstsein für die Besonderheiten des Niedermoors und der Donaumoos-Landschaft zu wecken. Im Haus im Moos ist auch die Regionalstelle Karlshuld des bayerischen Artenschutzzentrums ansässig. Von hier aus werden Moorschutz-Projekte in ganz Bayern auf den Weg gebracht und betreut.

Das Freilichtmuseum ist angelegt wie früher alle Siedlungen im Donaumoos: beidseitig der Straße, begleitet von Birken und Entwässerungsgräben, liegen die Häuser und Höfe. Vier der ältesten noch erhaltenen Donaumooshäuser erzählen vom harten Kampf der Menschen gegen Nässe und Unfruchtbarkeit.

Links: Das Freilichtmuseum ist einem typischen Straßendorf nachempfunden Foto: © Haus im Moos

Linke Seite, oben: Das Haus im Moos liegt im oberbayerischen Landkreis Neuburg-Schrobenhausen Linke Seite, Mitte: Der Öxler-Hof gehörte einer wohlhabenden Bauernfamilie Unten: Blick ins Schlafzimmer eines Donaumoosbauern Rechte Seite, oben: Der Torfstich war eine schwere und schmutzige Arbeit Unten: Korbmacher und andere Tagelöhner lebten sehr ärmlich

Fotos: © Haus im Moos

Generation für Generation rang dem Moos ihre Existenz ab. Bittere Armut, Krankheit und früher Tod gehörten bei den Siedlern im Moos zur Tagesordnung. Erst mit der Entwicklung von Kunstdünger um 1900 wurden die Lebensbedingungen im kargen Moos besser. Der Saatkartoffelanbau brachte den „Möslern“ den lang ersehnten wirtschaftlichen Aufschwung.

Das kleine Korbmacherhaus und zwei originalgetreu eingerichtete Moosbauernhöfe sind als Museumshäuser zu besichtigen. In den Außenställen werden Hühner, Gänse und Ziegen gehalten, ganz so, wie das früher üblich war. Zur Museumsgaststätte „Rosinger Hof“ gehört neben der historischen Gaststube und dem schönen Saal auch ein großer sonniger Biergarten. Auf der historischen Außen-Kegelbahn können Gäste wie anno dazumal eine ruhige Kugel schieben. Beim alljährlichen Museumsfest wird die Geschichte lebendig. Vorführungen historischer Arbeiten wie Heu-Machen, Dreschen, Kartoffelernte oder Brot-Backen locken viele Gäste an. Korbmacher, Besenbinder und Musikanten zeigen ihr Können. Die historischen Bauerngärten laden jeden Herbst zur öffentlichen Gemüseernte ein.

Das Heimatmuseum des Kulturhistorischen Vereins Donaumoos zeigt die Donaumoosbewohner und ihre Heimat. Sie präsentiert die Torfstecher und Korbmacher aus der nicht ganz so guten alten Mit der Entwässerung und Kultivierung des Donaumooses begann auch der Torfschwund. Der früher weit verbreitete Torfabbau beschleunigte den Prozess. Seitdem sackt der Moorboden fortwährend ab. Entwässerungsgräben werden regelmäßig nachgetieft. Heute sind rund drei Meter Torfauflage und ein Drittel der Moorfläche verschwunden. Tendenz: schnell weiter schwindend.

Doch das Donaumoos braucht das Wasser, andernfalls zersetzt es sich und entlässt dabei das gespeicherte CO2 in die Atmosphäre. 415 000 Tonnen sind es pro Jahr, soviel wie der Ausstoß einer mittleren Kleinstadt. Aber es geht nicht allein um den Klimakiller CO2. Das Moor verliert dabei auch merklich an Substanz. Ein bis zwei Zentimeter Torfboden gehen jährlich verloren. Je nach Moormächtigkeit tritt in wenigen Jahrzehnten landwirtschaftlich nicht mehr nutzbarer Boden zutage. Das wäre das Ende der Landwirtschaft.

Das Haus im Moos ist eingebettet in eine typische Niedermoorlandschaft. Wege und Pfade führen entlang von Feuchtfl ächen, über Brücken und Stege, vorbei an Viehweiden mit Pferden, Murnau-Werdenfelser-Rindern und Moorschnucken – einer besonderen Schafrasse. Mit etwas Glück entdeckt man auch die versteckt gelegene Schilfhütte, von der aus man ungestört seltene Vogelarten beobachten kann.

Die Wisentherde am Haus im Moos ist mit rund 30 Tieren das größte Wisent-Arterhaltungsprojekt in ganz Süddeutschland. Der Donaumoos-Zweckverband zeigt mit dem Projekt, dass sich Wisente für eine extensive Beweidung von Niedermooren eignen. Die Wisente lassen keine Gehölze aufkommen und pfl egen die Fläche. So entsteht ein kleinräumiges Mosaik aus unterschiedlichen Pfl anzenbeständen, in dem sich sehr kurz gefressene Bereiche mit langgrasigen abwechseln. Hier können Tierarten mit unterschiedlichen Ansprüchen, insbesondere viele Insekten, neue Lebensräume fi nden. Oft begleiten auch ganze Vogelscharen die Wisente beim Futtergang auf der Weide.

Für die Gäste des Haus im Moos stellen die zotteligen Urviecher eine besondere Attraktion dar. Erst recht, weil die imposante Tierart Anfang des 20. Jahrhunderts so gut wie ausgerottet war. Von der Aussichtsplattform aus lassen sich die Alttiere mit ihren Kälbern gut beobachten.

Ob das Donaumoos in den nächsten Jahren einen Beitrag zu Klimaschutz und Artenvielfalt leisten kann oder als Klimakiller gebrandmarkt wird und seine Qualität als Lebensraum einbüßt, hängt von der gemeinsamen Anstrengung zum Moorschutz und einer nachhaltigen angepassten Landnutzung ab. Die Entwicklung von Süddeutschlands größtem Niedermoor bleibt spannend. Stiftung Donaumoos Freilichtmuseum und Umweltbildungsstätte Haus im Moos Kleinhohenried 108 86668 Karlshuld Tel. 08454 - 95 205 info@haus-im-moos.de www.haus-im-moos.de

Foto: Wisente sind die letzten Wildrinder Europas. Ausgewachsene Bullen wiegen bis zu 1.000 Kilo. Foto: © Haus im Moos PREMIUM AUDIOGUIDE HAUS IM MOOS

www.museum.de/m/567

Die Aura weitergeben

Online-Ausstellungen, die neue Verbindung für ein globales Museumspublikum Autor: Gergely Nagy

Oben: Walter‘s Cubes saubere Schnittstelle: Räume begehen, teilen, eine Führung bekommen Mitte: Besucher können mehr über jedes der Kunstwerke erfahren Fotos: © Muzeum Sztuki, Neoplastic Room

Es ist nun bereits fast ein Jahr her, seit sich die Museumstore für Besucher geschlossen haben. Und obwohl es im Sommer kurz danach aussah, als könnten wir zu unserem normalen Leben zurückkehren, haben uns die zweite und dritte Welle schmerzliche Lektionen beigebracht. Die Praktiken in der Kunstwelt mussten von einem Tag zum anderen umgekrempelt werden, und – ob sie es wollten oder nicht – die Museen mussten mit neuen Mitteln hantieren. Online Ausstellungen, Internetführungen, Videopräsentationen und Webinare schossen in diesem Jahr der Lockdowns wie Pilze aus dem Boden. Aber wissen wir wirklich, was wir da benutzen und warum und wie? Sollten wir denn überhaupt versuchen, das Museumserlebnis zu imitieren oder sollten wir lieber etwas Neues schaffen? Via Zoom sprachen wir mit Jarosław Suchan, Direktor des Museum Sztuki in Łódz – einem der führenden Museen für moderne Kunst in Europa – und Balázs Faragó, CEO vom in New York und Budapest ansässigen Technologie-Start-Up Walter‘s Cube. Er hat eine Online-Viewing-Room-Anwendung entwickelt, die eine überraschend relevante Antwort auf die oben genannten Fragen zu geben scheint. Die Technologie wurde von Artnet zu einer der sechs wichtigsten Entwicklung des letzten Jahres gekürt. Und das Kunstmuseum Łódz ist eine der Einrichtungen, die diesen flexiblen, einfach zu bedienenden, kuratoren- und besucherfreundlichen virtuellen Ausstellungsraum ausprobiert hat und darin eine große Chance sieht.

Traditionellerweise sind die Hauptaktivitäten von Museen das Erfassen, Bewahren, Erforschen und Ausstellen von Kunstgegenständen in ihren Sammlungen. In diesem Jahr der Pandemie wurden all diese Aktivitäten schwierig. Was denken Sie, wie sollten die Institutionen mit dieser Situation umgehen? Welche Art von Online-Tools können sie einsetzen und wie können sie diese anwenden?

J.S.: Offensichtlich hat die Pandemie die Situation in der Kunstwelt dramatisch verändert mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Museen. Diese Institutionen haben mit realen, physischen Objekten zu tun, den Kunstwerken aus ihren Sammlungen. Das ist ihr Fundament, gewissermaßen ihr Hauptwerkzeug. Jetzt wird Kunst zwar gesammelt, dokumentiert und erforscht, aber sie kann nicht der Öffentlichkeit präsentiert werden. Egal wie vielseitig unser Programm ist, die Hauptaufgabe eines Museums besteht darin zwischen den Menschen und der Sammlung zu vermitteln – darin unterscheiden sich Museen von anderen Institutionen. Als Folge der Pandemie hat sich diese Aktivität stark vermindert. Alle Museen mussten sich neu definieren und selbstverständlich war die erste Reaktion, online zu gehen und das Internet zu nutzen. Die meisten Museen versuchten einfach die Aktivitäten des realen Lebens im gleichen Format in den virtuellen Raum zu übertragen. Sie ersetzten die Ausstellungen aus dem realen Raum und begannen, virtuelle Ausstellungen zu erstellen; zuvor gab es Führungen für die Besucher, nun organisierte man Online-Führungen. Zwar ist das ein erster Ansatz, es reicht aber nicht aus. Das Internet bietet wirklich erstaunliche Möglichkeiten. Doch um diese Möglichkeiten zu nutzen, muss man neue Formate finden, in die man seine Aktivitäten überträgt. Genau das haben wir auch versucht: neue Formate zu erfinden, die nur im virtuellen Raum existieren können. Zum Beispiel ein Instagram-Residenz-Programm für Künstler: Wir haben Künstler eingeladen, für jeweils zwei Wochen unser Instagram-Profil zu betreuen. Sie konnten die Bilder aus unserer Sammlung nutzen, um eigene Werke oder visuelle Kommentare zu kreiern. Oder ein anderes Projekt, das von László Bekes Aktion Work = documentation of imagination aus dem Jahr 1971 inspiriert wurde. Er lud Konzeptkünstler ein, mit einer Arbeit auf einem A4-Blatt auf den gleichnamigen Slogan zu antworten. Wir haben die ursprüngliche Idee etwas abgewandelt und so eine Sammlung von völlig virtuellen Kunstwerken erhalten. Daraus ergab sich eine interessante Herausforderung, nämlich die Frage, wie man solche „nicht existierenden“ Kunstwerke ins Inventar des Museums aufnimmt. Während der Pandemie wollten wir eben auch Projekte ersinnen, die beim Publikum den Wunsch wecken ins Museum zu gehen und den Kunstwerken körperlich zu begegnen. Wir haben versucht, das Virtuelle mit dem Realen zu verbinden. Und deshalb fand ich die Online-Viewing-Room-Anwendung so interessant. Sie ist kein Ersatz sondern eine Ergänzung des Realen. Und sie kann dazu beitragen das Bedürfnis nach greifbarem Kontakt mit der Kunst im physischen Raum des Museums zu wecken.

Balázs, wie sahen die Bemühungen des Museums im Lockdown aus Ihrer Perspektive als Technologie-Unternehmer aus?

B.F.: Obwohl ich zwar aus einer anderen Richtung komme, habe ich doch auch einen gewissen Hintergrund in Kunsttheorie. Ich habe an der NYU studiert und in den Klassen von Boris Groys haben wir oft über die Definition von Museum und über das Ausstellungserlebnis gesprochen. Schon lange vor der Pandemie war ich der Meinung, dass die Art wie Ausstellungen repräsentiert werden problematisch ist. Bisher wurden Ausstellungen auf Fotos und manchmal in Videos oder Panoramabildern repräsentiert. Aber all das basiert auf der 180 Jahre alten 2D-Technik der Fotografie. Schaut man heute auf die Website eines Museums, dann sieht man Bilder, die sich kaum von dem unterscheiden was Daguerre damals in Paris gemacht hat. Nur hat er analoge Fotos gemacht während wir heute digitale machen. Aber die Idee dahinter hat sich nicht geändert: wir stellen ein 3D-Objekt in 2D dar. Eine Ausstellung jedoch befindet sich in einem bestimmten Raum und jeder Besucher kann sich individuell in diesem Raum bewegen, daraus resultiert für jeden eine einzigartige Erfahrung, eine andere Interpretation von dem was er oder sie gesehen hat. Die bisherige Ausstellungsdokumentation gibt jedoch nur ein statisches Abbild von dem was wir sehen können. Wie ist es also möglich eine 3D-Erfahrung in ein anderes Medium zu übertragen? Wahrscheinlich hat Walter Benjamin eine Antwort darauf, wenn er von der Aura des Kunstwerks spricht. In seinem 1935 erschienenen Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ diskutiert er das Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind. Er sagt, wenn wir ein Foto von einem Kunstwerk machen, können wir nur seine Informationen reproduzieren, seine Aura aber geht verloren. Die Aura ist gleichsam die Distanz zwischen Werk und Betrachter und sie ist essenziell für die Kunsterfahrung. Was ich also sagen will ist, dass wir die Aura digital nachbilden sollten. Offensichtlich können wir die physische Erfahrung nicht nachbilden, aber wir können sie in eine 3D-Technologie übersetzen. Durch die 3D-Fotografie können wir die Ausstellung sehr genau dokumentieren und zudem den Ausstellungsraum selbst digital abbilden. Der Betrachter kann eintreten, in ihm umherschlendern, ihn entdecken und wirkliche Zeit in ihm verbringen. Wir haben bereits Shows für das Metropolitan, das Whitney und das Guggenheim dokumentiert, als uns aufging, dass wir einen Schritt weiter kommen, indem wir auch das Ausstellungsumfeld rekreiren. Und an diesem Punkt sind wir jetzt. Wir versuchen den Entscheidungsträgern in den Museen die Botschaft zu vermitteln, dass ein Paradigmenwechsel in der Kunstwelt vonstatten geht, von dem es kein Zurück mehr gibt.

Jede Kunstgalerie, jedes Kunstmuseum ist heute gefordert, kreativ mit der neuen Situation umzugehen. Auch Künstler stehen unter dem Druck dieser Forderungen: Mach etwas online, sei präsent! Denn wenn du nicht dabei bist, wenn du deine Praktiken nicht neu konzipierst, um sie an die Online-Welt anzupassen, dann wirst du untergehen. Ist es denn realistisch von der Kunst so drastische Änderungen zu verlangen?

J.S.: Ich würde von Walter Benjamin und seiner populärsten, aber ziemlich problematischen These ausgehen. Ihm zufolge zerstören die neuen Reproduktionstechnologien die Aura, weil sie durch die weite Verbreitung der Reproduktionen diese besondere Distanz, die den Betrachter vom einzigartigen Original trennt, zunichte machen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Verbreitung der Reproduktionen berühmter Originale macht ihre Aura noch ikonischer. Das Geschäftsmodell des Museumsshops basiert auf genau dieser Idee: Man kauft ein T-Shirt mit dem Abbild eines Originalkunstwerks, weil man sozusagen einen Anteil an dessen Originalität erwerben möchte. Digitale Technologien, wie die diskutierte Anwendung, können eine solche Erfahrung noch intensiver und befreit von diesem Warencharakter bieten. Sie schaffen zwar kein digitales Äquivalent der Aura, aber sie können ein Begehren nach der Aurabegegnung mit dem Kunstwerk auslösen. Daher glaube ich nicht, dass wir uns in einer schwarz-weiß-Situation befinden: entweder bleiben wir im physischen Raum mit realen Kunstwerken oder wir gehen ganz in den virtuellen. Entgegen einiger Meinungen hat die Pandemie nicht den Relevanzverlust der Museen aufgezeigt, ganz im Gegenteil: Als vor drei Wochen die Museen in Polen allmählich wieder geöffnet wurden, standen lange Besucherschlangen vor unseren Toren. Die Menschen wollten sich wieder mit der Kunst verbinden und dieses besondere Erlebnis haben, das durch ein im realen Raum präsentes Kunstwerk und der körperlichen Präsenz anderer Besucher erzeugt wird. Es wäre interessant herauszufinden, ob dies als Folge der Online-Aktivitäten des Museums passiert ist, das immer noch den Eindruck seiner normalen Aktivitäten und damit auch die Aura der Ausstellungen beschworen hat.

B.F.: Wenn wir über Eindrücke sprechen, lassen Sie mich hier das Beispiel Musik anführen. Wir alle wissen, dass man vermutlich den besten Eindruck hat, wenn man „Under the bridge“ von den Red Hot Chili Peppers bei einem Konzert hört, irgendwo in Amerika in der Menge stehend und die Band spielt live. Aber das können wir nicht. Also hören wir den Song online oder wir laden ihn herunter. Die Technologie kann das Live-Erlebnis zwar nicht ersetzen, aber sie kann ein anderes vermitteln.

Ja, aber Musik hat keine Körperlichkeit, die Band hat sie, das Publikum und die Location haben sie. Insofern unterscheidet sich Musik von visuellen Kunstformen.

B.S: Es gab eine Zeit, in der Musik nur analog verfügbar war. Um Musik hören zu können, musste man sich zu ihr begeben. Von der Musik-Industrie wurde das Format geschaffen mit dem wir Musik in unser Wohnzimmer bringen können, und es war ein langer Weg bis wir Spotify hatten. Nun ist die Frage: Was ist das Format einer Kunstausstellung? Wir glauben, es ist eine Zeit- und Raumerfahrung und, dass es mit unserer jetzigen Technologie möglich ist sie zu digitalisieren. Unser Ziel ist es, den Besuch eines Museums online so einfach zu machen wie das Abrufen eines Films auf Netflix.

Was die Körperlichkeit angeht, können wir ein bisschen über den Neoplastic Room sprechen? Den originalen Raum in Łódz habe ich zwar nicht gesehen, aber ich habe die virtuelle Version ausprobiert, die von Walter‘s Cube gemacht wurde. Und ich muss sagen, das war real – ich habe mich gefühlt, als wäre ich dort.

J.S.: Einen Raum wie den Neoplastic Room in die virtuelle Realität zu übertragen, ist deshalb eine ganz besondere Herausforderung, weil er 1948 von Władysław Strzeminski als Maschine entworfen wurde, die die Bewegung des Körpers und des Betrachterblicks in einem Raum in Bezug auf die ausgestellten Kunstwerke orchestriert. Das ist die Rolle dieser architektonischen Struktur. Sie besteht aus durch geometrische Unterteilungen geformten Farbflächen. Die physische Präsenz scheint dabei eine Grundbedingung dieser Wahrnehmungssituation zu sein. Deshalb fand ich die Idee, eine virtuelle Version davon zu machen, so faszinierend und ich bin sehr gespannt auf die Reaktionen der Betrachter.

Oben: Mit den „blauen Kreisen“ ist es einfach, in der Ausstellung zu navigieren. Walter‘s Cube verwendet die neueste KI-Technologie © Muzeum Sztuki, Neoplastic Room Linke Seite: Sie können Hunderte von echten Ausstellungen in Weltklasse-Galerien und Institutionen besuchen © Muzeum Sztuki, Neoplastic Room

Wie glauben Sie wird sich die kuratorische Praxis durch den Einsatz einer Technik wie dem Walter‘s Cube wandeln?

J.S.: Die kuratorische Praxis verändert sich ständig als Reaktion auf neue Impulse aus verschiedenen Bereichen. Sie resultiert nicht mehr allein in einer Ausstellung. Heutzutage kann das Projekt des Kurators – wie wir wissen – als Buch, als Veranstaltungsreihe, als Konferenz oder als Nachbarschaftstreffen verwirklicht werden. Die digitalen Lösungen eröffnen ein neues Feld, das von Kuratoren besetzt werden kann, und sie bieten ein Werkzeug für die Entwicklung neuer Formate. Und das liegt, denke ich, noch vor uns – wir sind noch dabei zu lernen und zu entdecken, was die Technologie überhaupt möglich macht. B.F.: Was den Neoplastic Room angeht – der ist wirklich außergewöhnlich, es ist kein weißer Würfel mit Kunstwerken darin, sondern der ganze Raum agiert als Kunstwerk. Er ist eine Maschine, sogar auch eine Zeitmaschine, der einen in eine bestimmte Periode der modernen Kunst zurückversetzen kann.

J.S.: Das hoffe ich nicht. Für mich ist der Neoplastic Room definitiv nichts, was lediglich an die Vergangenheit erinnert.

B.F.: Was ich meinte war, dass die ursprüngliche Erfahrung immer noch vorhanden ist: Man betritt einen Raum, der sich ja über die Jahrzehnte nicht allzu sehr verändert hat. Er ist auch wegen des Raumes nebenan interessant. Das ist ein Projektraum, in dem das Museum Ausstellungen entwickelt, die den Neoplastic Room reflektieren. Durch unsere Technologie ist es möglich Kuratoren und Künstler einzuladen, ihre eigene Version davon zusammenzustellen, nicht nur theoretisch sondern auch visuell. Das Ergebnis kann eine Ausstellung sein. Aber bis dahin können die Konzepte mit unserem Tool erprobt und dargestellt werden. Die Kuratoren können ihr Konzept auch gleich

in Form eines Rundgangs erläutern. Der Neoplastic Room war in den 30er Jahren Ausdruck eines Paradigmenwechsels, und heute könnte so etwas auch mit den Ausstellungen passieren, die sich damit befassen.

J.S.: Wir versuchen, dem Neoplastic Room mit zeitgenössischen Kunstpraktiken und aktuellen Überlegungen zu körperlich-visueller Wahrnehmung, Architektur, Gesellschaftsordnung etc. zu begegnen.

Künstler wie Nairy Baghramian, Daniel Buren, Monika Sosnowska und viele andere sind dabei in Dialog mit diesem einzigartigen Raum getreten. Sie beantworten aus ihrer eigenen Perspektive die von ihm aufgeworfenen Fragen. Mit Hilfe des virtuellen Werkzeugs können wir diese Idee nun über die Grenzen der Physikalität hinaus erweitern. Ein weiterer Vorteil ist: Während die internationale Dimension des Projekts beibehalten wird, kann dies geschehen ohne den ökologischen Fußabdruck des Museums zu vergrößern. Heutzutage ist die Umweltbelastung durch Transport und Reisen auch in der Kunstwelt etwas, worüber wir uns Gedanken machen müssen.

Früher oder später wird die Pandemie enden und die Kunstinstitutionen werden wieder mit der Rückkehr zum normalen Leben beginnen – was auch immer das heißen mag. Glauben Sie, dass uns die Online-Tools auch nach dieser ungewöhnlichen Zeit erhalten bleiben werden?

B.F.: Einige grundlegende Probleme werden ja auch weiterhin bestehen bleiben. Zum Beispiel das Problem des musealen Raums mit seinen Beschränkungen in Zeit und Materie. Wenn man eine Ausstellung in Łódz sehen will, muss man natürlich dort hingehen und sie vor dem Schließungstermin noch erwischen. Mit diesen neuen Technologien können die Institutionen ihre Ausstellungen digital erfassen und archivieren. Die Leute können sie jederzeit besuchen und auch die Forscher, Kunsthistoriker, Kuratoren werden die Chance haben zu diesen Ausstellungen zurückzugehen und sie so zu sehen wie sie waren. Auch in der Forschung wird damit eine neue Perspektive eröffnet.

J.S.: Ich denke, diese Lösungen sollten nicht nur als Ersatz verwendet werden, wenn Leute nicht in die Museen gehen können, sondern als zusätzliche Werkzeuge, um eine neue sinnliche und intellektuelle Erfahrung zu schaffen. Zudem ist es auch wichtig, über Zugänglichkeit und Inklusion nachzudenken. Nur eine Minderheit hat und wird die Möglichkeit haben zu reisen und die Museen persönlich zu besuchen. Diese Werkzeuge werden uns dabei helfen, diejenige miteinzubeziehen, die sonst eben keinen Zugang hätten.

Besuchen Sie den Neoplastischen Saal im Museum Sztuki von Ihrem mobilen Gerät mit diesem QR-Code.

Rechts oben: Walter‘s Cube-Gründer: CEO Balasz Farago mit seinem Mentor Prof. Boris Groys an der NYU im Jahr 2015 © Walters Cube Rechts Mitte: Direktor Museum Sztuki, Jaroslaw Suchan Foto: Jaroslaw Suchan © Muzeum Sztuki Walters Cube Wiener Platz 2 81667 München Tel. 0173 - 2344066

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