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Rituale und Routinen
Was hat die Vorstellung von Zukünften mit Ritualen zu tun und wie können wir durch diese einen besseren Diskurs (Deliberation) über verschiedene Zukunftsperspektiven erreichen? Welche Bedeutung hat das Erinnern an die Zukunft?
Um zunächst die Einbettung von Ritualen und routinierten Abläufen in das Projekt zu begründen muss eine Betrachtung der Definitionen und Eigenschaften von Ritualen erfolgen.
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Nach Dücker erfüllen Ritualaufführungen grundsätzliche Funktionen für ihre Bezugsformation. „Sie können eingesetzt werden, um kulturspezifische Formen der Sozialisation und des sozialen Lebens […] (und) der Integration und Krisenabwehr bzw. -prophylaxe performativ zu vermitteln, die von den Adressaten dann mimetisch, d. h. durch Nachahmung angeeignet werden.“ (Dücker, 2007, 28 f.)
Dabei beantworten Rituale Fragen: „Wie sollen, wollen und können wir die Ordnung unserer Gemeinschaft erhalten und was kann mein Anteil dabei sein? Obwohl Rituale als symbolische Handlungen kollektive Identität generieren, also Deindividualisierung betreiben, produzieren sie zugleich Merkmale der Identität, […], indem sie [dem Menschen] als zugehörig privilegieren und ihm Verpflichtungen und Kompetenzen zuschreiben, für die er erst in der Zukunft Leistungen zu erbringen hat, […]. Rituale, das lässt sich hier feststellen, unterbrechen den Alltag nicht, sondern sind in seinen Funktionsablauf eingebettet.“ (Dücker, 2007, 28 f.)
© Rachel de Joode
© Tomb piece ca. 4000 B.C., MET Museum Gallery, New York

Membership/Die Mitgliedschaft Ein Ritual ist ein regelmäßiger Treffpunkt, und die Teilnahme an diesem Ritual bestätigt, dass die Teilnehmer Mitglieder der Gemeinschaft sind.
Continuity/Kontinuität Die unveränderliche Qualität des Rituals bestätigt die Überzeugungen und Hoffnungen hinsichtlich der Beständigkeit der Gemeinschaft.
Practice/Die Praxis Die praktischen Fertigkeiten, die der ritualisierten Bräuche und Handlungen, bilden die Praxis — das Handwerk mit seinen drei Eigenschaften der Bürgerschaft: Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Mut.
Locality/Örtlichkeit Das Ritual markiert den Wohnsitz der Gemeinschaft an einem Ort. Es legt emotionale Wurzeln und schafft einen Ort, den man lieben kann. Emotional Daring/Emotionaler Wagemut Die Emotion, die jeder Einzelne für sich empfindet, wird vertieft und intensiviert, wenn sie geteilt wird.
Consciousness of Time and Events/ Das Bewusstsein von Zeit und Ereignissen Der Verlauf des Jahres und die Ereignisse in der Gemeinschaft (und im Leben ihrer Mitglieder) werden durch Rituale und Initiationsriten wahrgenommen und bestätigt.
Meaning/Die Bedeutung Das Ritual liefert keine Antworten; es suggeriert Einsichten und wirft Widersprüche auf, die es zu erforschen gilt und in die man ein Leben lang hineinwachsen kann (Ironic Space).
nach Fleming, D. (2016), Lean Logic: A Dictionary for the Future and How to Survive It
Nach Byung-Chul Han, stabilisieren Rituale das menschliche Leben und stärken dessen Haltbarkeit. Ein Verlust von Ritualaufführungen im Großen wie im Kleinen bedeutet umgekehrt eine Enthausung des menschlichen Daseins. Nach Han ist „das Ritual das Haus des Menschen.“ (Han, 2019) “Im Gegenzug dazu verhält sich die totale Entortung der Welt durch gewisse Ausschreitungen des Globalen heute, die alle Unterschiede nivelliert und nur Variationen des Gleichen zulässt – eine destruktive Art des Zusammenlebens.” (Han, 2019)
Rituale stärken ein kollektives Bewusstsein
Das Zusammensein während eines Rituals; ein “rituelles Schweigen”, stärkt Han zufolge ein “kollektives Bewusstseinsinhalt” und die Wahrnehmung füreinander. Darüber hinaus, wirken Rituale dem modernen Drang/ Kult nach Authentizität entgegen, welcher soziales Handeln insofern abwertet, als das dieser das Individuum und nicht die Gemeinschaft in das Zentrum. Entgegen dem Authentizitätdrang wirkt ebenfalls die Konzentration/ das Leiten/ das Formen von Körper zu Geist, in dem das Handeln im Zentrum steht, und nicht wie es in modernen Perspektiven zu beobachten ist, dass das Innere das Äußere formt.
Davon ausgehend stellt sich die Frage nach einer Zuwendung, eines an Wen oder Was gerichtet sein? Für eine nachhaltige Gestaltung/ Entwicklung von Zukünften ist der Blick, die Konzentration und das Schaffen eines kollektiven Bewusstsein von existenzieller Bedeutung. Was können zukünftige Rituale des Verbundenseins sein? Was sind Symbole des Verbundenseins? Was können Neue sein?
Rituale in Zeiten digitaler Kulturen Das Ritual ist außerdem regelgeleitet und erschafft damit Wiederholung. „Das Ritual ist ein Wiedererkennen in dem Sinn, das es zeigt, dass man sich schon auskennt. Mit anderen Worten: Rituale helfen dem Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden (zum Recht zu finden) und häuslich einzurichten. Sie bringen Gemeinschaften mit Kommunikation hervor, die im polaren Gegensatz stehen zur Kommunikation ohne Gemeinschaft, wie sie heute das Bild prägt, das die Welt abgibt.“ (Han, 2019) „Stille und Schweigen haben keinen Platz im digitalen Netz, das eine flache Aufmerksamkeitsstruktur hat. Sie setzen eine vertikale Ordnung voraus. Die digitale Kommunikation ist horizontal. Nichts ragt dort. Nichts vertieft sich. Sie ist nicht intensiv, sondern extensiv, was dazu führt, dass der Kommunikationslärm steigt.“ (Han, 2019)
Nach Han wird dem unbedingten Vorrang von Produktion und Konsumption – wie eben auch die ungebremste Produktion und Konsumption von Informationen, Daten und Kommunikationen – […] einen schonenden Umgang entgegengesetzt, der auf Rücksicht beruht, auf Höflichkeit, Gelassenheit und auf dem Ritual.
Ritualaufführungen dienen also grundsätzlich der Verortung des Selbst in einem meist bioregionalen Rahmen, sowie dem Transferieren von Gedanken, Geschichten, Erinnerungen und sprachlich und kulturellen Konzepten aus der Vergangenheit. Betrachtet man beispielsweise den Kölner Karneval entsteht während seiner Festlichkeiten ein Gefühl der kollektiven und gesamtgesellschaftlichen Erinnerung an vergangene Jahrhunderte. Dabei wird für einen Moment in der Zeit bewusst mit normativen gesellschaftlich akzeptierten Regeln gebrochen, um diese fortlaufend zu hinterfragen, allerdings zeitgleich auch zu festigen - mit ihnen einen Halt geben.
„Kein Getreide wird an diesen Tagen gemahlen. Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleichgeachtet.“ (Mesopotamien, 3. Jahrtausend v. Chr.)
Ein Erinnern an die Vergangenheit bedeutete vor dem Einzug und der Etablierung digitaler Kulturen auch das Konservieren von überlebensnotwendigem Wissen – Wissen über planetare Ökosysteme und unser eingebettetes Leben darin, die Verbindungen unserer Netzwerke über Jahrtausende in unserer DNA gezeichnet.
“sich an die Zukunft erinnern” - Gedenktag an die Zukunft
Was passiert nun, wenn die Erinnerung an der Vergangenheit in eine Erinnerung an die Zukunft transferiert wird? Und was bedeutet es diese Erinnerung in unsere täglichen Rituale einzubetten? Die Zukunft zu antizipieren ist heute so überlebens-
„Erinnerung dient der Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns. Deshalb spielen “Vorerinnerungen”, wie Edmund Husserl bemerkt hat, also Vorgriffe auf etwas erst in der Zukunft Existierendes, als Orientierungsmittel für die Ausrichtung von Entscheidungen und Handlungen eine mindestens so wichtige Rolle wie der Rückgriff auf real oder vorgestellt erlebte Vergangenheiten.“ (Welzer, 20120, online)
Nach Welzer tritt hier das humanspezifische Vermögen ein, die persönliche Existenz in einem Raum-Zeit-Kontinuum zu situieren. Auf eine Vergangenheit zurückblicken zu können, hat den Zweck, Orientierungen für zukünftiges Handeln zu ermöglichen. Umgekehrt aber können Menschen auf eine Zukunft zurückblicken, die noch gar nicht Wirklichkeit geworden ist - seine mentale Form dessen ist die “antizipierte Retrospektion”, der Vorausblick auf etwas im Vorgriff auf den Zustand seines Verwirklichtseins.
„Antizipierte Retrospektionen spielen für menschliches Handeln eine zentrale Rolle - jeder Entwurf, jeder Plan, jede Projektion, jedes Modell enthält einen Vorgriff auf einen Zustand, der in der Zukunft vergangen sein wird. Und genau aus diesem Vorentwurf eines künftigen Zustands speisen sich Motive und Energien - aus dem Wunsch, einen anderen Zustand zu erreichen als den gegebenen. […] Der Bezugspunkt des Gedächtnisses ist die gehoffte Zukunft.“ (Welzer, 20120, online) Wenn Zukunft systematisch zur Erinnerung gehört, könnte man eine “Theorie des Zukunftsgedächtnisses” (H.-J. Heinrichs) entwickeln. […] Da jede Gedächtnistätigkeit ein selektiver Vorgang ist, ist Vergessen konstitutiv für Erinnerung überhaupt. Und da der funktionale Überlebenswert des Gedächtnisses von seinem Zukunftsbezug abhängt, ist es die Zukunft, die konstitutiv für das Gedächtnis ist, nicht die Vergangenheit.
Der Übertrag dieser Antizipation auf persönliche Routine & Rituale ist entscheidend. Die Untersuchung von Möglichkeiten der Integration von wünschenswerten Zukünften durch ritualisierte Abläufe ins täglich Leben steht dabei im Vordergrund des Projektes „FuturesDay“. Aus der Vorstellung heraus sollen später vor allem Rituale, Routinen und Handlungen abgeleitet werden, die heute, morgen und in den kommenden Jahrzehnten in unsere Leben integriert werden können.
• Rituale helfen dem Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden.
• Rituale objektivieren die Welt. Sie vermitteln einen Weltbezug. • Rituale erzeugen eine Selbst-Distanz und richten den Fokus auf die Gemeinschaft. Sie schaffen ein
Kollektivgefühl. • Rituale bringen eine Resonanz Gemeinschaft hervor.
• Rituale basieren auf den Prinzipien der Wertschätzung und Würdigung gegenüber anderen
Interaktionsteilnehmern.
• Rituale des Schließens stabilisieren den Ort und die Zeit. Sie schaffen ein kognitives Mapping. • Rituale geben Zukunftsgedanken einen Rahmen — eine “Einhausung” - eine Bestärkung.