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Jugendarbeit hält mich jung“

„JUGENDARBEIT

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HÄLT MICH JUNG“

Wie haben Sie ihre Jugendzeit erlebt? Behütet in Mittelschichtverhältnissen. Mein Vater war ursprünglich Buchhalter, meine Mutter stammte aus einer Bäckerei. Es hat nur geheißen: „Du machst die Volksschule, gehst ins Gymnasium und dann studieren.“ Das hat mir zwar nicht ganz gepasst, ich habe es aber trotzdem gemacht.

Sie haben also akzeptiert, was die Eltern wollten? Nein (lacht). Ich war ziemlich widerständig und schwierig. Für mich war immer klar, dass das Elternhaus, in dem ein Jugendlicher aufwächst, einen gewaltigen Einfluss auf den Bildungserfolg, auf das ökonomische Fortkommen hat. Wenn du die falsche Hautfarbe, keinen typischen Vorarlberger Namen und keine abgeschlossene Berufsausbildung hast oder keinen akademischen Titel trägst, dann hast du viel weniger Möglichkeiten in dieser vermeintlich so chancenreichen Gesellschaft. In Österreich wird Bildung nach wie vor vererbt. Das fand ich immer ungerecht und war für mich eine starke Motivation, mich sozialpolitisch zu engagieren.

Gab es zu Ihrer Jugendzeit so etwas wie ein Jugendhaus? Ja. Als ich 17, 18 Jahre alt war gab es das s'Huus. Der damalige Lustenauer Bürgermeister Robert Bösch hatte seinen beiden jugendlichen Töchtern ein abbruchreifes Gebäude im Gemeindebesitz (Anm. der Redaktion: heute ist dort der Jazzclub untergebracht) zur Verfügung gestellt, das sie selbst nutzen und gestalten konnten. Und weil die beiden, wie übrigens auch ich damals, nichts mit der Trachtengruppe, der Katholischen Jungschar oder den Pfadis anfangen konnte, entstand dort das erste offene Jugendhaus. Dort konnte man Jazz hören, Themen diskutieren und Referenten einladen.

Ging das ohne Konflikte ab? Nein. Es gab jede Menge Streitigkeiten, Schwierigkeiten und Widersprüche. Aber es war ein interessantes Lernfeld, um verschiedene Positionen zu artikulieren. Wir setzten uns für eine bessere und gerechtere Welt ein.

Vor 30 Jahren wurde die Offene Jugendarbeit in Dornbirn gegründet. Wie kam es dazu? Ende der 80er Jahre gab es bei uns Demos für eine freie Sexualität, eine freie Lebensgestaltung und ein Raus aus dem Mief der Spießigkeit und Bürgerlichkeit. Ulrich Gabriel, Bernhard Amann und Reinhold Luger marschierten zum Beispiel bei einer dieser Demonstrationen mit einem Plastik-Penis als Kunstobjekt vorne weg. Das hat Alt-Bürgermeister Rudi Sohm aber gar nicht gefallen. Es gab danach legendäre Diskussionen und Debatten zwischen dem Bürgermeister und den Jugendlichen. Daraus entstand dann die Idee für ein offenes Jugendhaus, mit einem Angestellten, der draufschaut, was im Haus passiert. Die Gespräche zwischen mir und Rudi Sohm klappten trotz einiger weltanschaulicher Unterschiede ganz gut. Auf seine Wortmeldung, „Wenn Sie die Jugendarbeit gut im Griff haben“, konterte ich, „wird es mit der Finanzierung keine Probleme geben.“ Er antwortete kurz und knapp: „Jawoll, Herr Doktor Hagen, so machen wir das.“ Danach besiegelten wir mein Engagement per Handschlag.

Martin Hagen ist Gründungsvater der Offenen Jugendarbeit in Dornbirn und seit 30 Jahren Geschäftsführer, Jugendarbeiter und Mädchen für alles. Die marie sprach mit dem 63-jährigen Doktor der Psychologie über seine Jugendzeit, politische Debatten und die zukünftigen Herausforderungen in der Jugendarbeit. Interview und Fotos: Frank Andres 30 Jahre

„In Österreich wird Bildung nach wie vor vererbt. Das fand ich immer ungerecht und war für mich eine starke Motivation, mich sozialpolitisch zu engagieren.“

Die Offene Jugendarbeit Dornbirn ist heute ein großer Betrieb. Man kann bei Euch nicht nur Freunde treffen, Konzerte besuchen, sondern auch den Schulabschluss oder sogar eine Lehre absolvieren. War das gewollt oder ist das einfach passiert? Ich habe gelernt, auf das zu hören, was von Seiten der Jugendlichen an Themen kommt. In den Anfangsjahren hatten wir knappe Personalressourcen. Es ist uns aber mit geringen Mitteln gelungen, Jugendliche einzubinden. Heute ist es viel schwieriger, Jugendliche für Ehrenämter zu gewinnen, sie zum Mitdenken zu bewegen. Zudem ist auch die Dichte von Themen und Veranstaltungen gewachsen. Und auch der Beratungsbedarf von Jugendlichen hat zugenommen.

Mit welchen Fragen und Sorgen kommen die Jugendliche eigentlich zu Euch? Das ist ganz unterschiedlich. Wie soll ich mit meinen Eltern umgehen? Wer soll mir jemals Arbeit geben? Wie geht das mit der Sexualität? Ich bin von der Schule geflogen, weil ich einen Joint geraucht habe. Was soll ich tun? Ich bin von zu Hause abgehauen, wo soll ich schlafen? Da wurde mir als gelernter Psychologe schnell klar, dass es bei uns eine Beratungsmöglichkeit für Jugendliche braucht. Und zwar muss das jemand sein, der Zeit hat, sich um diese Probleme zu kümmern.

Hatten es Jugendliche früher einfacher? Ich glaube schon. Die früheren Balz- bzw. Bolzplätze, die nicht von Erwachsenen besetzt und kontrolliert wurden, wo man sich den wesentlichen Schliff für seine Persönlichkeit geholt hat, sind heute tatsächlich stark „Wenn du heute irgendwo Basketball oder Fußball im öffentlichen Raum spielst, an Plätzen, wo kein Auto fährt, dann dauert

es keine 20 Minuten, bis die erste anonyme Anzeige hereinflattert.“

beschnitten. Wenn du heute irgendwo Basketball oder Fußball im öffentlichen Raum spielst, an Plätzen, wo kein Auto fährt, dann dauert es keine 20 Minuten, bis die erste anonyme Anzeige hereinflattert. Dann muss die Polizei ausrücken und die Jugendlichen kontrollieren. Obwohl kein strafbarer Tatbestand festgestellt wird, werden die Jugendlichen verscheucht. Das bedeutet: Der öffentliche Raum ist durch die immer dichtere Verbauung durch Handel und Gewerbe so beschnitten, dass jugendliche Freiräume sehr arg in den Hintergrund rücken. Nicht jeder hatte wie ich zuhause einen Kellerraum, den er als Jugendzimmer ausbauen konnte. Da konnte ich Freunde einladen und laute Musik hören. Das ist in einem Wohnblock, wo du zu fünft in einer Dreizimmer-Wohnung hockst, nicht machbar. Deshalb ist es heute besonders wichtig, dass wir diese Freiräume für Jugendliche bereitstellen.

Was sind für Sie die zentralen Herausforderungen für die zukünftige Jugendarbeit? Zukünftig zentral wird sein, weiterhin einen Raum der „unverzweckten“ Begegnung für junge Menschen bereitstellen zu können. Es entstehen Freundschaften, Selbstwirksamkeitserfahrungen und Beheimatung. Auf der

JU GE ND AR BE IT >>

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6 | Zahlen/Daten/Fakten

Vermittlungszahlen Job Ahoi: 25-30 pro Jahr / Teilnehmer*innenzahlen ca. 50 pro Jahr Abschlüsse im Albatros: 20-30 pro Jahr / Teilnehmer*innenzahlen ca. 50 pro Jahr LehreUp: positive Lehrabschlüsse ca. 25 pro Jahr / Teilnehmerzahlen ca. 30 pro Jahr Bands pro Jahr: ca. 120 Bands / Livestreams während Corona-Pandemie: ca. 30

anderen Seite sollten wir vermehrt Zugänge zu Bildung und Beschäftigung schaffen. Durch die Freiwilligkeit gelingt dies. Das will wahrscheinlich jetzt niemand hören. Aber die Offene Jugendarbeit wird in den nächsten Jahren ein wesentlicher Zubringer für die produzierenden Vorarlberger Familienbetriebe sein. Und zwar deswegen, weil wir aus demografischen Gründen Zuzug brauchen. Wir haben jetzt schon deutlich mehr über 65-Jährige wie unter 18-Jährige. Das wird sich rechnerisch auf Dauer nicht ausgehen. Ich erinnere mich da an den Spruch, den wir früher bei den Demos skandiert haben: „Setzt auf die Jugend, es wird sich lohnen, die zahlen später die Pensionen.“ Das bedeutet, wenn die vielen Familienbetriebe im Ländle Weltmarktführer bleiben wollen, dann brauchen sie Lehrlinge, die ein Spezialwissen haben. Das wird sich mit Arbeitskräften aus Vorarlberg nicht ausgehen. Es braucht also im Rahmen der Personenfreizügigkeit einen weiteren Zuzug von zum Beispiel jungen Bulgaren oder Rumänen. Und jetzt sage ich etwas, das überhaupt niemand gerne hört. Südlich der Sahara und des Äquators werden laut Schätzungen der Weltbank allein 200 Millionen Menschen aus Hunger ihre Länder verlassen. Und die gehen dorthin, wo es etwas zu essen und vor allem zu arbeiten gibt. Das sind aber keine Unmenschen, wie auch die Afghanen und Syrer, die bei uns im Jugendhaus ein- und ausgehen. Da braucht es eine gewisse Begleitung in der sozialen und bildungsmäßigen Integration. Das bedeutet, sie müssen zuerst Schreiben und Lesen lernen. Da können wir als Offene Jugendarbeit mithelfen. Es ist uns gelungen, junge Flüchtlinge, die 2015 in unser Land gekommen sind, als Lehrlinge und Arbeiter in Vorarlberger Topfirmen weiterzuvermitteln. Das geht übrigens viel billiger und schneller als bei Jugendlichen, die hier im Land aufwachsen. Für die braucht es nämlich einen Mutter-Kind-Pass, eine ärztliche Versorgung, Schulen. Also, bis jemand arbeitsfähig ist, insgesamt eine weitläufig teure staatliche Begleitung. Das braucht es bei Flüchtlingen alles nicht. Wenn es also um den Bereich des gewünschten Zuzugs geht, sind Jugendzentren besonders geeignet, um Jugendliche für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Ohne Jugend gibt es für uns als Gesellschaft keine Zukunft. Wir dürfen hier keinen einzelnen jungen Menschen zurücklassen.

Sie sind inzwischen 63 Jahre alt. Die Pensionierung rückt näher. Wie sehr hat die Arbeit mit Jugendlichen Sie selbst jung gehalten? Das Thema Jugendarbeit ist eine gute Berufswahl. Du bleibst dadurch immer jung. Du kannst es dir hier nicht leisten, herumzujammern, dass dein Rücken schmerzt. Diese Altersheim- und Pensionisten-Gaststätten-Themen sind mir Gott sei Dank nicht geläufig. Jugendarbeit hält einen jung. Du hast immer mit verhaltensoriginellen Menschen zu tun und nicht mit solchen, die immer sagen, dass früher alles besser war. Bei meiner Arbeit geht es darum, sich zu überlegen, wie man Zukunft besser gestalten kann. Aber natürlich haben wir es auch mit viel sozialer und ökonomischer Verarmung zu tun. Für uns ist das Ziel erreicht, wenn ein Jugendlicher selbst navigieren kann und stark genug ist, die Segel entsprechend den rauen Winden des Lebens zu setzen.

„Für uns ist das Ziel erreicht, wenn ein Jugendlicher selbst navigieren kann und stark genug ist, die Segel entsprechend den rauen Winden des Lebens zu setzen.“

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