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Zwischen Flucht und Gefängnis
Mit zehn Jahren erstmals im Erziehungsheim, mit 13 erster Kontakt mit Heroin, mit 14 zum ersten Mal im Gefängnis. Gemeinsam mit der marie blickt der Lustenauer Rupert (55) auf sein bewegtes Leben zurück und verrät uns seinen sehnlichsten Wunsch.
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Text: Frank Andres, Fotos: Martin Schachenhofer
Strickkappe, blaue Jacke, darunter ein Schal, graue Jogginghose, ein Totenkopf-Ring an der rechten Hand, in der linken eine FFP2-Maske. Die Haare halblang. Rupert ist zu Besuch in der marie-Redaktion. Er ist etwas nervös. Er weiß nicht so recht, was ich von ihm wissen will. Ich sage zu ihm: „Rede einfach über dein Leben.“ Und der heute 55-Jährige beginnt zu erzählen. Fast zwei Stunden lang. Er nimmt uns mit auf einen Abenteuerroman namens Leben.
Rupert, geboren 1965, wächst in Lustenau auf. Er beschreibt seinen Vater als schweren Alkoholiker und gewalttätig. „Er hat meine Mutter geschlagen“, erzählt er. Als Rupert neun Jahre alt ist – er ist der Zweitälteste von insgesamt neun Kindern – lässt sich seine Mutter scheiden. Er kommt in die Steiermark zu seiner Großmutter väterlicherseits. In die Nähe von Kapfenberg. Für Rupert ist es eine Befreiung. Die Oma hat ein Schwimmbad und einen Kiosk gepachtet. „Ich bekam täglich gratis Süßigkeiten. Es war eine gute Zeit“, schwelgt Rupert in Erinnerungen.
Dumme Idee
Ein Jahr später ist die Sommerfrische in der Steiermark für Rupert aber schon wieder vorbei. Er kehrt zu seiner Mutter nach Lustenau zurück. Doch zuhause kann er nicht lange bleiben. Weil seine Mutter laut Schreiben der Bezirkshauptmannschaft nicht in der Lage sei, sich um alle Kinder zu kümmern, muss Rupert in ein Erziehungsheim. „Ich habe mich freiwillig für den Jagdberg entschieden“, erzählt er. Eine Entscheidung, die er aber schnell bereut. „Mir hat es dort nicht gefallen.“ Bereits am zweiten Tag türmt er. Am späten Vormittag klettert der Zehnjährige über einen Zaun, rennt den Hügel hinunter nach Schlins und steigt am Nenzinger Bahnhof in den Zug. Sein Ziel: Lustenau. „Das war eigentlich eine dumme Idee“, wie er heute selbst zugibt. Die Polizei bzw. die Fürsorge hat ihn immer wieder zuhause bei der Mutter abgeholt und auf den Jagdberg gebracht. Rupert steigt immer wieder als Schwarzfahrer in den Zug in Richtung Unterland. Doch oft wird er frühzeitig vom Schaffner erwischt und landet wieder im Heim. Einmal, so erinnert sich Rupert, versteckt ihn seine Mutter nach einer Flucht zuhause im Kleiderkasten und setzt sich davor auf einen Stuhl und sagt: „Mein Sohn ist nicht da.“
Mit Fahrrad auf der Autobahn
Nach einem Jahr ist das Kapitel Jagdberg für Rupert abgeschlossen. Er kommt mit elf Jahren nach Innsbruck. In ein Heim für Kinder mit Verhaltensstörungen. Doch auch 200 Kilometer fern von der Heimat halten ihn nicht davon ab, das Heil weiterhin in der Flucht zu suchen. Ein Versuch ist dabei besonders spektakulär: Rupert schnappt sich ein Fahrrad und fährt auf der Autobahn in Richtung Vorarlberg. „Jedes Auto hat gehupt und aufgeblinkt. Ich dachte mir aber nur: ‚Was sind das für Tröttel, ich fahre doch ganz am Rand‘.“ Dem damals Elfjährigen ist schlichtweg nicht klar, dass ein Pedalritter nichts auf einer Autobahn verloren hat. Die Heim-Odyssee geht kurze Zeit später weiter. Rupert kommt in ein Heim nach Hartberg in die Steiermark. Wieder flieht er bzw. versucht es. Einmal will Rupert per Autostopp nach Graz und von dort mit dem Zug nach Vorarlberg fahren. Doch er kommt nicht weit. Ein Erzieher des Heims beobachtet den Jungen, nimmt ihn mit dem Auto mit und bringt ihn zurück ins Heim nach Hartberg. „Ich weiß bis heute nicht, warum er gewusst hat, wo ich herkomme“, sagt Rupert.
Rupert ist inzwischen 13 Jahre alt. Nach Stationen in Schlins, Innsbruck und Hartberg kommt er in Linz-Wegscheid in ein Heim. Und es wäre nicht Rupert, wenn er nicht auch dort Reißaus genommen hätte. Er sammelt die Bettwäsche seiner Zimmerkollegen, knotet die Laken zusammen und seilt sich um Mitternacht übers Klofenster mehrere Stockwerke ab. Mit zwei gestohlenen Puch-Mofas schafft er es über Landstraßen bis nach Salzburg. Dort angekommen ist Rupert aber derart übermüdet, dass er sich in eine Kiste mit Rollsplit legt und einschläft. Als er schließlich am nächsten Morgen aufwacht, bemerkt er, dass er sich nur wenige Meter von einer Busstation entfernt befindet. Er hebt den Deckel der Kiste auf und mehrere Frauen, die gerade auf dem Weg zur Arbeit sind, schreien und springen erschrocken auf. Heute kann er darüber lachen.
Kurz vor seinem 14. Geburtstag kehrt Rupert schließlich nach Vorarlberg zurück. Er kommt ins Heim am Jagdberg. Und, erraten, er flüchtet wieder zu seiner Mutter nach Lustenau. Als es plötzlich an der Tür klingelt und ein Mann von der Fürsorge mit einem Brief vor dem Haus steht, hat Rupert bereits einen Fuß auf dem Balkon, um zu fliehen. Da ruft ihm der Mann plötzlich zu: „Rupert, du musst nicht wegrennen. Du bist als unerziehbar entlassen.“ Rupert hatte endlich erreicht, was er wollte. Er musste ab diesem Zeitpunkt nie mehr zurück in ein Heim. >>
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Drogensüchtig mit 13
Doch wirklich leichter wird das Leben von Rupert auch danach nicht. Im Gegenteil: Er hatte kurz davor zum ersten Mal Drogen genommen. Zuerst schnupft er Heroin, danach spritzt er sich den Stoff. Schnupft Kokain. Er wird von den Drogen abhängig. Ist nach dem Drogenkonsum teilweise völlig weggetreten. „Ich wollte die Drogen selbst ausprobieren. Ich war neugierig. Es war zwar heftig, aber es hat mir gefallen“, gibt Rupert offen zu, der heute im Methadonprogramm ist. Rupert macht aber nicht nur frühe Erfahrungen mit Drogen, sondern auch mit Frauen. „Ich hatte bereits mit 14 Jahren Freundinnen, die auf den Strich gegangen sind. Sie haben mir immer wieder Geld zugesteckt. Sie haben mich finanziert.“ Alles sei freiwillig passiert. Mit Zuhälterei, so sagt er heute, habe er nie etwas zu tun gehabt.
Um sich seine Drogensucht finanzieren zu können, beginnt Rupert zu dealen. Am berüchtigten „Platzspitz“ in Zürich. Als ihn sechs Wochen später ein Konkurrent bei der Polizei verpfeift, wird er verhaftet. Mit Heroin im Gepäck. Zu diesem Zeitpunkt ist Rupert erst 16 Jahre alt. Sein Bruder holt ihn einen Tag später um 22 Uhr auf dem Posten St. Gallen ab und bringt ihn zurück nach Vorarlberg. Es folgt eine Anklage wegen Drogenbesitzes. Die Schweizer Behörden fordern ihn auf, zu einer neuerlichen Einvernahme zu erscheinen. „Ich habe diesen Termin aber nicht wahrgenommen, weil ich Angst hatte, wieder ins Gefängnis zu müssen.“ Ja, wieder. Denn Rupert hatte bereits wegen verschiedener Eigentumsdelikte in Vorarlberg mit 14 Jahren eine Haftstrafe von zehn Monaten ausgefasst. Das Gefängnis ist ab diesem Zeitpunkt eine Konstante im Leben von Rupert. Insgesamt verbringt er 18 Jahre hinter Gittern. Ein Drittel seines bisherigen Lebens.
„Ich tue dir nichts“
Doch zurück zum Leben des jugendlichen Rupert. Es ist das Jahr 1981. Der 16-Jährige geht in Dornbirn in ein Geschäft. Stiehlt dort ein Messer. Er kommt raus und läuft sofort rein in den nächsten Laden. Dort zückt er das Messer und sagt zu dem Mann hinter der Verkaufstheke: „Gib mir das Geld. Ich tue dir nichts.“ Der Mann öffnet ihm die Kasse. Rupert greift hinein, nimmt das Papiergeld und verschwindet. Doch kaum ist er er draußen, gibt ein Polizist, der auf dem Marktplatz den Verkehr regelt, plötzlich einen Warnschuss ab. Rupert wirft sich auf die Knie und robbt auf allen Vieren über den Platz. „Ich hatte Angst, dass der Polizist auf mich schießt“, erzählt er. Die Scheine, knapp 5000 Schilling (363 Euro), flattern über die Straße. Rupert wird von alarmierten Polizisten verhaftet und mit dem Bus in Handschellen abgeführt. Nach einem Jahr in Untersuchungshaft in Feldkirch wird das Urteil über Rupert gesprochen. Laut Gerichtsgutachten sei er zum Zeitpunkt der Tat zwar unter Drogeneinfluss gestanden, sei sich als geeichter Konsument seines Handelns aber bewusst gewesen. Diese Begründung regt ihn heute noch auf. „Das ist völliger Blödsinn. Ich war mit Drogen vollgepumpt. Ich wusste zum Zeitpunkt des Überfalls nicht, ob ich in Dornbirn, Bregenz oder Lustenau bin.“ Rupert muss mit 17 Jahren trotzdem für sechs Jahre in die Justizanstalt Graz-Karlau.
Fluchtversuch aus Gefängnis
Auch im Gefängnis denkt Rupert an Flucht. Ungefähr zur Mitte seiner Haftzeit setzt er diesen Gedanken in die Tat um. Er gräbt sich übers Klo in die Nachbarzelle. Von dort aus will er sich zusammen mit drei weiteren Insassen mittels Leintüchern in den Innenhof abseilen. Doch der Wachposten bemerkt das Quartett und schlägt Alarm. Dann geht alles sehr schnell. Mehrere Beamte mit Pistolen im Anschlag zwingen die Vier sich mit den Händen über dem Kopf flach auf den Boden zu legen. Das Quartett wird über eine Stiege in den Keller geprügelt. Rupert verbringt dort fünf Wochen in Einzelhaft. Zu lesen gibt es für ihn nur die Bibel. Mit dem Buch kann er inhaltlich nichts anfangen, weil er es schlichtweg nicht versteht. Und warum ist die Flucht schlussendlich gescheitert? „Ich bin überzeugt, dass uns jemand verpfiffen hat“, sagt Rupert heute. Ein halbes Jahr vor dem Ende seiner sechsjährigen Haftzeit kommt er dann offiziell frei.
Flucht aus Polizeiinspektion
Nach der Haft in Graz geht es für Rupert wieder einmal zurück ins Ländle. Auf den Pfad der Tugend findet er aber nicht zurück. Er finanziert sich seine Drogensucht weiterhin mit Dealen und Einbruchsdiebstählen. Er bricht unter anderem in eine Lustenauer Villa ein und stiehlt ein wertvolles Gemälde, teure Teppiche und Ziergegenstände. Fünf Monate später wird er geschnappt. Der Fußabdruck seines Turnschuhes hatte ihn verraten. Das Urteil: vier Jahre unbedingt. Er wird in die Justizanstalt Stein in Niederösterreich eingeliefert.
Im Sommer 2005 flieht er bei einer Einvernahme auf spektakuläre Art und Weise aus der Polizeiinspektion Dornbirn. Als ihm die Beamten mitteilen, dass er ins Gefängnis nach Feldkirch müsse, hechtet er über mehrere Schreibtische und springt aus dem Fenster. Er schürft sich bei der Landung die Hände auf. Doch die Flucht gelingt. Vorerst. Denn drei Monate später wird er doch noch geschnappt. Warum, so fragt man sich, hat Rupert einen derart ausgeprägten Fluchtinstinkt? Seine Erklärung heute lautet: „Ich hatte zeitlebens ein Gefühl von Beengtheit. Darum wollte ich immer weg.“ Außerdem sei er wohl zu faul gewesen, um ein normales Leben zu führen, gibt er offen zu.
Wunsch nach eigener Wohnung
Insgesamt vier Gefängnisstrafen sitzt Rupert in Stein ab. Verbringt dort insgesamt 11,5 Jahre seines Lebens. Seit 8. Mai 2020 ist Rupert wieder in Freiheit. Und für ihn ist klar: „Meine Gefängniskarriere ist endgültig beendet. Ich habe mir fest vorgenommen, keine strafbare Handlung mehr zu machen.“ Mit dem Drogenhandel hat er aufgehört. Seit Juni lebt er in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe. Und er hat einen großen Wunsch. „Ich möchte in einer eigenen kleinen Wohnung leben.“ Ein Wunsch, der für ihn hoffentlich bald in Erfüllung geht. Damit er endlich ein Leben in Ruhe führen kann und nicht mehr das Gefühl hat, fliehen zu müssen.

Spitzname „Der Apotheker“: Rupert hat den Spitznamen von einem Mitarbeiter des Bonettihauses bekommen. Er hatte zufällig eine Unterhaltung mitbekommen, in der es um die Wirkung von Medikamenten ging. Rupert stieg in das Gespräch ein und zählte die Wirkstoffe der Tabletten auf. Das Wissen hat er sich aus dem Buch „Bittere Pillen“ erworben. Darin sind die Substanzen in den verschiedenen Medikamenten aufgelistet.
