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Mit Ring Richtung Süden

Martin Furler und seine Kinder Julia, Anna und Lukas (v.l.n.r.) mit einem aus dem Netz geholten Vogel. Links: ein Gartenrotschwanz

Forscher auf Vogelfang

Auf der Ulmethöchi im Baselbiet fangen Ornithologen schon seit sechs Jahrzehnten jeden Herbst Zugvögel. So helfen sie, den Vogelzug zu erforschen – und die gefiederten Langstreckenflieger besser zu schützen.

Text: Simon Koechlin Bilder: Matthias Willi Julia, Anna und Lukas haben die Nase vorn. Rasch stiefeln die drei Kinder über die Herbstweide. Schlüpfen durch eine Lücke in der Hecke und stehen dann geradewegs vor einem feinmaschigen, knapp zehn Meter hohen Netz, das direkt vor einem Bergahorn steht. «Da ist einer drin – nein: zwei!», rufen sie. «Eins ist ein Goldhähnchen!» Ihr Vater Martin Furler stapft ruhig hinterher. Seit 32 Jahren verbringt der Architekt jeden Herbst mindestens eine Ferienwoche auf der Vogelberingungsstation Ulmethöchi. Er ist verantwortlich für die von Ende September bis Anfang November laufende Aktion des Basellandschaftlichen Natur- und Vogelschutzverbands.

Die Ulmethöchi ist ein auf 973 Metern über Meer gelegener Pass oberhalb von Lauwil im Baselbieter Jura. Sie liegt wie ein Sattel zwischen zwei Gebirgsrücken. Für Zugvögel, die auf dem Weg in den Süden im Herbst von Nordosten den Faltenjura anfliegen, sei sie ein bevorzugter Übergang, so Furler. «Je tiefer sie fliegen, desto weniger Energie verbrauchen sie.» Deshalb fangen Vogelfreunde hier seit 60 Jahren mit 30 Netzen Zugvögel auf dem Weg in den Süden, um mehr über sie zu erfahren.

Nun ist Furler beim Hochnetz vor dem Bergahorn angekommen. «Stimmt», sagt er nach einem kurzen Blick ins Netz. «Ein Wintergoldhähnchen, ein Weibchen. Und das zweite ist eine Tannenmeise.» Nun gilt es, die beiden Vögel aus den Maschen zu holen. Martin Furler und der elfjährige Lukas stellen sich links und rechts an die

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Der 3-Minuten Snack

Praktisch für unterwegs.

«Die Tannenmeise riecht nach Harz, sie turnt die ganze Zeit in Tannen und Fichten herum.»

Martin Furler Architekt und Vogelkundler

Netzstange und ziehen das Netz herunter. Julia und Anna, die beiden neunjährigen Zwillinge, befreien zuerst die dünnen Vogelbeine. Dann sind die Flügel an der Reihe – und schliesslich der Kopf. Zum Schluss legen die Mädchen jeden Fängling mit geübten Bewegungen in ein luftdurchlässiges Stoffsäckchen.

Leicht wie ein Schoggimöckli Rasch bringen sie die beiden Vögel in einen alten, umfunktionierten Bauwagen. Nun ist Martin Furler gefragt. Er ist der Beringer der zwölfköpfigen Gruppe, die diese Woche auf dem Pass verbringt. Dafür hat er eine Prüfung abgelegt und braucht jährlich eine Bewilli-

Im zehn Meter hohen Netz verfangen sich die Zugvögel.

gung des Bundes. Vorsichtig nimmt er das Wintergoldhähnchen aus dem Stoffsack, legt ihm einen Aluring ums Bein und schliesst ihn mit einer Zange. Der Ring ist federleicht und kann sich am Bein des Vogels bewegen. Eingraviert ist eine Nummer, mit der das Goldhähnchen von nun an eindeutig identifizierbar ist. Wird es anderswo gefangen, können Ornithologen seine Zugstrecke und sein Zugtempo nachvollziehen.

Am Gefieder erkennt Furler, dass es sich um einen Jungvogel handelt. Anhand des Brustmuskels und der Fettreserven bestimmt er den Fitnesszustand des Goldhähnchens. Er misst die drittäusserste Flügelfeder – ein Mass für die Körpergrösse. Dann steckt er das Vögelchen in eine alte Teedose und stellt diese auf eine Waage. «5,1 Gramm», sagt er. «Nicht viel mehr als ein Möckli Schokolade – das Wintergoldhähnchen ist die kleinste einheimische Vogelart.»

Plötzlich herrscht Aufregung vor dem Beringungswagen: Gleich vier Vögel sind in eins der Netze geflogen. Drei Helfer machen sich auf, sie zu befreien. Es sind alles Kohlmeisen, eine der häufigsten Vogelarten der Schweiz. Ein seltener Gast ist hingegen frühmorgens ins Netz gegangen: ein Gartenrotschwanz. Diese Art ist typischer Bewohner von Hochstammobstgärten. Aufgrund intensivierter Landwirtschaft findet er kaum noch Lebensraum im Mittelland. Das schlägt sich in den Fangzahlen auf der Ulmethöchi nieder. Und bei anderen Kulturlandarten sieht es nicht besser aus. «Der Durchzug des Distelfinks etwa hat über Jahrzehnte um über zwei Drittel abgenommen», sagt Furler. Mit solchen erfassten Trends trage die Vogelberingung zum Schutz der Vögel bei. Den Ornithologen bietet die Beringung zudem die Möglichkeit, die Bevölkerung für die Vogelwelt zu begeistern. Um Furler herum steht stets eine Traube von Schaulustigen. Nun beringt er die Tannenmeise. Vorsichtig hält er diese einem Mädchen unter die Nase. «Riech einmal», sagt er. «Mmh, fein!», findet die Kleine. «Die Tannenmeise riecht nach Harz», so Furler, «denn sie turnt die ganze Zeit in Tannen und Fichten herum.»

In die Freiheit entlassen Den letzten und schönsten Job übernehmen an diesem Tag die Kinder. Nacheinander darf jedes vorsichtig einen beringten Vogel nehmen und ihn einige Schritte vom Beringungswagen wegtragen. Dort öffnen sich die kleinen Hände, und der gefiederte Weltenbummler fliegt – in die Höhe und dann weiter, immer weiter in den Süden. MM

Das Projekt in Zahlen

132 000

Seit 1962 haben Ornithologen auf der Ulmethöchi insgesamt mehr als 132000 Vögel beringt. 267 davon wurden andernorts wiedergefunden und der Schweizerischen Vogelwarte gemeldet – viele in Frankreich und Spanien, manche in Afrika.

574

Der «schnellste» Vogel war eine Singdrossel, die ihren Ring am 12.Oktober 1981 erhalten hatte. Sie legte in drei Tagen gleich 574 Kilometer zurück. Dann wurde sie in Südfrankreich geschossen. In vielen Mittelmeerländern ist die Vogeljagd noch heute verbreitet.

100

Vogelarten wurden bislang beringt. Die hundertste Art, 2021 gefangen, war eine Sumpfohreule – ein Vogel, der in der Schweiz nicht brütet.

2000

Jeden Herbst ziehen ungefähr 2000 Greifvögel über die Ulmethöchi. Die freiwilligen Vogelkundler beobachten, bestimmen und zählen sie. Die mit Abstand häufigste Greifvogelart ist übrigens der Mäusebussard.

80 000

Durchziehende Taubenschwärme gehören zu den beeindruckendsten Himmelserscheinungen im Oktober. Über 80000 Ringeltauben zählten die Ornithologen im Herbst 2016 an einem Tag.

530

Der am häufigsten beringte Vogel auf der Ulmethöchi ist der Buchfink. Seine Durchzugszahlen blieben über die Jahrzehnte stabil. Im Herbst 2021 beispielsweise wurden 530 Buchfinken auf ihrem Weg ins Mittelmeergebiet beringt.

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