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Markus Gabriel gibt ein Interview
from FUNZEL COSMOS
Eine Dame, die am Flughafen auf ihren Flug nach Düsseldorf wartet, bekommt von so etwas wie der Philosophie – und da ist die Rede noch nicht mal von der akademischen Philosophie – wenn überhaupt nur zufällig etwas mit. Dimble, OttonormalverbraucherPhilosoph, würde in keinem Fall das öffentliche Interesse auf sich ziehen, geschweige denn die wichtigen Fragen zu beantworten wissen. Und dann gibt es Gabriel, den Dieselbugatti, der innerhalb der Philosophie so viel Aufmerksamkeit erregt, dass neben ihm scheinbar kein Platz für irgendjemand Anderen übrigbleibt. Sogar die Dame auf dem Weg nach Düsseldorf könnte ihn, wenn sie sich samstagabends einmal in eine Artedoku über die Coronapandemie verirrt hat, in einem MachoLedersessel sitzen gesehen haben: Ein eingeblende ter Schriftzug (Markus Gabriel – Philosoph) stellt klar, um wen es sich hier handelt; und Gabriel sagt irgendwas erwartungsgemäß philosophi sches. [4] Wie passt das alles zusammen? *
Das Interview für die NZZ beginnt Gabriel mit einem Kommentar über Wahrheit, was insofern programmatisch ist, als dass es den Ton für das folgende Interview vorwegnimmt: Gabriel hält sich nicht mit Demut auf. Er liefert. Und zwar die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit. Die vollkommene Abwesenheit intellektueller Demut und Differenziertheit ist beinahe beeindruckend, wenn sie nicht so verstörend wäre. Normalerweise geben sich Akademiker*innen in Interviews demütig gegenüber der Komplexität der Tatsachen, betonen an verschiedenen Stellen, dass die eigenen Perspektive nicht verabsolutiert werden sollte, würdigen die Arbeit der Kolleg*innen. Nicht Gabriel. Das gesamte Interview hat dieForm Gabriel-erklärt-wie-es-wirklich-ist. Das hat zur Folge, dass unscharfe Begriffe wie die postmoderne Linke, Foucaultianer, Derridaisten oder die Kulturrelativisten als vagen Verweis auf „die,-die-falsch-liegen“ genügen. Kulturrelativisten beispielsweise würden Gabriel zufolge ernsthaft zustimmen, wenn ein Taliban aus Überzeugung in Afghanistan Mädchen die schulische Ausbildung verweigern wollte, solang in Deutschland die Mädchen noch zur Schule gehen dürften. Oder:
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„Überzeugte Kulturrelativisten haben zu viel Bullshit gelesen, an den sie irgendwann zu glauben beginnen, und verwechseln Toleranz mit Arroganz.“
„Das ist eine Pathologie des akademischen
Betriebs. Nur Foucaultianer und Derridaisten, die in geradezu paranoider Art und Weise überall Macht- konstellationen wittern, glauben das ernsthaft.“ [5]
Darüber hinaus und vielleicht noch verheerender ist, dass Gabriel umstrittene Annahmen als selbstverständlich darstellt. Dass die postmoderne Linke den Wert der Wahrheit erodiert und auf diese Weise geradewegs zu Trump und Fake-News geführt hätte, ist nicht abschließend geklärt. [6] Wenn überhaupt wird diese These von ausgesprochenen Kritikern der Postmoderne und Vertretern einer entgegengesetzten Denkrichtung vertreten. Es handelt sich also um eine These mit Kalkül. Als Scheu im Laufe des Interviews behauptet, dass die Cancel-Culture „angewandte poststrukturalistische Theorie“ ist, lässt Gabriel diese Aussage unkommentiert stehen. Unübersehbar ist auch, dass sich Gabriel von René Scheu sehr bereitwillig vor den kultur-konservativen Karren spannen lässt. Gabriel weist in diesem Sinne darauf hin, dass weiße, heterosexuelle Männer auch nicht diskriminiert werden sollen und dass der intersektionale Kampf um Gerechtigkeit überflüssig ist, wenn man sich nur an die Faktenlage hält. Desweiteren: Benachteiligungsreichtum sei lächerlich und
55 SCHATTENWURF
CUT III
Durch das neue Bild des Kosmos bricht das Chaos also wieder in den Welt-Raum des Menschen ein: sowohl in Form theoretischer als auch existenzieller Neuvergegenwärtigung. Die Gesellschaft fragmentiert genauso wie ihre Werte und Religion, das Universum breitet sich aus, Komplexitäten wandeln Gewissheiten in bloße Regularitäten um. Da erscheint es anachronistisch, wenn Alexander von Humboldt in der Mitte des 19. Jahrhunderts versucht, den alten, hellenistischen Kosmosbegriff im modernen, naturwissenschaftlichen Gewand zu aktualisieren.[22] Wesentlich natürlicher kommen nietzscheanische Antimetaphysiken daher wie jene des Mathematikers und Topologen Felix Hausdorff, der unter dem Namen Paul Mongré auch philosophische Schriften veröffentlichte, unter anderem das Traktat Sant‘ Ilario: Gedanken aus der Landschaft Zarathustras. Da archivalisch und digital vergriffen, sei hier die bemerkenswerte Zusammenfassung Hülsewiesches ausgiebig zitiert: „Gleich zu Anfang wird Mongré deutlich: ‚In der Welt ist so empörend viel Unsinn, Sprung, Zerrissenheit, Chaos, Willensfreiheit; ich beneide diejenigen um ihre guten und synthetischen Augen, die in ihr die Entfaltung einer Idee sehen.‘ Diese beiläufig hingeworfene Formulierung wird später unter der Überschrift ‚Zur Kritik des Erkennens‘ aufgenommen [...]. Hier kommt Mongré, ausgehend von der Hypothese, in ‚dem einen Chaos sind viele kosmoi möglich, wie im Raum viele Geraden und Kreise‘, zu der Behauptung: ‚das Herauskrystallisieren [sic! M.P.] des Kosmos aus dem Chaos vollzieht sich nicht im Sinne eines Verlaufs, sondern etwa einer rein mathematischen Elimination.‘ Dieser Gedanke scheint dann auch Ausgangs- und Anknüpfungspunkt zu sein für einen ‚erkenntniskritischen Versuch‘ unter dem Titel Das Chaos in kosmischer Auslese, der 1898 erschien. [...]. Bereits im ersten Kapitel wendet sich [Mongré] gegen die ‚spekulative Begriffsdichtung‘ auch in den ‚exakten Wissenschaften‘ und er gelangt bei seinen Untersuchungen zu Zeit und Raum zu dem Schluß: ‚An der chaotischen Beliebigkeit der Dinge vergreift sich alle Metaphysik.‘ Er weist dann jede Möglichkeit, im Transzendenten ein System zu etablieren, zurück, in dem er nach präziser Analyse zusammenfaßt: ‚Der Raum an sich würde . . . gerade so wie die Sukzession in der transzendenten Zeit eine von der empirischen völlig verschiedene sein . . .; der Versuch, Zeit und Raum der transzendenten Welt beizulegen, führt zu Chaos und Willkür.‘ [...]. Unter Rückgriff auf den Kantischen Begriff der (transzendentalen) Synthesis gelangt er zu dem Schluß, daß solche [Beilegungen] ‚vermöge automatischer Auslese sich einen Kosmos aus dem Chaos‘ sieben, also jedes willkürliche Ausleseprinzip ‚aus dem Chaos einen Kosmos‘ ausscheidet und darum ‚in das Chaos eine unzählbare Menge kosmischer Welten eingesponnen ist.‘ Diese, wie es scheint, mit der Hesiodschen Theogonie, in der sich aus dem Chaos mythisch ein Kosmos seine Bahn bricht, durchaus vergleichbare Sentenz bildet zugleich den Mittelpunkt von Hausdorffs auch heute noch aktueller Metaphysik- und Wissenschaftskritik: ‚Damit sind die Brücken abgebrochen, die in der Phantasie aller Metaphysiker vom Chaos zum Kosmos herüber und hinüber führen, und ist das Ende der Metaphysik erklärt‘, auch ‚jener verlarvten, die aus ihrem Gefüge auszuscheiden der Naturwissenschaft des nächsten Jahrhunderts nicht erspart bleibt.‘“ [23] Kunst gefährlich, weil sie „in den Händen der Falschen dazu führt, dass wir das moralisch Richtige nicht mehr erkennen. […] Daraus folgt natürlich kein Kunstverbot, sondern ein Gebot des guten Geschmacks.“ Na dann.
Ist Markus Gabriel wieder nur eine von diesen blassen Kartoffeln, die in der fünften Klasse mal einen Mathewettbewerb gewonnen haben, seitdem als hochbegabt gelten und von der Studienstiftung pünktlich nach Ablauf der Regelstudienzeit als aufgeblasene Lackaffen auf den Arbeitsmarkt gespuckt wurden, wo sie beinahe sofort vom akademischen Betrieb wieder aufgesogen und bis zur Professur weitergereicht werden? In anderen Worten, ist Gabriel nur ein Dimble, dem man einmal zu oft erzählt hat, er sei was ganz Besonderes? Vielleicht.
Sehr viel wahrscheinlicher ist Gabriel das folgerichtige Phänomen der Atmosphäre, die die Philosophie schon lange beherrscht. Die Philosophie ist, so wie die meisten Geisteswissenschaften, eine Einzelkämpferdisziplin, in der Dominanz und Kampfgeist belohnt werden, Teamspirit, Flexibilität und Offenheit dagegen weniger. [7] Von Beginn des Bachelorstudiums bis zur Professur und selbst darüber hinaus ist die Philosophie eine fortwährende Schlacht um Aufmerksamkeit, aus der einige wenige Gewinner hervorgehen, die wir dann als Genies bezeichnen. Die Spezies Philosophiestudent*in, die in den Philosophieseminaren die Debatte fortwährend mit ihrer Meinung penetrieren und in ellenlangen Ausführungen ihren Standpunkt der Dinge breittreten, folgen genau dieser Rationalität. Gründe für diese bizarre Wettbewerbslogik sind wahrscheinlich mehrere – Sachzwänge, historisch gewachsene Strukturen, Ökonomisierung, etc. Allerdings: das Bedürfnis nach den Celebrities, Stars und Sternchen ist tief in unserer kollektiven Psyche verankert. Wir lieben die Menschen, die sich für uns als Genies inszenieren und denen wir für eine gewisse Zeit unsere Aufmerksamkeit uneingeschränkt schenken können. Wir wollen die, die uns blenden. Wir sind verrückt nach unseren individualistischen Highperformern.
Dr. Dimble, die Dame und Markus Gabriel treffen auf dem Sektempfang einer Geldgeberorganisation in Düsseldorf zusammen. Gabriel, umringt von seinen (neuen) Bewunderern, hat ausgetrunken, eist sich los und geht in Richtung Buffett. Dimble ist eigentlich zum Networken da, steht aber seit zehn Minuten in einer Ecke. Als er Gabriel, alleine, an ihm vorübergehen sieht, nimmt Dimble alles in ihm zusammen, das mutig ist, und eilt Gabriel hinterher. Die Dame, sie hat kein Philosophiemagazin gekauft, sondern den Spiegel, denn das entspricht eher der Statistik, ist zufällig hier. Sie hat dem Festvortrag, der von einem unangemessen alten Mann gehalten wurde, nicht folgen können und hat sich nach sehr kurzer Zeit ihrem Handy gewidmet. Jetzt wartet sie auf den perfekten Moment für einen Abgang. Den sieht sie einige Sekunden später als gekommen und macht sich auf in Richtung Ausgang. Da wird sie von Dimble, dessen Augen starr auf Gabriels jackettierten Rücken geheftet sind, angerempelt und stürzt, wobei sie den weiß-betuchten Stehtisch mitreißt und eine ganze Menge Weingläser zu Fall bringt. Voll Rotwein und Scherben finden sich der überraschte Dimble und die erschrockene Dame aufeinander auf dem Boden liegend wieder. Einen kurzen Moment sehen sich beide in die Augen und schämen sich für die offensichtlich erotische Konnotation, die das Szenario hat. Dimble springt auf und möchte, so viel Heroisches findet er in sich, der Dame aufhelfen. Doch die hat ihre Hand bereits in die des engelsnamentragenden Gabriel gelegt, der sofort zur Hilfe geeilt ist und jetzt, vom Kronleuchter vorteilhaft angestrahlt, das bereits dahinschmelzende Fräulein anlächelt. * An einem Nachmittag im Januar sitzen wir vor unseren Laptops und warten auf den Mann, der wir alle eigentlich gerne sein möchten. Markus Gabriel, heute in Gestalt einer Zoom-Kachel, lässt sich auch in diesem Format nicht bremsen. Was auf sein Erscheinen in dieser Runde und generell eben gefolgt ist, seit Markus Gabriel philosophisch auf den Plan getreten ist, ist das stetige Entfalten eines Gravitationsfeldes mit Gabriel als Zentrum. In diesem Workshop wird er keine Frage richtig beantworten, keinen Impuls zurückgeben, keine Diskussion anleiten. Stattdessen verschluckt er alles in einem Redeschwall, der jeweils das Ausmaß eines mittellangen Essays hat. Die Aufmerksamkeit wird Gabriel nicht abgeben, nicht, nachdem man sie ihm vor einigen Jahren erstmalig erteilt hat. Gabriel weiß, wovon er spricht, und das wissen auch die Anderen. Nach eineinhalb Stunden, in denen wir uns in die Frageliste eingetragen haben, gewartet und unsere Frage gestellt und von Gabriel verschluckt gesehen haben, ist der Workshop zu Ende. Und man ist, wie vorher – allein.



Tizia Rosendorfer, BA & PS4, befindet sich in einem post-Abgabe Schwebezustand, dessen Ende sie bereits jetzt bedauert. Ihr digitales Praktikum an der Universität Leuven verpflichtet sie zweimal in der Woche zur Oberkörperbekleidung, überanstrengt sie ansonsten aber nicht. Das Meiste ihres relevanten Besitzes, darunter eine Waldmeisterduftkerze, befindet sich derzeit noch in London. Insofern könnte sie Hannah Lindner sogar weiterhelfen.