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Die Revolution verschlingt ihre eigenen Kinder ANDREA CHÉNIER

Inspiriert von der Biografie des französischen Dichters André Chénier verschmolzen Umberto Giordano und sein Librettist Luigi Illica Dichtung und Wahrheit zu einem opulenten und packenden Historienkrimi. Ab dem 23. Juni ist die grosse Revolutionsoper Andrea Chénier nach 57 Jahren wieder in St.Gallen zu erleben – bei den diesjährigen St.Galler Festspielen auf dem Klosterhof.

«So traurig und gefangen ist sie! Meine Leier jedoch ist / beim Hören dieser Klagen, dieser Stimme, / diesen Wünschen eines jungen gefangenen Mädchens erwacht; / und als ich die Bürde meiner schmachtenden Tage abwerfe, / habe ich die Töne eines liebenden und un schuldigen Mundes / zum sanften Gesetz meiner Lyrik angewendet.» Diese Verse schrieb der französische Poet André Chénier während seiner Inhaftierung im Gefängnis Saint-Lazare in Paris. Inspiriert zu seinem Gedicht La Jeune Capitve ( Das gefangene Mädchen ) hatte ihn eine Mitgefangene: Die junge Aristokratin Aimée de Coigny war im Laufe seiner Haftzeit zu seiner Muse und zum Subjekt seiner Dichtung geworden. Die Bekanntschaft Andrea Chéniers mit Aimée de Coigny diente vor allem mehreren Dramatikern als Inspirationsquelle. Weltberühmt wurde der Poet aber schliesslich durch Luigi Illicas und Umberto Giordanos grosse veristische Oper Andrea Chénier

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Der historische Chénier 1762 bei Konstantinopel geboren, verbrachte André Chenier seine ersten Lebensjahre in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches, wo sein Vater französischer Konsul war. Später kehrte die Familie nach Frankreich zurück, und Chénier erhielt eine umfangreiche humanistische Ausbildung. Während seines Studiums am Collège de Navarre in Paris machte er sich als Übersetzer altphilologischer Texte einen Namen. Darüber hinaus frequentierte er regelmässig den Salon seiner Mutter, wo er Bekanntschaft mit zahlreichen Künstlern und Intellektuellen schloss. Seine Liebe zur Altphilologie spiegelt sich deutlich in seinen frühen lyrischen Texten, die zur Anakreontik zu zählen sind: Gemäss dem Motto «Über neue Gedanken lasst uns alte Verse verfassen» (ein Zitat aus seinem Gedicht L’Invention ), ist Chéniers frühe Lyrik im neoklassischen Stil verfasst und verbindet klassische griechische Dichtung und Mythologie mit Elementen, die später für die Literatur und Kunst der Romantik prägend werden sollten.

Nach einem kurzen Militärdienst in Strasbourg verbrachte Chénier drei Jahre als Sekretär des französischen Botschafters in Grossbritannien. Zurück in Paris war Chénier als politischer Journalist für das Journal de Paris tätig. Zu dieser Zeit stand Frankreich kurz vor der Anarchie und Chénier, der sich zum gemässigten revolutionären Flügel zählte, kritisierte in seinen journalistischen Texten die Tyrannei und Ungerechtigkeiten des Ancien Régime. Er trat für eine friedlich Revolution im Rahmen von Gesetzesänderungen ein, musste jedoch bald erkennen, dass die revolutionären Ideen und Ideale nicht mit Regeln und Gesetzen erreicht werden konnten. Inzwischen waren auch die anfänglichen Idealisten durch ihre neu erworbene Macht korrupt und die Revolution zwischenzeitlich zu einem weiteren System grausamer Unterdrückung geworden.

Nach dem Tuileriensturm am 10. August 1792, der die radikale Phase der Revolution einläutete, und dem Sturz

König Ludwig XIV., wurde Chénier in den Verteidigungsrat für den abgesetzten und angeklagten König berufen. Inzwischen stand Chénier auf der Feindesliste der Jakobiner und floh nach der Hinrichtung des Königs in ein Versteck nach Versailles. Bei seinem Versuch der Frau eines Adeligen, der als Verräter und Verschwörer angeklagt wurde, zu helfen, wurde Chénier verhaftet. Nach 141 Tagen im Gefängnis machte man ihm am 24. Juli 1794 wegen Kritik an Robespierre und seiner Mitwirkung an der Verteidigung von Ludwig XVI. den Prozess und verurteilte ihn zum Tode. Das Urteil wurde am nächsten Tag vollstreckt. Chénier war einer der letzten Häftlinge, die auf Anordnung Robespierres unter der Guillotine starben – der führende Revolutionär wurde selbst nur drei Tage nach Chénier hingerichtet. Erst posthum begründete sich Chéniers Ruf als einer der wichtigsten Poeten Frankreichs, denn zu seinen Lebzeiten wurden nur zwei seiner Gedichte veröffentlicht.

Aimée de Coigny

Auf der Liste der Gefangenen, die am 25. Juli 1794 zusammen mit André Chénier hätten hingerichtet werden sollen, stand auch der Name von Aimée de Coigny. Doch anders als die von ihr inspirierte Figur der Maddalena in Giordanos Oper, bestieg Chénier nicht mit ihr, sondern mit seinem Dichterfreund Jean-Antoine Roucher die Guillotine. Mithilfe ihres Mithäftlings Graf de Montrond gelang es Aimée de Coigny einen Wärter zu bestechen und sich die Freiheit zu erkaufen. Auch wenn die junge Adelige Luigi Illica als lose Vorlage für die Figur der Maddalena diente, ist deren Charakterzeichnung und romantische Beziehung zu Chénier in der Oper rein fiktional und orientiert sich mehr an der idealisierten Darstellung, die Chénier ihr in seinem Gedicht La Jeune Captive zukommen liess. Darin zeichnet er Aimée als naive junge Gefangene, die sich danach sehnt, vom baldigen Tod befreit zu werden. Mit der historischen Aimée de Coigny (geboren 1769) hatte diese Darstellung wenig zu tun: Sie war als Schönheit berühmt berüchtigt und führte ein unstetes Leben mit zahlreichen Affären. Im England des Regency wurde sie kurzzeitig als Trendsetterin gefeiert. Graf de Montrond, der sie vor ihrer Hinrichtung rettete, wurde kurzzeitig ihr zweiter Ehemann, doch auch diese Beziehung hielt nicht. 26 Jahre nach André Chénier starb Aimée de Coigny 1820 mit 50 Jahren. Ihre Rolle als Muse Chéniers blieb auch noch nach ihrem Tod lange Zeit im Dunkeln.

Werkgeschichte

Gut 100 Jahre nach Chéniers Tod nutzten Luigi Illica und Umberto Giordano wichtige Stationen im Leben des Dichters für ihr Bühnenwerk. Bis zum durchschlagenden Erfolg 1896 von Andrea Chénier hatte Giordano als Opernkomponist nur mässigen Erfolg. Entdeckt wurde er vom italienischen Musikverleger Edoardo Sozogno 1889 bei einem Kompositionswettbewerb in Rom. Giordano war der jüngste von 73 Teilnehmern und belegte mit seiner Oper Marina den sechsten Platz; der Sieg ging an Pietro Mascagni für Cavalleria rusticana . Die Jury lobte Giordanos Partitur, kritisierte aber das Libretto von Marina als zu schwach und wenig theatral – ein Manko, das sich wie ein roter Faden durch die weitere Karriere Giordanos ziehen sollte: Auch seine folgenden Opern Mala vita (1892) und Regina Diaz (1894) litten unter einem schlechten Textbuch. Um Giordano endlich ein gutes Libretto zu verschaffen, arrangierte Sozogno ein Treffen Giordanos mit dem Komponisten Alberto Franchetti und dessen Librettisten Luigi Illica (der damals ausserdem am Text für Puccinis La bohème arbeitete). Für 200 Lire überliess Franchetti Giordano Illicas Libretto über den französischen Dichter André Chénier. Daraufhin zog Giordano nach Mailand, um in Illicas Nähe zu sein und begann mit der Kompositionsarbeit, während er mit bescheidenem Einkommen in einem Lagerraum eines Bestatters lebte. Die Zusammenarbeit Giordanos mit Illica war geprägt von heftigen Streitereien, aber Ende Januar 1896 war die Oper fertiggestellt. Die Uraufführung von Andrea Chénie r am 28. März 1896 in der Mailänder Scala wurde zum grossen

Triumph und verschaffte Giordano endlich den langerhofften Erfolg als Opernkomponist.

Verismo Stilistisch zählt Andrea Chénier zu den Musiktheaterwerken des Verismo, eine Richtung, die eng mit den Epochenbezeichnungen des Realismus und Naturalismus verwandt ist und mit der verschiedene literarische bzw. künstlerische Strömungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in Italien bezeichnet werden. Statt Schicksalen und Heldentaten von Göttern, anderen mythologischen Charakteren und Herrscherfiguren, die einen ästhetisierten und apotheotischen Tod sterben, bevorzugten die Künstler des Verismo drastische Milieudarstellungen: Jetzt bevölkerten einfache Menschen, deren Denken und Handeln von extremen Leidenschaften wie Liebe, Eifersucht, Ehrgefühl oder Hass geprägt sind, die Opernbühnen und starben einen ungeschönten Tod. Erste signifikante Opern dieser Strömung waren Ruggero Leoncavallos Pagliacci (1892) sowie Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana (1890). Innerhalb des veristischen Opernrepertoires bildet Andrea Chénier (ebenso wie später Giacomo Puccinis Tosca [1900] oder Francesco Cileas Adriana Lecouvreur [1902]) eine Ausnahme, denn hier wird nicht das Leben zeitgenössischer Figuren gezeigt, sondern die Handlung ist innerhalb konkreter historischer Ereignisse verankert: Im Zentrum der Handlung steht dabei die fiktive Dreiecksbeziehung zwischen

Andrea Chénier

Oper von Umberto Giordano

Premiere

Freitag, 23. Juni 2023

20.30 Uhr, Klosterhof

Öffentliche Führung

Mit musikalischen Kostproben

Samstag, 10. Juni 2023

12 Uhr, Klosterhof, Eintritt frei

Leitung

Musikalische Leitung: Modestas Pitrenas

Inszenierung: Rodula Gaitanou

Ausstattung: takis

Mitarbeit Kostüm: Lise Bondu

Licht: Jake Wiltshire

Ton: Markus Siegmeier, Nicolai Gütter

Bewegungschoreografie:

Rebecca Meltzer

Choreinstudierung: Franz Obermair

Choreinstudierung Winterthurer Chor:

Matthias Heep

Dramaturgie: Christina Schmidl

Regieassistenz und Abendspielleitung:

Edith Ronacher, Sebastian Juen, Matteo Marziano Graziano

Andrea Chénier: Jorge Puerta/

Kristian Benedikt

Carlo Gérard: Alexey Bogdanchikov/

Daniel Mirosław

Maddalena di Coigny: Ewa Vesin/

Sylvia D’Eramo

Bersi: Mack Wolz

La Contessa di Coigny/Madelon:

Małgorzata Walewska

Roucher: Äneas Humm

Pietro Fléville/Mathieu:

Kristján Jóhannesson

Fouquier-Tinville: Andrzej Hutnik

Abt/Spitzel: Riccardo Botta

Haushofmeister/Schmidt, Kerkermeister:

David Maze

Dumas: Niccoló Paudler

Chor des Theaters St.Gallen

Opernchor St.Gallen

Theaterchor Winterthur

Sinfonieorchester St.Gallen

Statisterie des Theaters St.Gallen

Weitere Vorstellungen

24./27./30. Juni 2023

1./5./7. Juli 2023

Andrea Chénier, der jungen Aristokratin Maddalena di Coginy und Carlo Gérard, einem ehemaligen Bediensteten der Familie di Coginy, der inzwischen zu einem der Anführer der Französischen Revolution aufgestiegen ist und in dieser Position seine Autorität missbraucht, um sich seines Rivalen Chénier zu entledigen.

Anders als in unzähligen Opern mit geschichtlichem Hintergrund des 19. Jahrhunderts ist die Historie in Andrea Chénier nicht nur schmückendes Beiwerk und illustratives Ambiente, stattdessen sind die Französische Revolution und die Schreckensherrschaft der Jakobiner hier die Katalysatoren der Bühnenhandlung – die Figuren sind den historischen Ereignissen sowie dem Milieu, in dem sie sich bewegen, bedingungslos ausgeliefert. Dazu entwarf Giordano eine entsprechende musikalische Milieuschilderung: In einer Collage aus historischen Tänzen, Musik der Zeit der Französischen Revolution wie der Marseillaise, der Carmagnole oder dem Revolutionslied Ah! Ça ira sowie hochemotionalen lyrischen Arien illustrierte er virtuos und eindrucksvoll das Paris vor und während der Terrorherrschaft. (cs)