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«Wie wollen wir leben?» Interview mit den Spartenleitenden

 «Wie wollen wir leben?»

Seit letztem Herbst weht ein frischer Wind durch das Berner Stadttheater. Das Berner Symphonieorchester und die drei Sparten Ballett, Oper und Schauspiel treten neu unter dem Namen «Bühnen Bern» auf und stehen unter neuer Leitung: Roger Vontobel amtet als Schauspieldirektor, Rainer Karlitschek übernahm den Posten des Chefdramaturgen und teilt sich mit dem Chefdirigenten der Oper Bern Nicholas Carter die Operndirektion, Isabelle Bischof führt das Ballett. Nach einer überregional und international gelobten ersten Spielzeit startet das Team nun in die zweite Runde.

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Bei Ihrem Amtsantritt vor einem Jahr lag viel Energie und Aufbruchstimmung in der Luft – wie haben Sie rückblickend die erste Spielzeit wahrgenommen?

Isabelle Bischof Es war tatsächlich sehr viel Energie da. Im Tanz konnten wir endlich La Divina Comedia zeigen, was ein grosser Anziehungspunkt war. Klar wurden wir auch von Corona gebeutelt, was den Arbeitsalltag unberechenbar machte. Trotzdem konnten wir einen guten Start hinlegen, der auch gleich verdeutlichte, was uns ausmacht: Verschiedenheit und Vielfalt.

Vielfalt in Bezug worauf?

Roger Vontobel Wir im Schauspiel vereinen eine Vielzahl von künstlerischen Handschriften und Herangehensweisen. In der vergangenen Spielzeit hatten wir zum Beispiel an einem Tag auf der grossen Bühne ein klassisches Schauspiel, am nächsten Tag in den Vidmarhallen eine provokative feministische Interpretation einer Alpensaga und wieder einen Tag später den Start mit unserem neuen Format Schauspiel mobil, mit dem wir auch ausserhalb des Theaters im ganzen Kanton spielen wollen. Unter dem gleichen Dach entsteht sehr Unterschiedliches. Wir versuchen bewusst, ein grosses Spektrum an Inhalten und Macharten abzubilden, um so der Komplexität von Welt und Erleben künstlerisch zu begegnen.

Nicholas Carter Vielfalt gibt es auch in der Oper: Wir spannen in der Musik einen weiten Bogen vom Spätbarock bis zu Zeitgenössischem, es gibt Einflüsse aus Amerika, Opern in Deutsch, Französisch und Italienisch – und nicht zu vergessen Musical.

Rainer Karlitschek Das Schöne an der Oper ist für mich, dass hier so ein kosmopolitischer Geist weht. Die Mitglieder der Opernsparte kommen von überall auf der Welt: aus Tonga, Südafrika, Brasilien, Polen, Russland, Italien, Norwegen und der Schweiz. Wir leben alle von der Idee, oder sind sogar getrieben davon, lebendiges Theater zu machen: Theater, das kommuniziert und den Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Was treibt Sie im Schauspiel thematisch in der nächsten Spielzeit um?

Roger Vontobel Die Frage, die sich wie ein roter Faden durch unseren Spielplan zieht, ist die nach der gesellschaftlichen Zukunft: «Wie wollen wir leben?» Das Projekt Hunger. Ein Feldversuch etwa beschäftigt sich mit dem laut UNO grössten lösbaren Problem der Welt, dem Hunger. Es handelt sich dabei um ein Rechercheprojekt, bei dem das Publikum involviert und aktiv beteiligt sein wird. Dabei sind Syngenta und Biobauernhof genauso ein Thema wie die Tatsache, dass fast 80 % der Rohstoffe über die Rohstoffbörse in Genf fliessen. Daneben hat sich die preisgekrönte Schweizer Autorin Martina Clavadetscher in unserem Stückauftrag Bestien, wir Bestien mit der Zukunft unserer Spezies im Ganzen auseinandergesetzt. Gerade die zum Teil schwierigen sozioökonomischen Umstände von werdenden Müttern und jungen Familien in der Schweiz sind in meinen Augen ein klarer Indikator dafür, dass bei uns ein deutlicher politischer Aufholbedarf besteht, vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Auch da stellt sich die Frage: Was ist uns wichtig in unserer Gesellschaft, was ist sie uns wert? Und selbst im Broadway-Erfolgsstück Grand Horizons stellt sich ein 80-jähriges Ehepaar im Altersheim genau diese Frage: «Wie wollen wir leben?» Die Frau, die diese Frage stellt, wird übrigens Heidi Maria Glössner sein.

Die Frage, die sich wie ein roter Faden durch unseren Spielplan zieht, ist die nach der gesellschaftlichen Zukunft: «Wie wollen wir leben?»

Tanz ist aufgrund seiner Form sehr viel abstrakter als Schauspiel und Oper. Das heisst aber nicht, dass diese Disziplin automatisch weniger Relevantes zu bieten hat, oder?

Isabelle Bischof Absolut nicht. Das zeigt zum Beispiel The Loss of Nature, ein spartenübergreifender Tanzabend, bei dem auch das Berner Symphonieorchester und eine Opernsängerin involviert sind. Dort befragen wir das Verhältnis des Menschen zur Natur und den kritischen Punkt, der entsteht, wenn sich der Mensch mit seinem Ego über die Natur stellt. Im Stück werden zwei Perspektiven zweier Choreograf*innen verwoben. Wir beleuchten, wo unser Verhalten gefährlich wird, weil wir mit der Natur eine lebensnotwendige Grundlage zerstören. Zum anderen loten wir aus, wo Hoffnung besteht, diese Natur bewahren zu können.

Wir beleuchten, wo unser Verhalten gefährlich wird, weil wir mit der Natur eine lebensnotwendige Grundlage zerstören.

Mensch und Umwelt im Tanz, gesellschaftliche Missstände im Schauspiel – womit beschäftigt sich die Oper in dieser Saison?

Rainer Karlitschek Auch bei uns steht die Frage nach gesellschaftlichen Grundlagen und dem sozialen Zusammenhalt im Zentrum. Also: Wo ist der Einzelne und wo ist das Wir? In vielen Stücken der kommenden Saison spielt der Krieg eine Rolle. Etwa bei Gioachino Rossinis Oper Guillaume Tell, die nach langer Zeit wieder einmal in Bern gezeigt wird. Wir rücken dabei die Frage in den Fokus, in welchen Situationen Widerstand gerechtfertigt ist. Aufgrund der aktuellen Ereignisse ist das Thema erschreckenderweise noch aktueller geworden, und das ändert auch die Sichtweise auf und die Lesart des Stückes durch unsere Regisseurin Amélie Niermeyer. Und auch die italienische Regisseurin Silvia Paoli wird in Glucks Iphigénie en Tauride den Krieg thematisieren.

Nicholas Carter Einen anderen Aspekt, den wir in der Oper beleuchten, ist die Frage, wer eigentlich sprechen darf. Es gibt in Shakespeares Stück Der Sturm eine weibliche Figur namens Sycorax. Sie wird zwar erwähnt, kommt aber nie zu Wort. Komponist Georg Friedrich Haas hat dieser Figur nun eine Oper gewidmet und daraus eine Hommage an Mollena Williams, Performerin und Aktivistin of Colour, gemacht. Die Debatte, wer sprechen darf, betrifft immer wieder unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, die marginalisiert werden.

Die Debatte, wer sprechen darf, betrifft immer wieder unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, die marginalisiert wurden.

Apropos Stimme erheben: Vier der sieben Opern werden von Regisseurinnen inszeniert werden. Ist das eine bewusste Setzung?

Rainer Karlitschek Wir haben nicht in erster Linie nach weiblich gesucht, sondern nach Personen, die einen Stoff möglichst ideal umsetzen können. Bei vielen Themen ist die jüngere Generation näher am Diskurs dran und sensibilisierter für laufende Debatten. Beispielsweise beschäftigt sich Giulia Giammona, die Sycorax inszeniert, intensiv mit Postkolonialismus. Dass Ewelina Marciniak diese Saison den zweiten Teil von Wagners Opernzyklus Der Ring des Nibelungen auf die Bühne bringen wird, war klar, weil wir die insgesamt vier Teile nicht fragmentiert, sondern mit einer einzigen Handschrift zeigen wollten. Aufgrund seines spielerischen Zugangs zum Theater fanden wir hingegen den international sowohl im Schauspiel und in der Oper gefragten Regisseur David Bösch interessant für unseren Doppelabend Iolanta und L’Enfant et les sortileges. Er bringt seine eigene zwischen Melancholie, Trauer und Hoffnung liegende Welt mit auf die Bühne, die für das Publikum Trost und Empathie bereithält.

Bei vielen Themen ist die jüngere Generation näher am Diskurs dran und sensibilisierter für laufende Debatten.

Nicholas Carter Der Ring des Nibelungen ist die erste Oper, die Ewelina Marciniak umsetzt, und ich finde es inspirierend, dabei sein zu dürfen, weil wir alle sehr viel voneinander lernen können. Ewelina hat einen fantastischen theatralen Instinkt, der uns manchmal sehr überrascht. Sie bereichert die Musiktheater-Welt mit neuen Impulsen und Ideen.

Normalerweise wird der Ring ja an grösseren Opernhäusern

gespielt, wo Sie, Nicholas Carter, fast doppelt so viele Musiker*innen dirigieren würden. Offenbar hat die abgespeckte Version im Berner Stadttheater aber trotzdem noch genug Kraft?

Nicholas Carter Unsere rund 70 Musiker*innen spielen die sogenannte Lessing-Fassung, also eine leicht komprimierte Variante, die oft in Deutschland an mittelgrossen Häusern aufgeführt wird. Diese Fassung passt perfekt zu unserer Orchestergrabengrösse und damit auch zur Akustik in unserem Haus. Wir finden es wichtig, dass das Berner Publikum die Möglichkeit hat, den Ring hier zu sehen und dafür nicht nach Zürich oder München reisen muss. Wagner selber wäre im Übrigen der Erste gewesen, der gesagt hätte, «spielt es einfach». Es gibt Briefe, die genau das bezeugen. Um 1870 herum gab es in meinem Heimatland Australien eine Lohengrin-Aufführung mit gerade mal 20 Leuten im Orchester. Wagner hat sich total darüber gefreut.

Isabelle Bischof, Sie nehmen sich im Tanz in der kommenden Spielzeit eines anderen sehr bekannten Komponisten an: Johann Sebastian Bachs. Warum gerade er?

Isabelle Bischof Bachs Musik ist zeitlos, universell und wortwörtlich grenzenlos. Wir zeigen mit Bach recomposed drei Arbeiten, die sich alle auf unterschiedliche Art und Weise auf Bach beziehen. Es sind zwei Neukreationen für Bern Ballett von Po-Cheng Tsai und Mauro Astolfi, die Bachs Musik mit ihren sehr individuellen Tanzsprachen zusammenbringen. Zudem ist es uns gelungen, einen Klassiker des zeitgenössischen Tanzes nach Bern zu holen. Die kanadische Grande Dame des Tanzes Marie Chouinard nähert sich Glenn Goulds legendären Goldberg-Variationen mit Tanz auf Spitzenschuhen, dessen Fragilität und Stilisiertheit sie mit dem Einsatz von Gehhilfen bricht. Es geht hier um Begriffe wie Schönheit und Vollkommenheit – und unsere Definition davon.

Roger Vontobel, bei Ihrem Amtsantritt haben Sie gesagt, dass es Ihnen wichtig sei, dass das Stadttheater ein Haus für die Stadt und das Theater ein Theater für die Bevölkerung sei. Haben Sie denn auch die Berner*innen schon rumgekriegt?

Roger Vontobel Das müssen vielleicht die Berner*innen beantworten. Es haben sich aber schon sehr schöne Begegnungen ergeben. Das ist für mich auch Sinn und Zweck von Theater: zusammenkommen und sich ein paar Stunden lang gemeinsam mit etwas auseinandersetzen. Wir werden unsere Versuche der Vernetzung und Öffnung auf alle Fälle weiterführen. In dieser Spielzeit kooperieren wir mit unterschiedlichsten Berner Institutionen, mit der Camerata Bern, dem Reportagen-Magazin, dem Kino Rex, dem Kornhausforum und der Heitere Fahne, wo im Ambiente einer heiteren Chilbi unser nächstes mobiles Stück La Strada entstehen wird, mit dem wir danach wiederum in den Kanton reisen werden. Diese Openair-

Aufführung soll ein Kick-Off sein für eine Reihe von Kooperationen mit dieser Institution, die wir wichtig und grossartig finden.

Sie haben nächste Spielzeit auch Stücke im Programm, die

für Berner*innen besondere Anknüpfungspunkte bieten, Das Bernbuch etwa. Hätten Sie es auch ins Programm genommen,

wenn Sie an einem anderen Haus arbeiten würden?

Roger Vontobel In einer anderen Stadt hätte sich womöglich ein anderer Text eher angeboten. Wir wollen ja gerade hier die Geschichten aufnehmen, die mit dieser Stadt verknüpft sind. Der afroamerikanische Schriftsteller Vincent O. Carter kam in den 1950er-Jahren nach Bern und schildert in seinem Buch seine Streifzüge durch die Stadt. Gleichzeitig ist es aber auch eine Reflexion über die Vorurteile und gesellschaftlichen Strukturen der damaligen Zeit, die bis in die Gegenwart hinein wirken. Das Bernbuch koppelt eine historische Perspektive mit einer jetzigen, brandaktuellen Diskussion: Wer wirft welche Blicke? Wer ist Blicken ausgesetzt und was sagt dies aus über unser Verhältnis zu gesellschaftlicher Vielfalt?

Isabelle Bischof, die Vorführungen von Bern Ballett sind immer so ausnehmend gut besucht, dass es schwierig sein kann, einen guten Platz zu ergattern. Warum ist das so?

Isabelle Bischof Ich denke, es hat damit zu tun, dass wir viele verschiedene Tanzsprachen sprechen und dass Bewegung ein Passepartout der Kommunikation ist. Ausserdem gehen unsere Tänzer*innen mit sehr viel Herzblut und Sinnlichkeit zur Sache. Das berührt und spricht vor allem auch ein jüngeres Publikum an. Ich glaube auch, dass das Publikum nach jahrelangem Aufbau und Kontinuität sehr viel Vertrauen hat in das, was wir zeigen. Die Leute wissen, dass ihnen hohe Qualität geboten wird und kommen schon nur deswegen gerne.

Sie sind in die Fussstapfen von Estefania Miranda getreten, die fast 10 Jahre lang die Sparte Tanz geprägt hat. Es sind sehr grosse Fussstapfen, die es da auszufüllen gilt. Fluch oder Segen?

Isabelle Bischof Natürlich ein Segen! Ich habe zuvor vier Jahre an der Seite von Estefania Miranda gearbeitet und viel von ihr gelernt. Sie hatte immer ein sehr gutes Gespür dafür, was ein Stück leisten muss und wie sich das mit den Fähigkeiten der Tanz-Compagnie verknüpfen lässt, sodass sich diese stetig weiterentwickeln kann.

Als Kinder- und Familienstück steht Momo, ein Stück des freien

Kollektivs VOR ORT auf dem Programm. Wie kommt es dazu?

Roger Vontobel: Momo kommt ja aus der Spielzeit unserer Vorgänger*innen und wäre beinahe der Pandemie zum Opfer gefallen. Wir haben uns entschieden, das Stück zu übernehmen und in der Originalbesetzung zu zeigen, denn die Inszenierung war fertig geprobt, die Bühne gebaut und die Kostüme genäht. Aus eben diesem Bestreben nach mehr Nachhaltigkeit ist eine weitere Idee entstanden, die uns die Dramatisierung des Bestsellers Identitti aus Freiburg nach Bern bringt. Wir haben gemeinsam mit dem Förderprojekt m2act des MigrosKulturprozent das Projekt x-change ins Leben gerufen und werden mit dem Theater Freiburg und dem Theater Winkelwiese in Zürich drei Jahre lang Produktionen «teilen» und das Ganze auf Nachhaltigkeitsaspekte extern analysieren lassen. Wir müssen unsere eigenen Strukturen hinterfragen und unsere Ressourcen besser einteilen, damit wir das Theater an sich auch in Zukunft noch erleben können.

Was wünschen Sie sich für die kommende Spielzeit?

Roger Vontobel Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen möglichst viele Erlebnisse bei uns haben werden. Eine kollektive Energie, die durch unser Haus wieder in die Stadt zurückfliesst und im Kleinen Perspektiven verändert, das wünsche ich mir. Mehr kollektives Erleben!

Nicholas Carter Roger hätte es nicht besser formulieren können. Zudem: Wir haben sehr viele grossartige junge Sänger*innen im Haus, die sich bei uns Bühnenerfahrung aneignen. Das ist eine enorm wichtige Zeit, und ich möchte mithelfen, diesen Menschen eine möglichst umfassende Ausbildung auf den Weg zu geben.

Rainer Karlitschek Es ist ein Ausdruck unserer Freiheit, dass wir Theater machen und besuchen können. Unsere Gesellschaft stellt das Theater der Gemeinschaft zur Verfügung, damit sich dort das freie Spiel der Kreativität entfalten kann. Das ist selbst schon ein politischer Akt. Das möchte ich erfahrbar machen. Ausserdem hat Schiller gesagt, dass der Götterfunke, der uns zu etwas Besonderem machte, die Freude sei. Wenn diese Freude mit Freiheitsbewusstsein gekreuzt wird, dann ist ganz viel gewonnen.

Isabelle Bischof Sich im Theater mit etwas zu beschäftigen, sich zu identifizieren, etwas aufzusaugen und schliesslich durch Sinnlichkeit berührt zu werden und danach das Verlangen zu haben, wiederzukommen, weil’s einen berührt hat: Diese Erfahrung möchte ich ganz vielen Menschen bescheren.

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