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Die Auswirkungen von Atomwaffen auf Kinder
Ein Report der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN)
Atomwaffen sind dazu bestimmt, Städte zu zerstören, ganze Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen zu töten, darunter auch Kinder. Bei einem Atomangriff ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder sterben oder schwere Verletzungen erleiden, größer als bei Erwachsenen, weil sie empfindlicher auf die Auswirkungen von Atomwaffen – Hitze, Explosion und Strahlung – reagieren. Die Tatsache, dass Kinder in ihrem Überleben von Erwachsenen abhängig sind, bedeutet für sie auch ein höheres Risiko, nach einem Atomangriff zu sterben und in Not zu geraten, da ihre Unterstützungssysteme zerstört sind.
Zehntausende von Kindern wurden getötet, als die USA 1945 zwei nach heutigem Standard relativ kleine Atomwaffen über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki abwarfen. Viele Menschen wurden auf der Stelle zu Asche und Dampf. Andere starben unter Qualen Minuten, Stunden, Tage oder Wochen nach den Angriffen an Verbrennungen, Explosionsverletzungen oder an der akuten Strahlenkrankheit. Unzählige weitere starben Jahre oder sogar Jahrzehnte später an strahlenbedingten Krebserkrankungen und anderen Krankheiten. Vor allem erkrankten viele Menschen, die zum Zeitpunkt der Explosionen Kinder oder Jugendliche waren, später an Leukämie.
In Hiroshima und Nagasaki waren die Szenen der Verwüstung apokalyptisch. (…) In einigen der Schulen in der Nähe des Explosionsortes war die gesamte Schülerschaft von mehreren Hundert Kindern innerhalb eines Augenblicks tot. In anderen gab es nur wenige Überlebende. In Hiroshima arbeiteten am Morgen des Angriffs Tausende von Schüler*innen im Freien, um Brandschneisen zu schlagen. Etwa 6.300 von ihnen wurden getötet.
Die Kinder, die durch Zufall dem Tod entkamen, trugen für ihr ganzes Leben schwere körperliche und seelische Narben davon. Das, was sie am 6. und 9. August 1945 und in den Tagen danach gesehen und erlebt haben, hat sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Tausende von Kindern verloren einen oder beide Elternteile und auch Geschwister. Einige von ihnen wurden auf der Straße zurückgelassen, denn die Waisenhäuser waren überlastet.
Viele Ungeborene, die sich zum Zeitpunkt der Atombombenabwürfe im Mutterleib befanden, wurden durch die ionisierende Strahlung ebenfalls geschädigt. Sie hatten ein höheres Risiko, kurz nach der Geburt zu sterben oder an angeborenen Anomalien wie Hirnschäden und Mikrozephalie zu leiden sowie im späteren Leben an Krebs und anderen Krankheiten.
Bei schwangeren Frauen in Hiroshima und Nagasaki gab es außerdem eine höhere Rate an Fehl- und Totgeburten. In Gemeinschaften auf der ganzen Welt, die dem Fallout von Atomtests ausgesetzt waren, haben Kinder ähnliche Strahlenschäden erlitten.
Seit 1945 haben Atomwaffenstaaten über 2.000 Atomtests an Dutzenden von Orten durchgeführt und dabei radioaktives Material weiträumig verstreut. Von der allgemeinen Bevölkerung sind Kinder und Kleinkinder am stärksten betroffen, da sie für die Auswirkungen ionisierender Strahlung besonders anfällig sind. Bei Kleinkindern ist das Risiko, bei einer bestimmten Strahlendosis langfristig an Krebs zu erkranken, drei- bis fünfmal höher als bei Erwachsenen. Mädchen sind dabei besonders gefährdet.
Auf den Marshallinseln, wo die USA 67 Atomtests durchführten, spielten Kinder in der radioaktiven Asche, die vom Himmel fiel, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein. Sie nannten ihn „BikiniSchnee“ – eine Anspielung auf das Atoll, wo viele der Tests stattfanden. Er verbrannte ihre Haut und Augen, und sie entwickelten schnell Symptome akuter Strahlenkrankheit.
Jahrzehnte nach den Tests brachten die Frauen auf den Marshallinseln in ungewöhnlich hoher Zahl schwer missgebildete Kinder zur Welt. Diejenigen, die lebend geboren wurden, überlebten selten mehr als ein paar Tage. Einige hatten eine durchscheinende Haut und keine erkennbaren Knochen. Man nannte sie „Quallenbabys“, denn sie waren kaum als Menschen zu erkennen. Ähnliches berichteten Menschen, die in Windrichtung oder flussabwärts von Atomtestanlagen in den USA, Kasachstan, Ma‘ohi Nui, Algerien, Kiribati, China, Australien und anderswo leben.
Wir haben die kollektive moralische Pflicht, das Andenken an Tausende von Kindern zu bewahren, die in Hiroshima und Nagasaki getötet wurden – ebenso wie an jene, die durch die Entwicklung und Erprobung von Atomwaffen weltweit zu Schaden kamen. Und wir müssen das Ziel einer atomwaffenfreien Welt mit Entschlossenheit und Dringlichkeit verfolgen, damit es nicht noch mehr Opfer gibt, weder junge noch alte.
Nach dem humanitären Völkerrecht und der UN-Kinderrechtskonvention sind die Regierungen rechtlich verpflichtet, Kinder vor Schaden in bewaffneten Konflikten zu schützen. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, ist es zwingend erforderlich, dass sie jetzt zusammenarbeiten, um die Geißel der Atomwaffen aus der Welt zu schaffen.
In unserem Report beschreiben wir anhand der Erfahrungen von Kindern in Hiroshima und Nagasaki und von Kindern, die in der Nähe von Atomtestgeländen leben, wie schädlich Atomwaffen für Kinder sind. Wir berichten aus erster Hand und schildern, wie Atomwaffen ihr Leben beeinträchtigen. Und wir erläutern, wie die allgegenwärtige Angst vor einem Atomkrieg – die Möglichkeit, dass jederzeit ganze Städte zerstört werden könnten – bei Kindern psychische Schäden verursacht.
Abschließend richten wir einen dringenden Appell an alle Regierungen, heutige und künftige Generationen von Kindern durch die Abschaffung von Atomwaffen zu schützen, und zwar durch den UN-Atomwaffenverbotsvertrag, der 2021 in Kraft getreten ist.
Wichtigste Erkenntnisse des Reports:
Solange es Atomwaffen auf der Welt gibt, besteht ein reales Risiko, dass sie wieder eingesetzt werden, und dieses Risiko scheint gegenwärtig zuzunehmen. Im Falle eines Atomwaffeneinsatzes ist es so gut wie sicher, dass viele Tausende – vielleicht sogar Hunderttausende Kinder – unter den Toten und Verletzten zu finden wären. Sie wären auf besondere Weise und viel stärker betroffen als der Rest der Bevölkerung.
Bei einem atomaren Angriff wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder sterben, größer als bei Erwachsenen, denn sie würden:
» an Verbrennungen sterben, da ihre Haut dünner und empfindlicher ist und tiefer, schneller und bei niedrigeren Temperaturen verbrennt;
» an Explosionsverletzungen sterben, da ihr kleinerer Körper empfindlicher ist;
» an akuter Strahlenkrankheit sterben, da sie mehr Zellen haben, die schnell wachsen und sich teilen, und daher wesentlich anfälliger für Strahlungseffekte sind;
» Jahre später an Leukämie, soliden Krebsarten, Schlaganfällen, Herzinfarkten und anderen Krankheiten leiden, weil die Strahlung ihre Zellen geschädigt hat;
» Entbehrungen in der Zeit nach den Angriffen sowie psychische Traumata erfahren, sowie psychische Störungen bis hin zum Selbstmord.
» Kinder sind nicht in der Lage, sich aus eingestürzten und brennenden Gebäuden zu befreien oder andere Maßnahmen zu ergreifen, die ihre Überlebenschancen erhöhen würden.
Darüber gibt es bei Ungeborenen ein höheres Risiko für:
» einen frühzeitigen Tod;
» Mikrozephalie, begleitet von geistiger Behinderung, da das sich entwickelnde Gehirn besonders anfällig für Strahlenschäden ist;
» andere Entwicklungsanomalien;
» Wachstumsstörungen aufgrund der verminderten Funktion der Schilddrüse und
» Krebserkrankungen und andere strahlenbedingte Krankheiten in der Kindheit oder im späteren Leben.
Diese erschreckenden Tatsachen sollten tiefgreifende Auswirkungen auf die Politik in den Ländern haben, die derzeit Atomwaffen besitzen oder die ihre Beibehaltung im Rahmen von Militärbündnissen unterstützen. Sie sollten auch Organisationen, die sich für den Schutz von Kindern und die Förderung ihrer Rechte einsetzen, dazu veranlassen, sich mit der ernsten globalen Bedrohung durch Atomwaffen zu befassen. Kinder waren nicht an der Entwicklung dieser Weltuntergangswaffen beteiligt. Doch sie sind es, die im Falle ihres künftigen Einsatzes am meisten leiden würden – einer der unzähligen Gründe, warum diese Waffen dringend abgeschafft werden müssen.
Den ICAN-Report „The Impact of Nuclear Weapons on Children“ finden Sie unter: www.icanw.org/children
Warnhinweis: Der Bericht enthält u.a. Darstellungen schwerer Gewalt gegen Kinder, die verstörend wirken können.
Tim Wright ist Vertragskoordinator der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und fördert den Beitritt von Staaten zum Atomwaffenverbotsvertrag. Er unterstützt ICAN, seit die Kampagne 2006 in Australien gegründet wurde.