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Hygiene in der Langzeitpflege Balance zwischen Schutz und Lebensqualität

Hygiene in der Langzeitpflege

Balance zwischen Schutz und Lebensqualität

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Lena Zumsteg

Welche Wege schlagen Hygieneexpertinnen und -experten in der Praxis und in der Wissenschaft ein? Wie gelingt es, Mitarbeitende in Akutspitälern und Langzeitpflegeinstitutionen für Hygienethemen zu sensibilisieren? Das dritte Hygienesymposium der Pflegezentren der Stadt Zürich führte Fachleute zusammen.

Referentinnen und Referenten sprachen über praxisbezogene Herausforderungen und den Fortschritt in der Wissenschaft. Spannende Vorträge, interessanter Austausch und besetzte Stühle im Pflegezentrum Gehrenholz zeigten, dass der Hygiene-Diskurs gewünscht und nötig ist.

Wer sich seit jeher mit der Hygiene befasst, ist der Zürcher Stadtarzt. In diesem Jahr feiert der Stadtärztliche Dienst in Zürich sein 700-Jahr-Jubiläum. „Mit der Umsetzung von Hygienemassnahmen im 19. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung rasant an“, eröffnet Gabriela BieriBrüning, Stadtärztin und Chefärztin der Pflegezentren der Stadt Zürich, das Symposium. Mit der steigenden Lebenserwartung und der medizinischen Entwicklung steigt auch die Anzahl chronisch erkrankter Menschen. Die Übertragung einer Infektionskrankheit zu verhindern, hat deshalb auch in der Langzeitpflege oberste Priorität.

Schnellere Gewissheit

Hanspeter Hinrikson, Spezialist für Labormedizin FAMH der Laborgemeinschaft 1, stellt ein modernes Verfahren vor, mit dem man anhand der Erbsubstanz der Erreger innert kürzester Zeit beurteilen kann, ob eine Durchfallerkrankung infektiös ist oder nicht. Mit der PCR-Methode (Polymerase-Kettenreaktion) könne man die häufigsten Durchfallerreger auf einmal testen. „Die Erbsubstanz der Erreger wird dabei vervielfältigt und in weniger als zwei Stunden steht das Resultat zur Verfügung“, erklärt Hinrikson. Definierte Hygienemassnahmen in der Pflegeinstitution des Betroffenen können damit sehr zeitnah umgesetzt werden. Christian Strübi, leitender Arzt im städtischen Pflegezentrum Gehrenholz, bestätigt in einem Fallbeispiel die Gewinnung des Materials für die PCR-Methode in der Praxis. „Sie vereinfacht viel und lässt uns schneller handeln.“ „Wir finden aber auch Keime, die wir nicht gesucht haben, und müssen das Resultat interpretieren“, ergänzt Strübi.

Multiresistente Keime fordern die Hygiene heraus

„Bakterien reisen sehr gerne und billig“, sagt Gerhard Eich, Abteilungsleiter Infektiologie, Spitalhygiene und Personalmedizin in den Stadtspitälern Waid und Triemli. Und das ist ein Problem. Zum Beispiel multiresistente Darmbakterien, die ESBL (Extended Spectrum-Beta-Lactamase) produzieren. ESBL ist ein Eiweiss, das mehrere wichtige Antibiotika zerstört. Schnell verbreitet und kaum zu behandeln, fordert es die Hygiene zusätzlich heraus. „Im Spital ist eine kurzfristige Isolation der erkrankten Person möglich und zielführend, in der Langzeitpflege aber mindert es die Lebensqualität des Betroffenen“, führt Eich aus. Auch die Pflegezentren der Stadt Zürich haben sich deshalb dafür entschieden, keine strengen Isolierungsrichtlinien bei multiresistenten Erregern einzuführen. „Wir legen mit unserer Hygienestrategie den Schwerpunkt auf die strenge Einhaltung der Basishygiene“, sagt Beatrix Wozny, Fachexpertin Infektionsprävention in den

Fotos: zVg.

Über die Hygiene im Spitex-Alltag informieren Erika Muggli und Simone Jäger.

Gerhard Eich spricht über multiresistente Darmbakterien, die Antibiotika zerstören können.

Pflegezentren der Stadt Zürich. Basishygiene gilt immer, „bricht ein Norovirus aus, werden gewisse Massnahmen angepasst und spezielle Isolationsmassnahmen durchgeführt.“

Eine Schauspieleinlage auf der Bühne zeigt sehr schön, mit welchen hygienischen Herausforderungen die Pflege im Alltag konfrontiert ist. Der multimorbide Bewohner mit Demenz berührt den verschmutzten Verband, zittert, greift gar in die Wunde und will keinen neuen Verband. „In solchen Situationen muss man individuell auf den Bewohner eingehen. Ihn ablenken, mit ihm sprechen und seine Anliegen ernst nehmen“, ergänzt Wozny. Schliesslich sei es immer ein Kompromiss zwischen Schutz und Lebensqualität.

Auch die Spitex begegnet in ihrem Alltag Hygienehürden, gerade bei MRSA-Betroffenen. Die beiden Hygieneverantwortlichen Erika Muggli, Spitex Zürich Limmat Zentrum Altstetten, und Simone Jäger, Spitex Zürich Sihl Zentrum Wipkingen-Industrie, machen deutlich: Bei ihnen kommt noch der logistische Aufwand des Hygienematerials hinzu. Zu viel Hygienematerial im Einsatz zu haben, ist oft kontraproduktiv: Übervorsicht kann die Kunden irritieren, weshalb auch die Spitex auf die Standardhygienemassnahmen setzt. „Wichtig ist auch, dass immer dieselben Massnahmen beim gleichen Kunden / bei der gleichen Kundin ergriffen werden. Trägt eine Pflegefachperson einen Mundschutz, die nächste aber nicht, können das die Kunden nicht nachvollziehen“, ergänzt Muggli.

Winterzeit ist Grippezeit

Passend zur Saison ging Stefan Kuster, leitender Arzt in der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene im Universitätsspital Zürich, auf die nosokomiale Influenza ein, eine Grippeinfektion, die erst im Spital erworben wird und sich unter Umständen bei multimorbiden Patienten nicht so offensichtlich präsentiert wie eine „normale“ Influenza. „Die nosokomiale Influenza tritt im selben Zeitraum auf wie die Grippe ausserhalb des Spitals und man sollte immer frühzeitig daran denken, auch bei atypischen Symptomen“, sagt Kuster. Eine Grippeimpfung des Spitalpersonals ist für ihn wichtig und richtig. „Für einen guten Schutz der Gesamtbevölkerung müssten aber auch die Menschen ausserhalb des Spitals geimpft sein“, ergänzt er. Dann könne man nicht nur die Grippefälle in der gesamten Bevölkerung und sekundär auch im Spital reduzieren, sondern es würden auch Gesundheitskosten gespart und Arbeitsausfälle minimiert.

In der Theorie ist das alles nachvollziehbar. In der Schweiz hapert es aber nach wie vor an der Bereitschaft, sich auch tatsächlich impfen zu lassen. „Wie kann man Influenza-Präventionen im Spital optimal implementieren?“, fragt sich deshalb das Team um Dunja Nicca, Assistenzprofessorin für Pflegewissenschaft am Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Basel. In einer umfassenden Studie stellt sie fest, dass keine Massnahme allein das Problem löst und dass der Diskurs über die Prävention im Ungleichgewicht steht: „Es gibt beim Spitalpersonal zwar eine gemeinsame Wertehaltung, dass man die Patienten schützen will. Die Impfung wird jedoch als Privatsache angesehen, der Austausch fehlt weitgehend“, sagt Nicca. Doch genau dieser Diskurs sei für die Meinungsbildung, ob man sich impfen lassen soll oder nicht, sehr wichtig.

Weitere Hygieneherausforderungen

Auch die Kleinen waren grosses Thema am Hygienesymposium: die Milben. Sie lösen die äusserst juckende Hautkrankheit Krätze, Scabies genannt, aus. In Altersheimen und Pflegeeinrichtungen ist vor allem die Scabies crustosa wegen der hohen Ansteckungsgefahr ein Problem. Sie wird oft übersehen, „weil immunsupprimierten Menschen die Immunreaktion fehlt und sie deshalb keinen Juckreiz verspüren“, erklärt Siegfried Borelli, leitender Arzt des dermatologischen Ambulatoriums im Stadtspital Triemli. Dann kann sich die Milbe wunderbar verbreiten. Wird sie endlich entdeckt, beginnt eine Reihe von Hygienemassnahmen und eine aufwändige Behandlung. „Denn es müssen alle Kontaktpersonen zeitgleich behandelt und untersucht werden.“ Für gesunde Menschen ist es eine lästige Krank-

„Auch bei atypischen Symptomen sollte man an eine nosokomiale Influenza denken“, mahnt Stefan Kuster.

heit, für immunsupprimierte Patientinnen und Patienten kann sie schlimme Folgen haben.

Hingegen sind Handekzeme hauptsächlich für das Personal ein Problem. „Wir unterscheiden zwischen irritativtoxischen und kontaktallergischen Reaktionen“, sagt Peter Schmid-Grendelmeier, leitender Arzt der dermatologischen Klinik am Universitätsspital Zürich. Während bei Ersterer eine Reaktion ausgelöst wird, weil man wiederholt mit einer irritativen Substanz (z. B. Desinfektionsmittel) in Kontakt kommt, ist Letztere eine allergische Reaktion auf eine bestimmte Substanz. Das häufige Händedesinfizieren kann bei empfindlichen Personen eine irritativ-toxische Reaktion auslösen. Beide Reaktionsmuster können dazu führen, dass Betroffene sogar ihren Beruf wechseln müssen. „Die Hände der Pflegenden sind auch wichtig für die Menschen, die sie pflegen“, sagt Schmid-Grendelmeier, „deshalb ist die Hautpflege das A und O und sollte immer mild und so häufig wie möglich ausfallen.“

Auf den Punkt bringen

Den Abschluss des Hygienesymposiums macht der SlamPoet Michael Frei. Sein Text bringt den Tag auf den Punkt: „Die kleinen Sachen sind die schlimmsten“, trägt er vor und meint damit Bakterien, Grippeviren und andere Erreger. Obwohl die Leute immer von den grossen Dingen reden. Wir Menschen hätten von den falschen Sachen Angst: vor Haifischen statt Influenza. „Wenn wir schon nicht verhindern können, dass wir die kleinen Sachen nicht verhindern können, dann sollten wir uns wenigstens um die Hygiene kümmern.“ Damit anerkennt auch Frei die Wichtigkeit der Hygiene in der Langzeitpflege. Und für die Gastgeber, das Pflegezentrum Gehrenholz, bestätigt sich an diesem Tag der Eindruck: Der Austausch ist wichtig. Deshalb findet am 27. Oktober 2020 das nächste und 4. Hygienesymposium statt.

Link zu den Präsentationen: www.tinyurl.com/3-hygienesymposium-zuerich

Lena Zumsteg

Fachstelle PR / Kommunikation, Pflegezentren der Stadt Zürich

www.stadt-zuerich.ch/pflegezentren

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