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Vom Grenzgänger zum Demonstranten

Von Josef Brems

Weil mein Vater im Zweiten Weltkrieg deutscher Soldat war, lernte ich schon in früher Kindheit ein Leben mit Verfolgung, Bespitzelung und Hausdurchsuchungen kennen. Schon in der Jugend war es mein Ziel, Rumänien in Richtung Deutschland eine neue Heimat zu suchen. Aus diesem Grund besorgte ich mir nach meinem 18. Geburtstag die Einreisegenehmigung in die Bundesrepublik. Meine Ausreiseanträge wurden zurückgewiesen. Die Jahre vergingen, ohne dass ich etwas erzielt hätte. Ich verfolgte die politischen Veränderungen und war froh, mir die Josef Brems Schlussakte von Helsinki besorgen zu können. Mit diesem Band ging ich ab sofort zu den Audienzen ins Passamt, bis man mich nicht mehr empfangen hat. 1977 habe ich meine Korrespondenz mit dem Radiosender „Freies Europa“ in München begonnen. Ich schrieb Briefe in rumänischer Sprache, die in den Sendungen vorgelesen wurden. Deswegen musste ich zweimal Geldstrafen bezahlen, das erste Mal 500 und das zweite Mal 5000 Lei. Weil die Radiosendungen mir auch nicht weitergeholfen haben, suchte ich einen anderen Weg, um die Ausreise zu erzwingen. Ich plante etwas Spektakuläres. Ich kannte weitere Personen, die sich in der gleichen Lage befanden wie ich. Verbindung habe ich aufgenommen zu Rudolf Becker (heute in Frankenthal zu Hause), Helga Frank (Augsburg) und Maria Steyer (Karlsruhe). Die drei waren sofort einverstanden, mit nach Bukarest zu fahren und zu demonstrieren. Ich fertigte ein Spruchband an mit einem rumänischen Text. In deutscher Übersetzung lautet er: „Wir, die Gruppe von vier Deutschen aus dem Banater Land, fordern für uns und unsere Familien Ausreisepässe oder den Tod.“ Unser Vorhaben teilte ich auch dem Sender „Freies Europa“ mit. Helga Franks Schwester, die schon in Deutschland lebte, war zufällig zu Besuch in Marienfeld. Sie hat den Brief mitgenommen und in Deutschland in die Post gegeben. Der Brief wurde am 28. Juli 1978 in den Abendnachrichten vorgelesen. Wir vier waren schon am 27. Juli nach Bukarest gefahren, sprachen in der deutschen und in der US-Botschaft vor, teilten unser Vorhaben mit, aber niemand konnte uns Unterstützung zusagen. Am 28. Juli um 14 Uhr rollten wir

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unser Spruchband aus. Wir standen still wie Statuen vor dem Hotel Intercontinental gegenüber der Bukarester Universität. Nach acht Minuten kamen an die 20 Polizisten mit mehreren Wagen. Sie brachten uns in einem geschlossenen Auto zum Polizeisitz des ersten Bukarester Bezirks. Polizisten befragten und beschimpften uns, sie nannten uns Chaoten, sie sprachen von einer Schandtat. Sie protokollierten alles und warfen uns in einen Raum zu Kriminellen, wo wir bis zum nächsten Morgen blieben. Mit einem Wagen wurden wir in ein großes Gebäude gefahren, wo wir mit Stadtstreichern, leichten Mädchen und Kriminellen zusammen waren. Alle wurden der Reihe nach aufgerufen und abgeführt, um nach kurzer Zeit wieder zurückzukommen. Als letzte waren wir vier Demonstranten dran. Man brachte uns zusammen in einen Raum im ersten Stock. Zwei Frauen fragten nach Namen, Beruf und Herkunft. Sie wollten auch wissen, was uns zu demonstrieren veranlasst habe. Nach der Vernehmung kamen wir in den Keller. Kurz danach wurden wir mit den anderen in den Gerichtssaal getrieben. Erst dann war uns klar, wo wir waren. Die Frau, die uns befragt hatte, gab jedem sein Urteil bekannt. Wir waren sprachlos, als man uns wegen „Parasitismus, als Mitglieder einer anarchistischen Gruppierung“ verurteilte. Helga Frank und Maria Steyer wurden zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, Rudolf Becker und ich zu drei. Ich wollte wissen, wer oder welches Gericht uns verurteilt hat, denn ich habe weder einen Richter noch einen Staatsanwalt gesehen. Ich fragte, wo hier die Gerechtigkeit bleibe. Ich bekam jedoch keine Antwort. Ich fragte, wie es nun weitergehen soll, denn unsere Strafe könne auf drei Arten abgegolten werden: durch Bezahlen eine Geldbetrags, durch unbezahlte Arbeit an der alten Arbeitsstelle oder durch Gefängnis. Die Antwort darauf war, das müsse die Polizei des Landkreises festlegen. Bis dahin blieben wir entsprechend dem Urteil in Haft. Wir wurden nach Temeswar überführt, wo ich sofort um Vorsprache beim Polizeichef gebeten habe. Am nächsten Morgen kam der Chef persönlich in meine Zelle und sagte höhnisch, wir müssten unsere Strafen absitzen, dies sei der Lohn für „unsere Tat“. Das fordere auch unser Bürgermeister, der der Meinung sei, wir hätten eine beispielhafte Strafe verdient. Nach einer Woche wurden wir ins Temeswarer Gefängnis verlegt, wo wir weitere Gesinnungsgenossen getroffen haben, die ihre Ausreise durch Hungerstreik erzwingen wollten. Es waren Leute aus Temeswar, Arad, Lugosch und Reschitz. Wir waren an die 40 Mann. Tagsüber wurden wir in einen etwa 20 Quadratmeter großen Raum über der Küche gesperrt, in dem die Temperatur auf mehr als 35 Grad stieg. Nachts waren wir in einem kalten Raum in einem anderen Bau untergebracht. Drei Wochen lang konnten wir uns nicht waschen, es gab nur einen Hahn, aus dem kaltes Wasser floss. Täglich wurde nur darüber gesprochen, wie der Kampf nach der Freilassung weitergehen soll. Nach einem Monat wurde ich mit weiteren fünf Personen in eine Zelle im Polizeigebäude

gebracht. Darunter war ein Marienfelder, der wegen Unterschlagung einsaß und als Spitzel bekannt war. Er wollte ständig von mir wissen, was ich nachher vorhabe. Ich erzählte ihm Märchen. Nach drei Monaten wurde ich auf die Straße gesetzt, ohne einen Entlassungsschein erhalten zu haben, der das Beweismittel dafür gewesen wäre, dass ich drei Monate lang gesessen habe. Man schob mich mit Gewalt auf die Straße. Kurze Zeit nach meiner Entlassung hat mich Oskar Krachtus angesprochen, ob ich mit über die Grenze wolle. Für mich und meine Frau sollte ich 20 000 Lei bezahlen. Oskar Krachtus kannte einen Grenzsoldaten, der bei ihm ein- und ausging. Wir trafen uns am 21. Januar 1979 bei Krachtus im Haus in Albrechtsflor. Der Treffpunkt an der Grenze wurde mit dem Soldaten abgesprochen, er erhielt die Hälfte des versprochenen Geldes. Er gab Krachtus im Gegenzug als Garantie ein Bestandteil seiner Maschinenpistole. Wir trafen den Soldaten um 1 Uhr, er führte uns in Richtung Grenze. Plötzlich schrie er in die Nacht: „Handelt“. Im nächsten Augenblick waren wir von Soldaten umstellt. Sie schossen, wir mussten uns zu Boden werfen, die Soldaten hetzten vier Hunde auf uns. Die Hunde haben aber nicht gebissen, weil sich keiner von uns gerührt hat. Die Grenzer haben uns die andere Hälfte des Bestechungsgeldes und das Bestandteil der Maschinenpistole abgenommen. Prügelnd brachten sie uns zum Grenzerstützpunkt nach Großsanktnikolaus, wo wir verhört wurden. Von dort ging es nach Temeswar, wo wir unterschreiben mussten, keinen Fluchtversuch mehr unternehmen zu wollen. Wir wurden zu Geldstrafen von 2000 Lei verurteilt und auf freien Fuß gesetzt. Am nächsten Tag wurde im Marienfelder Rathaus eine große Sitzung veranstaltet, zu der aus jedem Betrieb mehrere Personen eingeladen waren. Dabei waren ein hoher Geheimdienstmitarbeiter und die örtlichen Polizisten. In der Sitzung hat mich der Bürgermeister in den Dreck gezogen und gesagt, es sei unverantwortlich, mich frei umherlaufen zu lassen. Nach der Sitzung wurden Oskar Krachtus und ich abgeholt. Wegen Schmiergeldzahlung wurden wir verurteilt: Oskar Krachtus zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis und ich zu einem Jahr. Wegen guter Führung wurde ich am 30. Juli 1979 aus dem Temeswarer Gefängnis entlassen. Am 22. August hat man mir die Antragspapiere vor die Nase geworfen und mich zum Teufel geschickt. Am 9. Februar 1980 konnte ich nach vielen Schikanen das Land verlassen. Ein 20 Jahre währender Kampf, der mich geprägt hat, war zu Ende.

Josef Brems wurde am 22. Mai 1942 in Albrechtsflor geboren, aufgewachsen ist er in Marienfeld, wo er auch die Volksschule besucht hat, und zwar in einer Klasse mit dem späteren Handball-Idol Hansi Schmidt vom VfL Gummersbach. Er ist heute in Frankenthal zu Hause. In Marienfeld war er Buchhalter, in Deutschland Industriefachwirt in einem Maschinenbaubetrieb.