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Das Wunder Europa: In dubio pro libertate

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Zypern

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Dr. Arpad-Andreas Sölter, Leiter des Goethe-Instituts Schweden

Der Zusammenhalt in Europa, der Austausch über die gemeinsame Geschichte und verbindende Werte genießen im Goethe-Institut als deutschem Kulturinstitut mit europäischer Perspektive eine hohe Priorität. Dies motiviert, uns im Rahmen einer Assoziation der europäischen Kulturinstitute (EUNIC) für die Gestaltung des künftigen Europas zu engagieren. Indem wir die Entstehung des mehrsprachigen europäischen Bürgers fördern, verstehen wir uns als Vermittler des europäischen Gedankens. Zugleich streben wir neben der Präsentation zeitgenössischer Positionen danach, auch die kulturellen Schätze der Vergangenheit zu revitalisieren. Denn Herkunft ist Zukunft. Doch ist die Strahlkraft des in Europa erschaffenen Wertekanons überhaupt ungebrochen? Zwei Anekdoten sollen mögliche Antworten auf diese Frage veranschaulichen.

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Europa stehe auf der Anklagebank, so eröffnet eine Brasilianerin die internationale Diskussion über europäische Werte während einer Abendveranstaltung im Goethe-Institut Stockholm. Es sei nicht mehr zu verteidigen. Angesichts seiner entsetzlichen Geschichte von Gewalt fordere sie die Höchststrafe für die begangenen Verbrechen des Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus. Sie selbst beanspruche eine nicht europazentrierte Perspektive außerhalb der sogenannten westlichen Welt. Ein Schwede meldet sich zur Widerrede. Ohne die in Europa entwickelte Idee der Menschenrechte und Menschenwürde einerseits und den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag andererseits sei ein solches Strafverfahren weder möglich noch durchführbar – nicht einmal als fiktives Tribunal. Die Werte Europas seien das eine. Seine Geschichte und Praxis seien das andere, bis zum heutigen Tage. Entwertet Letzteres also das Erstere?

Ausgerechnet Kernaspekte der westlichen Welt, wie die in ihr geprägten Formen von Wissen, Wirtschaft und Staat, werden immer wieder denunziert. Oft geschieht dies mit argumentativen Mustern der Kultur- und Zivilisationskritik. Schlagworte wie Logozentrismus oder Phallozentrismus fallen im modernitätskritischen Begriffsnebel der Dekolonialisierungs- und Globalisierungsdiskurse. Der Impetus lautet: Das okzidentale Denken als solches sei zu brechen, um es zu überwinden! Aber ausgerechnet diejenigen Errungenschaften Europas einer wissenschafts-, technologie- und wirtschaftsfeindlichen Kritik zu unterwerfen, die die okzidentale Zivilisation im Kulturvergleich besonders kennzeichnen, heißt, ihren Beitrag zur Weltzivilisation zu unterschätzen. Denn sie verbürgen deren Freiheit, Wohlstand und kulturellen Reichtum.

Um dies zu erkennen, muss man weder dem Ethnozentrismus huldigen noch sich zu europäischem Triumphalismus versteigen: die größte Ökonomie, der größte Export, die beste Bildung für die allermeisten (wenn auch nicht für alle), der einzige Wohlfahrts- und Sozialstaat mit Menschen- und Bürgerrechten. Es wäre deshalb ein Fehler, Ambivalenzen nicht auszuhalten und dabei das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir müssen als Haltung vielmehr eine Ambiguität tolerieren, die den historischen Militarismus, das jahrhundertelange kriegerische Blutvergießen, Inquisition, Pogrome, mehrfache Genozide bis hin zum Zivilisationsbruch der Schoah in Europa nicht verdrängt oder unter den Teppich kehrt.

Die Europäisierung der Erde mündete in den Status quo: Die Weltzivilisation lebt in hohem Maße von Ideen, die in Europa und im Westen entstanden sind. Allerdings ist sie auch mit Problemen konfrontiert, die auf europäische bzw. westliche Technologien und Ideen zurückgehen. Europas Erfindungen sind in der Welt immer noch einflussreicher, als selbst Eurozentriker vermuten. So prägen das weltweite Bild Europas dessen Er

Thomas Morus (More), De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia [Über den besten Zustand des Staates und die neue Insel Utopia] Leuven 1516 (hier Ausgabe aus Basel 1518). Titelseite. Entwurf eines Idealstaates, der auf der Insel Utopia angesiedelt wird; Grundlagen sind u. a. ein rationales Gleichheitsprinzip und Streben nach Bildung (© Universitätsbibliothek Basel, UBH Rb 80)

http://dx.doi.org/10.3931/ e-rara-30626

findungen mit globalem Erfolg: zum Beispiel das Automobil, das Fernsehen, die Börse, der Beton, das Exerzierreglement (sogar der Herrenanzug!), von der Hochkultur Europas und ihren verschiedenen Blütephasen in Musik, Kunst und Architektur, Literatur und Philosophie ganz zu schweigen.

Kapitalismus und Demokratie sind ebenfalls europäische Erfindungen. Bis dahin waren Tyrannis und Despotie der Normalfall politischer Ordnung. Eroberung und Ausbeutung waren im vorindustriellen Zeitalter üblich. Vormoderne Zivilisationen basierten meist auf Zwangsarbeit und brutaler Unterjochung durch die jeweils Herrschenden. Eine privilegierte Priesterkaste deutete die theokratischen Strukturen und Reglementierungen als Teil kosmisch-religiöser Ordnungssysteme. Die Unterdrückung durch die Machthaber ging Hand in Hand mit materiellem Elend. Denn das Wirtschaftswachstum war nicht ausreichend, um der Masse der Bevölkerung einen Lebensstandard über dem physischen Existenzminimum zu ermöglichen. Periodische Hungersnöte, Armut, Elend und endemische Rechtlosigkeit, wie sie noch heute in den meisten Ländern der Erde anzutreffen sind, wurden in Europa überwunden.

Der liberale, demokratische Lebensstil im Rechtsstaat auf Basis von Fortschritt in Technik und Wissenschaft im System des Kapitalismus ist welthistorisch eine absolute Ausnahmeerscheinung. Diese spezifisch okzidentale Kombination hat den Massen Wohlstand und politische Mitbestimmung gebracht. Umso erschreckender ist es, wenn diese Qualitäten nicht mehr als Errungenschaften bewertet werden, die nicht nur als zustimmungs-, sondern auch als verteidigungswürdig gelten. Dies sind Indizien der Selbstgefährdung.

Wie kam es zum europäischen Sonderweg? Wie entwickelte sich Europa zu einem Spezifikum der Weltgeschichte? Warum entstand die Moderne in Wissenschaft, Demokratie, Staat, Verwaltung, Kultur und Gesellschaft nur in Europa, nirgendwo anders? Um die Ursachen und Charakteristika des europäischen Sonderwegs kreist eine Debatte zwischen Wirtschafts- und Kulturhistorikern, Soziologen und Philosophen. Zuerst kam es zur Beschränkung der Regierungsmacht. Danach entstand eine weitgehende Autonomie von Wissenschaft und Ökonomie. Zuletzt wurde die Partizipation an politischer Herrschaft durchgesetzt. Diese Begrenzung und Zurückhaltung der Regierungstätigkeit ist noch heute eine Voraussetzung für eine prosperierende Marktwirtschaft, welche wiederum eine notwendige Voraussetzung für eine vitale Demokratie darstellt.

Der moderne Kapitalismus, dem das Leistungsprinzip zugrunde liegt, als marktwirtschaftlicher Träger der industriellen Entwicklung, die Zähmung politischer und religiöser Herrschaft und die Beschränkung staatlicher Gewalt und Regierungsmacht spielen dabei eine entscheidende Rolle auf dem Weg zum liberalen Rechts- und Verfassungsstaat. Kennzeichen dieses Modells sind die repräsentative Demokratie als Regierungsform auf Basis von Parlamentarismus, Gewaltenteilung (und gegenseitiger Kontrolle durch die Teilung der Gewalten) und Volkssouveränität als Beteiligung an der Herrschaft. Die Herrschaft des Gesetzes, die Autonomie von Wissenschaft und Ökonomie gegen staatliche oder religiöse Ein- und Übergriffe, schließlich die Kontrolle auch durch die kritische, investigative Presse und Medien, Öffentlichkeit, Bürgergesellschaft, auch mittels Kultur, Kunst und Kabarett (und zwar ohne Angst vor Strafverfolgung) – diese Phänomene markieren den elementaren Unterschied zu vormodernen Hochkulturen, zu autoritären, repressiven Regimen und zur „orientalischen Despotie“ (Karl August Wittfogel). Spielräume für Kreativität und Selbstbestimmung, die Streuung dezentralisierter Entscheidungsbefugnisse im Wettbewerb, institutionalisierte Kritik statt Immunisierungsversuche, Konkurrenz statt Konsens, kritische Prüfung und harte Korrekturmechanismen bei Fehlentscheidungen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft (nämlich Bankrott, Abwählbarkeit und Falsifikation) sichern effektive Steuerung und Anreize, um neue Lösungen zu entdecken. Sie bilden den gemeinsamen Nenner und inneren Zusammenhang beim Erfolg – einige sprechen sogar vom „europäischen Wunder“ (Eric L. Jones) – von enthaltsamer Regierungsaktivität, konstantem Wirtschaftswachstum und ununterbrochenem Fortschritt der Wissenschaft.

Europa hat Sozialordnungen der Freiheit entwickelt, mit all ihren Facetten: Im Zuge politischer Fragmentierung konnte Vielfalt erblühen. Möglich wurde dies durch den fehlenden Alleinherrscher über den gesamten Kontinent. Dieser Schlüsselfaktor – Rivalität – war in anderen Teilen der Welt nicht im selben Ausmaß gegeben. Unter solchen Bedingungen können wirtschaftlich Produktive, zum Beispiel besonders erfolgreiche Minderheiten, bessere Standorte wählen, die ihnen günstiger erscheinen. Mehrere Machtzentren, die miteinander konkurrieren, befördern den Wettbewerb, auch den der Weltanschauungen. Solcher Pluralismus entwickelt und stärkt den Schutz von Minoritäten und fördert Toleranz. Dies wiederum hängt mit den Fundamenten des Universalismus und Humanismus zusammen, welche die Würde, unverfügbare Rechte und persönliche Freiheit des Einzelnen als gesellschaftliche Grundwerte in den Mittelpunkt rücken. Für die europäische Freiheitsidee sind Schutzzonen des mit basalen Rechten ausgestatteten Individuums und sein Verständnis als Person und Subjekt zentral. Freiheit kann im westlichen Europa als individueller Anspruch geltend gemacht werden, gegen die Familie, gegen den Clan, gegen die Gesellschaft und gegen den Staat. Hier findet die europäische Idee ihren Ursprung, hier zeigt sich ihr Glutkern: Humanisten haben einen Wertehorizont entfaltet und beschrieben, der Inspiration, Richtschnur und Orientierung bietet.

Zugleich sind rote Linien markiert, wenn grundlegende europäische Werte wie Aufklärung, Emanzipation, Toleranz, Gleichberechtigung (nicht zu verwechseln mit Gleichheit oder gar Gleichmacherei!), Kooperation, Vertrags- und Bewegungsfreiheit, missachtet oder sogar unterdrückt werden. Diese Werte sind an die Domestikation staatlicher oder religiöser Willkürherrschaft geknüpft, die durch die Herrschaft des Rechts ersetzt wird, welche eine freie Lebensgestaltung ohne Unterjochung durch fremde Autoritäten ermöglicht und zuverlässige Eigentums- und Verfügungsrechte sichert, die die wirtschaftliche Entwicklung begünstigen, und zwar jenseits von Regeln, die aus der Fremdbestimmung und Unterdrückung von Subjekten erwachsen. I n Systemen nicht autoritärer Steuerung gehen Sanktionen, die menschliches Verhalten bestimmen, normalerweise aus dem Spiel der Kräfte selbst hervor. Dies geschieht, ohne dass dafür eine äußere Autorität in Anspruch genommen werden muss (abgesehen von derjenigen, die diese Ordnung durch ein legitimes Gewaltmonopol aufrechterhält). Der Vorteil ist evident: Dies gestattet Individuen ein Maximum an Partikularinteressen bei einem Minimum an erforderlichem Zwang und Konsens. Der konsequente Kritizismus bezieht die Fehlbarkeit von Menschen in die Sozialkonstruktion ein, die laufender Kritik, rationaler Kontrolle und dauernder Überprüfung unterliegen.

Erkenntnis- und Entdeckungsdrang, Erfindungsgeist, Innovationskraft, Flexibilität des Denkens, Nonkonformismus und das Recht, vom Hergebrachten abzuweichen, Wandel- und Reformfähigkeit, die Überwachung und Beschränkung politischer Eingriffe im Macht- und Herrschaftssystem, institutionalisiertes Misstrauen gegenüber jeglicher Form von absoluter Macht und allen Hütern der wahren Lehre, Freiheitsbahnen für schöpferisches Unternehmertum, das Verfahren rationaler Prüfung und systematischer Kritik von Lösungsvorschlägen, die im Wettbewerb zueinander stehen und scharfer Selektion unterworfen werden, Selbstreflexion und konsequente Kritik als Motor geistiger, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung – dies sind Garanten für Veränderung, Entwicklung und Verbesserung, die in der okzidentalen Kultur tief verankert sind. Anders formuliert: Ohne dezentralisierte und vergleichsweise sichere Eigentumsrechte von Produzenten und Händlern in relativer ökonomischer Freiheit gibt es keine wirtschaftliche Entwicklung. Nur politische Fragmentierung und Rivalität innerhalb einer Zivilisation begrenzen den Despotismus und schaffen relativ sichere Verfügungsrechte am Eigentum.

Wie politische Fehlentscheidungen zu Stagnation und Niedergang führen, demonstrieren die Geschichte und der Kulturvergleich. Im 15.Jahrhundert n. Chr. verfügte China über eine Armada hochseetüchtiger Schiffe. Admiral Zheng He führte mit seinen chinesischen Seefahrern Expeditionen für das Kaiserreich auf den Welt

Agathias Scholasticus: Historiarum libri I-V (Lateinische Übersetzung des Cristoforo Persona) - BSB Clm 294 Rom 1484: BSB Handschriften.

meeren durch. Dann aber wurden Hochseeschifffahrt und Überseehandel verboten. Die politische Einheit Chinas wurde zum Innovationshindernis. Die Fähigkeiten wurden schließlich vergessen, obwohl chinesische Seefahrer bereits vor den Spaniern, Portugiesen, Holländern und Engländern den Indischen Ozean von Sansibar bis zum Westpazifik erkundet hatten. In Europa demgegenüber gab es keinen Herrscher, der angesichts kleiner rivalisierender europäischer Territorien einen solchen Befehl überhaupt hätte durchsetzen können. Keine überregionale Instanz, nicht einmal die katholische Kirche, hätte nach 1520 die Machtfülle besessen, Entdeckung, Forschung und Entwicklung in der europäischen Zivilisation insgesamt aufzuhalten. So war der Weg frei für die Herrschaft Europas über die Weltmeere.

In Europas Tradition einer „Kultur des Infragestellens“ (Julia Kristeva) ist es leichter, neue Wege zu beschreiten. Von John Locke über Diderot und Kant, vom kartesianischen Zweifel über die Kritik der reinen Vernunft bis zu Karl Poppers Kritischem Rationalismus, hin zur Kritischen Theorie und benachbarten Strömungen zieht sich ein roter Faden: das Movens der Kritik kennzeichnet dieses selbstreferenzielle Großprojekt. Die Aufklärung mündet in Erschütterung durch ständige Unruhe. Sie führt im Idealfall sogar zur Selbstbefreiung. Sie erzeugt einen alles bewegenden antidogmatischen Mahlstrom systematischer Befragung. Keinem Bereich, keiner Person, keiner Autorität werden hier Deutungsmonopole gestattet. Keine Immunisierung gegen vernünftige Einwände und radikale Fragezeichen ist erlaubt. Keine Instanz wird als sakrosankt gegenüber Analyse und empirischer Untersuchung abgeschirmt. Nicht einmal das höchste Wesen, Gott, ist hiervon ausgenommen. Angebliche Erkenntnisprivilegien seiner Vermittler und Repräsentanten, scheinbar absolute Gewissheiten, die als Wahrheitsansprüche ausgegeben werden, enge mentale Korridore von Dogmen und Ideologien, Fundamentalismen und Indoktrination, gleich welcher Herkunft, jegliche Konsenseuphorie oder ein Rekurs auf solche, als unhintergehbar behauptete, dem kritischen Nachdenken entzogene oder vor ihm zu schützende Instanzen – all das lässt der europäische Kritizismus in the long run nicht gelten. Kritik und Konkurrenz bilden das Fundament, auf dem sich das eigentliche kulturelle Kapital Europas gründet. Aus diesen Ressourcen erwächst auch der europäische Humanismus. Denn Europa ist von der Sorge um den Einzelnen, vom Respekt vor der singulären Person geprägt. Im Zentrum stehen das unverwechselbare Subjekt und dessen unveräußerliche Rechte sowie Spielräume für autonomes Denken, Forschen und Handeln.

Unsere Ausstellung Europa – Erbe der Humanisten ermöglicht eine Zeitreise in eine okzidentale Gedankenwelt, aus welcher bis heute wertvolle Funken sprühen. Ein gewaltiger Chor humanistischer Stimmen erklingt. Als solcher versinnbildlicht er die frühen Errungenschaften dieses Kontinents. Als Projekt, das dem kulturellen Austausch über Grenzen hinweg gewidmet ist, lädt das polyfone Konzert zur dialogischen Horizontverschmelzung mit jenen ein, die von uns nicht vergessen werden dürfen. Inwiefern trägt dies zur Selbsterkenntnis bei? Intellektuell Neugierige werden hier auch bislang weniger bekannte Persönlichkeiten entdecken, bei denen es sich lohnt, sie kennenzulernen. Diese Multiperspektivität zeichnet ein vielstimmiges Panorama, das um Schlüsselfragen des europäischen Zusammenhalts kreist: Was sind eigentlich unsere Werte? Woher stammen sie, wer hat sie erfunden? Wie hängen sie miteinander zusammen? Und wieso konnten sie gerade hier entstehen? Wie wollen wir sie künftig pflegen und zur Anwendung bringen? Wie wollen wir sie fortentwickeln? Der Appell an die kritische, selbstreflexive Vernunft lautet: Überprüfen wir unsere Maßstäbe! Korrigieren wir Fehler – gerade in einer Phase der Unübersichtlichkeit, die als Zeitenwende wahrgenommen wird.

Während manche den morbus occidentalis beschwören oder sich der Renaissance des Nationalen verschreiben, erachten wir – auch innerhalb des sich polarisierenden Europas – die europäische Idee als ein hohes Gut, das von jeder Generation neu erworben und gestaltet werden muss. Ebenso muss die geistige und geografische Nachbarschaft immer neu erarbeitet und gepflegt werden. Reflexion und Rückbesinnung als revitalisierende Selbstvergewisserung über eine geteilte Basis des europäischen Humanismus bilden hier

Erasmus von Rotterdam, Querela pacis [Klage des allenthalben unter den Völkern verworfenen und zugrundegerichteten Friedens], Basel 1518. Titelseite. Auftragswerk eines französischen, spanischen, englischen und habsburgischen Fürstenbündnisses an Erasmus zur dauerhaften Sicherung des Friedens in Europa; Manifest des Pazifismus (© Universitätsbibliothek Basel, UBH DJ III 5)

http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-23180

für einen idealen Ausgangspunkt für den gemeinsamen Weg in eine humanere Zukunft. Wenn wir schleichende Entdemokratisierung, das Wiedererstarken autoritärer Regime und die Missachtung der hier skizzierten europäischen Wertetradition erleben, erwächst dem humanistisch geprägten Europa die Aufgabe, darauf geeignete Antworten und Lösungen zu finden, um destruktiven Tendenzen Einhalt zu gebieten. Gerade auch deshalb, weil der Grad gesellschaftlicher Verwirklichung humanistischen Gedankenguts in Europa hoch ist. Und weil dies die Sehnsüchte von Milliarden von Menschen, die darüber nicht verfügen, weiterhin buchstäblich bewegt. Wenn ihnen aber keiner sagen kann, was genau Europa in seinem Kern und seinen Werten ausmacht, wäre es nicht mehr viel wert.

Der Mittelpunkt Europas ist nicht der Big Mac, sondern die Magna Charta. Europas Kultur ist aber auch mehr als eine Addition seiner Nationalkulturen und -staaten. Die kulturellen Eigenschaften Europas wurzeln in seiner Freiheit, in seiner Diversität, Mehrsprachigkeit, im Austausch und in seiner gegenseitigen Befruchtung, auch nach außen. Um ein kraftvolleres und stolzeres europäisches Bewusstsein entstehen zu lassen, ist die Zeit immer reif: „Der europäische Humanismus ist ein permanenter Neugründungsprozess“ (Julia Kristeva).

Literatur

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