Leseprobenheft Herbst 2017

K o s t e n l o s e

R o m a n e

Tamera Alexander, Rebekkas Melodie ..................................... 2 Karen Witemeyer, Selbst ist die Frau! ...................................... 9 Dee Henderson, Stadt der Verschwundenen ......................... 16 Denise Hunter, Das Haus der großen Träume ...................... 22 Elizabeth Camden, Die Grenzen der Wahrheit ..................... 29 Irma Joubert, Hinter dem Orangenhain ............................... 36 Lisa Wingate, Der Ruf des Meeres ........................................ 44 Ann H. Gabhart, Ein Sommer des Glücks ............................ 50 Dan Walsh, Das letzte Manuskript ....................................... 57

Tamera Alexander

Rebekkas Melodie

ISBN 978-3-86827-661-9 ca. 480 Seiten, Pb. Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im September 2017

Nashville, 1871 Die junge Musikerin Rebekka kehrt nach ihrer Ausbildung in Wien in ihre alte Heimat zurück. Doch sie weiß, dass ihr ihr früheres Zuhause in Nashville keine Zuflucht mehr bietet. Dort herrscht mittlerweile ihr Stiefvater. Und so macht Rebekka sich auf die Suche nach einer Anstellung.

Ihr größter Herzenswunsch ist es, im Sinfonieorchester ihrer Heimatstadt spielen zu dürfen. Aber Nathaniel Whitcomb, der Dirigent, lehnt Rebekka ab. In seinem Orchester ist kein Platz für Frauen. Nach und nach jedoch erkennt er, dass Rebekka nicht nur äußerst reizend ist, sondern auch eine außergewöhnliche Gabe besitzt …

4

Rebekka Carrington stand zitternd auf der Straßenseite, die ihrem Elternhaus gegenüber lag. Die Reisetasche lastete schwer in ihrer Hand und ihr Mantel war mit Schneeflocken bedeckt. Sie zählte die Schritte, die nötig wären, um zur Haustür zu gelangen. Wie konnte ein so kurzer Abstand so unüberwindlich erscheinen, viel weiter als der Ozean, den sie gerade überquert hatte? Sie wünschte, sie bräuchte nur zu blinzeln und wäre wieder in Wien. Nach zehn Jahren in der österreichischen Hauptstadt fühlte sie sich dort mehr zu Hause als in der Stadt, in der sie geboren worden war und die erste Hälfte ihres Lebens verbracht hatte. Aber der Brief, der ihr vor fast vier Wochen, nur wenige Tage vor Weihnachten, zugestellt worden war, hatte alles verändert.

In diesem Moment ging die Haustür auf.

Rebekka drückte sich in den Schatten eines Baumes und drehte den Kopf, um durch die vereisten Zweige spähen zu können. Ihr Atem bildete eine Wolke vor ihrem Mund und hing gespenstisch in der Luft. Ihr Magen verkrampfte sich, aber das lag nicht nur an ihrem Hunger.

Es war er. Wie oft hatte sie diesen Mann vor ihrem geistigen Auge gesehen, seit sie Nashville verlassen hatte? Aber als sie ihn jetzt, zehn Jahre später, mit den Augen einer erwachsenen Frau sah, wirkte er ganz anders als damals, als sie dreizehn gewesen war. Er war dicker geworden, und auch wenn er natürlich immer noch groß war, war er bei Weitem nicht mehr die übergroße Gestalt, als die er ihr im Gedächtnis geblieben war.

Ihr Stiefvater stieg in eine Kutsche, die deutlich eleganter war als die, die er und ihre Mutter früher besessen hatten. Vielleicht hatte er diese Kutsche mit dem Geld gekauft, das er vor Kurzem „geerbt“ hatte. Diese Möglichkeit verstärkte ihre Abneigung ihm gegenüber noch mehr und sie fragte sich zum wiederholten Mal, woran ihre Großmutter so plötzlich gestorben war.

Großmutter Carrington hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie sich irgendwie unwohl fühlte, bevor die schockierende Nachricht von ihrem „plötzlichen und tragischen Tod“ gekommen war. Das ergab einfach keinen Sinn und Rebekkas Schmerz und ihre Trauer waren unbeschreiblich groß.

Rebekka betrachtete die Kutsche und die Silhouette des Mannes, der darin saß.

Barton Ledbetter war kein ehrbarer Mann, das wusste sie nur zu gut.

Aber er war doch sicher nicht so unmoralisch, dass er es gewagt hatte …

5

*** (…) Rebekka trat schwer atmend auf den schwach beleuchteten Flur und schloss die massive Eichentür hinter sich. Sie war dankbar, dass sie jetzt vor der Kälte und dem Wind geschützt war. Ihre Beine schmerzten, da sie zu Fuß quer durch die ganze Stadt gelaufen war, und ihr Selbstvertrauen geriet ins Wanken. Wenn sie den Artikel im Nashville Banner früher gesehen hätte, wären ihre Chancen auf ein Ja vielleicht größer gewesen. Aber das Vorspielen für die Nashviller Philharmonie war vor über einer Stunde zu Ende gegangen und sie konnte sich gut vorstellen, was ein Mann wie Mr Nathaniel T. Whitcomb von einem Menschen denken würde, der unpünktlich war.

Aber viel wichtiger als die Frage, wie viel Wert dieser Mann auf Pünktlichkeit legte, war seine Einstellung gegenüber Frauen in Orchestern.

Hoffentlich dachte er so fortschrittlich, wie sie aus dem Artikel geschlossen hatte! Darin hatte sie gelesen, dass sich die Nashviller Philharmonie immer noch im Aufbaustadium befand. Dieser Umstand könnte ihr zugutekommen. Genauso wie die Tatsache, dass die Philharmonien in New York und Philadelphia vor Kurzem die ersten Frauen in ihren Reihen aufgenommen hatten.

Rebekka griff schnell in ihre Tasche, öffnete die Wasserflasche und steckte das Rohrblatt hinein, um es anzufeuchten. Sie wollte für den Fall der Fälle bereit sein. Die Oboe, die sich in ihrer Tasche befand, war zwar nicht ihr Lieblingsinstrument, aber sie war wie eine alte Freundin – und angesichts der öffentlichen Meinung über Frauen, die Violine spielten, war die Oboe für dieses Vorspielen eine weitaus ungefährlichere Wahl.

Sie rieb sich die Hände an ihrem Mantel ab, da ihre Nerven sich deutlich bemerkbar machten. Warum war sie so nervös? Sie hatte schon tausendmal für ein Sinfonieorchester vorgespielt – in ihren Träumen. Aber konnte sie das schaffen, wenn es wirklich darauf ankam?

Sie strich ihren Rock glatt und ging im Geiste das Musikstück durch, das sie vorspielen wollte. Mozarts Oboenkonzert in C-Dur. Sie hatte dieses Stück schon oft fehlerlos gespielt. Aber nie zuvor hatte so viel auf dem Spiel gestanden. Ihre Beine fühlten sich plötzlich wie Blei an.

Das Vorspielen jagte ihr nicht so viel Angst ein. Sie wusste, dass sie spielen konnte. Aber sie hatte keine Ahnung, wie die Entscheidung des neuen 6

Dirigenten ausfallen würde. Wohin würde sie gehen, wenn er Nein sagte?

Was würde sie dann machen? Sich als Gouvernante bewerben? Schon wieder? Diese unerfreuliche Aussicht für ihre Zukunft hing wie ein Amboss um ihren Hals. Aber alles war besser, als nach Hause zu gehen. *** Nicht noch eine Tochter von einem reichen Sponsor!

Tate brummte leise. Wie viele von diesen lästigen Frauen sollte er denn noch ertragen? „Ich gebe Ihnen fünf Minuten, Miss …“ „Carrington, Sir“, erwiderte sie ein wenig zu eifrig. „Rebekka Carrington.“ „Bitte, Madam.“ Er bedeutete der jungen Frau, in sein Büro zu treten, und konnte es nicht erwarten, dieses Gespräch so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Er musste zum Bahnhof. Hastig warf er einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims, dann auf die Schachtel aus der Apotheke, die in der Ecke stand, und dachte an einen anderen Ort in einer anderen Welt. Er durfte den letzten Zug heute nicht verpassen. „Danke, Mr Whitcomb, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“ Die junge Frau lächelte ihn nervös an, als sie ihm gegenüber Platz nahm.

Er nickte lächelnd, eine nützliche Geste, die er immer mehr perfektionierte. „Ihre Beschreibung, wie es ist, ein Orchester zu dirigieren, Sir, die Methoden, mit denen Sie arbeiten …“ Ihre Augen wurden groß. „Ich habe den Artikel im Nashville Banner gelesen und ihn äußerst spannend gefunden. Besonders die Stelle, an der der Reporter erklärt, wie Sie …“ „Miss Carrington …“ Tate hob abwehrend eine Hand. „Ich fühle mich geehrt, dass Sie den Artikel gelesen haben. Aber ich weiß, was darin steht.

Und Ihnen bleiben nur noch vier Minuten. Es wäre also am besten, wenn Sie ohne Umschweife zur Sache kämen.“ Ihr Lächeln erlosch und das aufgeregte Funkeln in ihren Augen wich einer gewissen Verzweiflung. „Natürlich.“ Sie umklammerte die braune Ledertasche auf ihrem Schoß. „Soweit ich gehört habe, Sir, sind Sie ein fortschrittlich denkender Mann. Ein wahrer Visionär. Ihre Leistungen sind sehr bewundernswert und …“ 7

„Haben Sie Musikunterricht genossen, Miss Carrington?“ Ihr Mund, den sie für einen Moment zugemacht hatte, ging wieder auf. „Ja, Sir. Das habe ich. Aber was ich Ihnen zu sagen versuche, ist …“ „Und können Sie ein Notenblatt abschreiben?“ „Natürlich, aber ich bin hier, um …“ „Und Kaffee kochen? Stark, aber nicht bitter. Gehört das auch zu Ihrem Repertoire?“ Sie schaute ihn fragend an. „Haben Sie eigentlich zugehört, was ich gesagt habe, Mr Whitcomb?“ Er hörte den Anflug von Missfallen in ihrer Stimme und musste lächeln. Jetzt wünschte er fast, die Entscheidung, wer seine Assistentin werden würde, läge tatsächlich bei ihm. „Natürlich habe ich Ihnen zugehört, Miss Carrington. Ich habe nur einige Pflichten aufgezählt, die von meiner Assistentin erwartet werden.“ Er bedauerte das, was er ihr jetzt sagen musste, mehr, als sie ahnte. „Ich muss Ihnen jedoch leider mitteilen, dass die Stelle bereits vergeben ist.“ Er wollte schon aufstehen. „Mr Whitcomb.“ Sie hob die Hand. „Ich muss Ihnen etwas sagen, Sir. Ich bin hier …“ Sie öffnete ihre Tasche und zog einen Koffer heraus. „Um Ihnen vorzuspielen. Für die Stelle des Oboisten. Falls Sie erlauben, Mr Whitcomb.“ Es gab nicht vieles, das ihn überraschen konnte. Aber diese Frau hatte es geschafft. „Sie wollen im Sinfonieorchester Oboe spielen?“ Sobald er das gesagt hatte, fiel ihm der ungläubige Ton in seiner Stimme auf und er konnte sich gut vorstellen, welche Reaktion er damit bei ihr auslöste.

Sie zog die Brauen streng zusammen und Entschlossenheit trat an die Stelle ihrer Verzweiflung. „So ist es. Ich bin eine gute Oboistin und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Gelegenheit gäben, Ihnen vorzuspielen. Ich weiß, dass der offizielle Vorstellungstermin vorbei ist, aber ich habe erst heute Morgen von der freien Stelle erfahren.“ Sie öffnete den Koffer und begann das Instrument zusammenzusetzen, das etwas kürzer als eine gewöhnliche Oboe aussah. Die Fingersätze sahen auch anders aus. „Miss Carrington, ich …“ „Treffen Sie Ihre Entscheidung bitte erst, wenn Sie mich spielen gehört haben. Bitte“, fügte sie leise hinzu.

8

„Miss Carrington“, setzte er erneut an. „Die Nashviller Philharmonie besteht ausschließlich aus Männern, wie Sie sicherlich wissen.“ „Ja, Sir, das weiß ich.“ Sie setzte das Oberstück, Mittelstück und Fußstück des Instruments zusammen. „Aber es muss nicht immer alles so bleiben, wie es ist. Haben Sie das nicht selbst gesagt? In dem Artikel?“ Jetzt berief sich diese Frau auch noch auf seine eigenen Worte? „Miss Carrington.“ Tate beugte sich auf seinem Stuhl vor, war aber gegen seinen Willen irgendwie fasziniert. „Ich würde es vorziehen, wenn Sie nicht …“ Sie begann zu spielen und er verstummte. Nicht, weil die Musik, die sie spielte, so exquisit gewesen wäre – obwohl sie wirklich sehr schön war –, sondern weil er sehen konnte, wie ihre Finger zitterten, die Musik jedoch nichts von dieser Angst widerspiegelte.

Sie spielte zuerst pianissimo, aber mit einer Tiefe und Klarheit nicht nur der Töne, sondern auch der Seele. Er konnte ihre Leidenschaft für das Herz dieses Stückes fühlen.

Tate wurde von der Musik mitgerissen und konnte die Begleitung des Orchesters hinter ihr fast hören. Miss Carrington spielte in einem perfekten Tempo. Ihr Timing war ausgezeichnet und ihr Vibrato war der reinste Genuss. Das absteigende Arpeggio gelang ihr mit geübter Leichtigkeit. Er schloss die Augen und ließ sich von der Musik mitreißen.

Dieses Konzert war eines seiner Lieblingsstücke und er freute sich auf jeden Tempowechsel – allegro aperto, adagio ma non troppo und schließlich allegretto. Er wurde kein einziges Mal enttäuscht. Die Enttäuschung machte sich erst breit, als sie aufhörte.

Selbst dann schien die Stille über der letzten noch nachklingenden Note zu schweben, als teile sie sein Bedauern.

Obwohl er die Augen noch nicht öffnen wollte, tat er es und stellte fest, dass ihre noch geschlossen waren, während das Instrument auf ihrem Schoß lag. „Miss Carrington.“ Er sprach leise, da er nachempfinden konnte, wie sehr sie gerade noch von der Macht der Musik durchdrungen war. Genauso, wie die Musik vor hundert Jahren Mozart erfasst hatte und unzählige andere Musiker, von denen dieses Stück seitdem vorgetragen worden war.

Aber er hätte wetten können, dass nur wenige es mit dem Können und der Leidenschaft dieser Frau gespielt hatten. Doch ihm waren die Hände 9

gebunden. Er konnte nur eines denken: Was für eine Gabe! Dann folgte ein zweiter Gedanke, der ihn schmerzte, noch bevor er ihn richtig zu Ende dachte: Wie schade!

Schließlich schlug sie die Augen auf. Ihre braunen Augen hatten einen dunkleren Glanz angenommen. Er las eine einzige Frage in ihrem Blick und wünschte, er müsste sie nicht beantworten. „Gut gemacht.“ Seine Stimme klang in der Stille des Raumes viel zu laut. „Das war exquisit. Danke.“ Sie lächelte und er stellte überrascht fest, dass er in diesem Moment viel dafür gegeben hätte, sich die Herzlichkeit und Dankbarkeit dieser Frau zu verdienen. „Aber“, fuhr er mit schwerem Herzen fort, „es ist, wie ich gesagt habe: Das, was Sie verlangen, ist unmöglich. Es tut mir leid.“ Sie blinzelte und die Schönheit dieses Moments war verflogen. „Aber …

Sie haben doch gerade gesagt …“ „Ich weiß, was ich gesagt habe, Miss Carrington. Und ich habe es ernst gemeint. Jedes Wort. Aber es bleibt eine Tatsache, dass Sie eine Frau sind.

Und Frauen …“ „… wird nicht erlaubt, in Orchestern zu spielen.“ Tate überließ es dem Schweigen, ihr darauf zu antworten.

Er erhob sich von seinem Stuhl und hoffte, sie würde ebenfalls aufstehen. Sie tat es. Langsam und mit einer Traurigkeit, bei der ihm schwer ums Herz wurde.

Die Uhr schlug die halbe Stunde. Er warf einen schnellen Blick auf den Kaminsims. Schon halb fünf? Der letzte Zug fuhr in einer Stunde und er musste ihn unbedingt erwischen. „Miss Carrington, es tut mir aufrichtig leid, aber ich muss Sie bitten, mich zu entschuldigen. Ich habe einen dringenden Termin, den ich nicht versäumen darf. Ich bedanke mich noch einmal für das Vergnügen, Sie spielen hören zu dürfen. Glauben Sie mir: Ich wünsche Ihnen von Herzen das Allerbeste.“ Diese Worte klangen herablassend. Ihre verletzte Miene verriet, dass sie das auch so sah. „Danke für Ihre Zeit, Mr Whitcomb. Ich will Sie auf keinen Fall länger aufhalten.“ Sie zerlegte das Instrument schnell und steckte es in die Tasche zurück. „Guten Tag.“ 10

Karen Witemeyer

Selbst ist die Frau!

ISBN 978-3-86827-662-6 326 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Juni 2017

Texas, 1894 Die lebensfrohe junge Bankerin Emma leitet eine Kleinstadt, in der Frauen Zuflucht finden, mit denen es das Leben nicht gut gemeint hat. Doch die Unabhängigkeit der Frauen und die Zukunft von »Harpers Station« gerät unter Beschuss: Banditen versuchen, die Gemeinschaft zu vertreiben. Da greift Emma zu ihrer Geheimwaffe, dem Sprengstoffexperten Malachi, dem sie als Kind einst das Leben rettete. Dieser nimmt einen weiten Weg und viele Gefahren auf sich, um dem Engel seiner Kindheit zu helfen und die Frauenkolonie zu schützen.

Während sie gemeinsam für das Gute kämpfen, fühlen Emma und Malachi sich mehr und mehr zueinander hingezogen. Doch die Welten, in denen sie leben, scheinen einfach zu verschieden zu sein …

11

Harpers Station, Texas Emma Chandler riss den Zettel mit der Schmähbotschaft von dem Nagel, der in der Kirchentür steckte. Sie zerknüllte das abscheuliche Ding in der Faust und stopfte es in die Rocktasche, obwohl sie es am liebsten mitten auf die Straße geschmissen, es mit fünfzig Pferden niedergetrampelt, daraufgespuckt und es anschließend in Brand gesteckt hätte, damit es als harmlose Asche vom Wind verweht würde. Wie konnte es jemand wagen, ihre Damen zu bedrohen? Dazu hatte dieser Unmensch kein Recht! „Er wird immer dreister.“ Die stoische Stimme ihrer Freundin durchbrach Emmas wütende Gedanken und erinnerte sie daran, dass es ihr nichts bringen würde, sich in ihre Wut hineinzusteigern. Sie musste mit kühlem Kopf agieren. Bedacht und besonnen. „Ja, das stimmt.“ Emma sah sich nach dem Feigling um, obwohl sie wusste, dass sie niemanden entdecken würde. Das hatte sie noch nie. Und das war immerhin schon die dritte Botschaft innerhalb der letzten zwei Wochen. Und jedes Mal war der Ort für die Botschaft so gewählt, dass er die Gemeinschaft etwas mehr ins Herz traf. „Aber es sind nur Worte.“ „Wir haben keine Garantie dafür, dass es dabei bleiben wird.“ Victoria Adams fasste Emmas größte Angst in Worte. „Wenn ihn seine Worte nicht weiterbringen, wird er härtere Maßnahmen ergreifen.“ In Toris Stimme schwang eine Sicherheit mit, als hätte sie etwas Ähnliches schon selbst erlebt. „Lass mich den Zettel sehen, Emma.“ Sie streckte die Hand aus.

Emma seufzte und zog ihn aus der Tasche. Sie ließ ihn in die Hand ihrer Freundin fallen und wusste, dass Tori sofort erkennen würde, dass die „härteren Maßnahmen“ bereits ergriffen worden waren.

Victoria strich die Notiz glatt und überflog die knappen Zeilen. Leise flüsterte sie die Worte, die dort geschrieben standen. „‚Frauen von Harpers Station, verschwindet heute noch von hier oder ich werde euch verschwinden lassen. Das ist meine letzte Warnung!‘“ „Wir müssen ein Treffen einberufen.“ Emma stampfte die Kirchentreppe hinunter und marschierte über den Vorplatz.

Tori folgte ihr die Treppe hinunter, blieb dann jedoch stehen. Sie wartete darauf, dass Emma zurückkam. „Was willst du ihnen sagen?“ 12

Die leise Frage ließ Emma innehalten. Sie wirbelte zu ihrer Freundin herum. „Ich werde nicht aufgeben, Tori. Ich werde mich nicht von einem Rüpel einschüchtern lassen!“ Sie streckte die Arme in Richtung der kleinen Ansammlung von Gebäuden aus, die sich um die alte Postkutschenstation herum gruppierten, die schon vor zwanzig Jahren die ersten Siedler hierhergelockt hatte. „Harpers Station ist eine Zuflucht für Frauen, die genau dieser Art von Bedrohung entkommen wollen. Wir haben so hart dafür gearbeitet, hier alles aufzubauen, die Frauen herzubringen, ihnen ein neues Leben zu bieten. Ich werde mich nicht wie ein Mäuschen einschüchtern lassen, nur weil ein sturer, uneinsichtiger Mann seine Muskeln spielen lässt!“ Tori machte keine Anstalten, Emmas leidenschaftliche Rede zu unterbrechen. Sie sah ihre Freundin nur still an und wartete ab, bis sie genug Dampf abgelassen hatte. Das war dann schließlich auch der Fall. Emma mochte sich zwar dagegen wehren, ihre Prinzipien über den Haufen zu werfen, doch sie würde niemals die Sicherheit ihrer Frauen aufs Spiel setzen. Niemals. Nicht einmal für das hehre Ideal, das sie hier alle zusammengeführt hatte.

Sie ging dorthin zurück, wo Tori noch immer auf sie wartete, und ließ ihre Verärgerung so weit verpuffen, dass ihre Gedanken wieder klar wurden. „Ich werde die Mütter mit Kindern ermutigen, dem Rat des Sheriffs zu folgen und – vorübergehend – in eine der Nachbarstädte zu ziehen.“ Emmas Schultern sanken etwas herab, als sie Tori in die Augen sah. „Das schließt auch dich mit ein.“ Wie sehr sie es hasste, ihre engste Freundin, die mit ihr diese Kolonie der Frauen aufgebaut hatte, wegzuschicken.

Doch Tori hatte einen vierjährigen Sohn und wenn dem kleinen Lewis irgendetwas zustoßen würde … Nun, daran wollte sie nicht einmal denken.

Toris Augen verengten sich. „Ich werde nirgendwo hingehen.“ Die Härte in ihrer Stimme ließ keinen Raum für Widerspruch. „Ich werde dich in diesem Kampf nicht alleine lassen. Außerdem, wohin sollten wir gehen?

All meine Ersparnisse stecken in meinem Laden. Ich kann wohl kaum das Geschäft mitnehmen. Und wenn ich das verliere, verliere ich alles.“ „Ich werde mich für dich um alles kümmern“, bot Emma an, doch ihre Freundin schnitt ihr das Wort mit einem knappen Kopfschütteln ab. „Du musst die Bank leiten. Du brauchst nicht noch eine zusätzliche 13

Belastung. Ich werde Lewis an der kurzen Leine halten. Uns wird schon nichts passieren.“ Toris Hände ballten sich zu Fäusten und Emma wusste, dass sie sich nicht mehr umstimmen lassen würde.

Victoria zeigte niemals Emotionen – außer freundschaftlicher Zuneigung und der Liebe zu ihrem Sohn. Sonst nichts. Keine Angst, keinen Zorn, keine Überraschung. Nichts, was jemandem ihr gegenüber einen Vorteil verschaffen könnte. Wenn sie also so erzürnt war, dass sie ihre Fäuste ballte, mussten ihre Gefühle am Brodeln sein. „Ich will meinem Sohn zeigen, dass man für die Dinge kämpfen muss, an die man glaubt, auch wenn es einen in Gefahr bringt. Wir verstecken uns nicht.“ Eine Welt des Schmerzes steckte hinter dieser Aussage, eines Schmerzes, den Emma sich gar nicht vorstellen konnte. Tori kämpfte seit dem Tag, an dem sie entdeckt hatte, dass sie schwanger war. Ungewollt schwanger durch den Angriff eines Mannes, der überall in ihrer Heimatstadt beliebt war. Sie hatte um eine Heimat gekämpft, nachdem ihr Vater sie vor die Tür gesetzt hatte. Um den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn. Und gegen die Angst, wieder einmal den Charakter eines Mannes falsch einzuschätzen und den gleichen Albtraum noch einmal durchleben zu müssen.

Emma trat dicht an Victoria heran und berührte ihren Arm. Da erst entspannten sich Toris Hände wieder und sie legte eine Hand auf Emmas. „Wir halten zusammen“, versprach Emma.

Tori nickte. „Ja, das tun wir.“ Südgrenze Montana, Eisenbahnlager, Baustelle der Burlington-Route Malachi wickelte das verbleibende Stück der Zündschnur ab, dann untersuchte er das Loch noch ein letztes Mal. Die Tiefe sah gut aus. Die Schnur war bereit. Keine Feuchtigkeit. Kein Schutt, der einen sauberen Ablauf stören würde. Der Radius sollte ausreichen, um die Felsen zu sprengen, die auf der Strecke der neuen Eisenbahn lagen. Vielleicht würde er eine zweite Ladung zünden müssen, doch das würde er später entscheiden.

Er sah sich noch einmal um, um sicherzugehen, dass niemand den Sprengkreis betreten hatte, dann griff er in seine Tasche und zog ein Streichholz hervor. „Volle Deckung!“ Malachi entzündete das Streichholz an seinem Stiefel, hielt es an die 14

Lunte, die sofort Feuer fing, und sprintete dann, so schnell es das unebene Terrain erlaubte, davon. Im Stillen zählte er die Sekunden. Er wusste genau, wann das Dynamit explodieren würde.

Fünf … sechs …

Er wich nach rechts aus, um das lose Geröll des jüngsten Steinschlages zu meiden. Er brauchte jetzt eine gute Bodenhaftung.

Neun … zehn … elf …

Er machte den Baum aus, der den Beginn der Sicherheitszone markierte. Nur noch zwanzig Meter.

Schweiß tropfte ihm in die Augen. Das Stechen lenkte ihn ab. Er blinzelte, um seine Sicht zu klären. Mals Schuh blieb an einem hervorstehenden Sandstein hängen. Er stürzte nach vorn, sein Schwung schleuderte ihn weiter. Er kämpfte gegen seinen Instinkt an. Anstatt die Arme auszustrecken, um sich aufzufangen, legte er sie eng um seinen Körper und senkte den Kopf auf die Brust, um eine halsbrecherische Rolle vorwärts zu machen. Er durfte keine Zeit mit einer Landung verlieren, er musste in Bewegung bleiben.

Sechzehn … siebzehn …

In dem Moment, als seine Füße einmal herumgewirbelt waren, öffnete Mal seinen Körper und schaffte es, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, während er seine wilde Flucht unvermindert fortsetzte. Der Baum ragte vor ihm auf. Er war fast dort.

Neunzehn …

Mal warf sich nach vorn. Die Explosion zerriss die Luft. Die Erde erbebte. Ein ohrenbetäubendes Getöse durchfuhr seinen Körper, bevor er auf dem Boden aufschlug. Er bedeckte seinen Kopf mit den Armen. Staub und Geröll prasselten auf ihn nieder. Doch nichts war größer als Kieselsteine. Er hatte überlebt. Wieder einmal. (...)

Mal näherte sich dem Ort der gerade im Bau befindlichen Eisenbahngleise und grüßte den Mann, der den Arbeitern Wasser brachte. Maultiere schleppten Bahnschwellen, Chinesen schnatterten in ihrer Muttersprache miteinander, Aufseher riefen laut ihre Anweisungen, doch es war das ständige Stakkato der Hämmer auf den Gleisen, das dem Lager seinen Herzschlag verlieh. Der Antrieb in Richtung Fortschritt. Eine ständige Vorwärtsbewegung. Hindernisse wurden eingerissen, um Ziele zu erreichen. Der Rhythmus seines Lebens.

15

Er ging an den Zelten vorbei und war so bedacht darauf, schnell zu seiner Wanne zu kommen, dass er den Jungen, der auf ihn zugelaufen kam, fast über den Haufen gerannt hätte. „Mr Shaw.“ Der Junge sprang zur Seite, um einen Zusammenstoß zu verhindern, als wäre er es gewohnt, Größeren auszuweichen.

Dieses Verhalten schlug eine vertraute Saite in Malachi an. Er blieb stehen und wandte dem Jungen seine volle Aufmerksamkeit zu. „Ja? Was gibt es denn, Andrew?“ Der Junge lächelte, als er seinen Namen hörte. Die meisten Männer im Lager waren zu beschäftigt, um sich den Namen eines Laufburschen zu merken. Doch Malachi wusste, wie es sich anfühlte, von anderen missachtet zu werden, und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, alle Namen der Jungen zu kennen, die hier im Lager arbeiteten. Vor allem Andrews. „Ein Telegramm, Sir.“ Andrew streckte ihm ein Stück Papier entgegen und sein Lächeln verschwand. „Es ist vor einer Stunde eingetroffen. Anscheinend ist es wichtig, also habe ich auf Sie gewartet.“ Ein Telegramm? Wer sollte …? Malachi griff nach dem zerknitterten Stück Papier. Er überflog die knappen Worte, dann fing er noch einmal von vorn an und saugte jeden Buchstaben einzeln in sich auf.

Stecke in Schwierigkeiten. Brauche deine Hilfe. Komm schnell. Emma Mal zerknüllte das Papier in der Hand, wandte sich um und lief zu seinem Zelt. Schnelle Schritte folgten ihm. „Soll ich Ihr Pferd satteln, Mr Shaw?“, schnaufte Andrew, der hinter Mal ins Zelt stolperte. „Ich habe den Fahrplan überprüft. Um drei Uhr geht ein Zug von Sheridan aus. Den könnten Sie noch erreichen.“ Malachi sah Andrew scharf an. Er hätte ihn vielleicht dafür rügen sollen, dass der kleine Kerl seine privaten Nachrichten las, doch er war viel zu dankbar für die wichtigen Informationen. Er zog einen Silberdollar aus der Tasche und drückte ihn Andrew in die Hand. „Danke, Junge. Du bekommst noch einen Dollar, wenn Ulysses in zehn Minuten gesattelt vor meinem Zelt steht.“ Andrew nickte. „Ja, Sir!“ Er schoss aus dem Zelteingang hinaus.

Malachi zog die Satteltaschen unter seiner Pritsche hervor. Saubere Kleidung. Essen. Die Feldflasche. Geld. Waffen. Nur das Nötigste.

16

Er stopfte zwei Hemden und eine Hose in die eine Tasche, dann öffnete er die kleine Truhe am Fuß seines Bettes und durchsuchte das Innenleben.

Konservendosen, Kekse und die Überreste des gestrigen Abendessens.

Nicht wirklich viel Proviant, vor allem für die lange Reise, die vor ihm lag, doch es war genug, selbst wenn etwas auf dem Weg nach Sheridan schieflaufen sollte.

Mal nahm seinen Revolvergurt aus der Truhe und legte ihn sich um.

Das schwere Gewicht an seiner Hüfte war ihm vertraut. Nachdem er noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Badewanne geworfen hatte, öffnete er die Schließkassette am Boden seiner Truhe und holte die letzten Monatsgehälter hervor. Dann füllte er seine Feldflasche mit dem Wasser aus seiner Karaffe.

Sein Herz klopfte wild, als Mal sich die Satteltaschen über die linke Schulter schwang, sein Gewehr und die Munitionsdose nahm und nach draußen trat. Er entdeckte Andrew, der gerade seinen Wallach herbeiführte, und warf dem Jungen eine zweite Münze zu. Andrew fing sie mit einer Hand auf und reichte Malachi mit der anderen die Zügel. „Ich passe auf Ihre Sachen auf, während Sie weg sind.“ Andrew blickte zu Malachis Zelt hinüber.

Mal nickte dankend, während er sein Gewehr in die Sattelschlinge schob. „Das weiß ich zu schätzen.“ Er zog noch einmal den Sattelgurt fest und band die Feldflasche an, dann stieg er auf Ulysses. „Wie lange werden Sie weg sein?“, fragte Andrew.

Malachis Blick wanderte nach Süden. „Solange ich gebraucht werde.“ Er blinzelte, dann wandte er sich zurück an Andrew. „Ich schaue noch beim Boss vorbei und sage ihm Bescheid. Du richtest Zachary aus, dass er so lange das Sagen hat.“ Andrew nickte.

Mal lenkte Ulysses herum, doch die Stimme des Jungen ließ ihn noch einmal innehalten. „Wer ist Emma, Mr Shaw? Ihre Schwester?“ Mals Brustkorb zog sich zusammen. Schwester? Manch einer würde das vielleicht so sehen, doch er hatte es niemals gekonnt.

Als er Ulysses die Sporen gab, kam es wie ein leises Flüstern über seine Lippen. „Sie ist mein Engel.“ 17

Dee Henderson

Stadt der Verschwundenen

ISBN 978-3-86827-664-0 ca. 448 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Juli 2017

Evie Blackwell ist jung, ehrgeizig – und Ermittlerin. Vom Gouverneur wird sie in eine neue Task Force berufen, die sich nur mit ungelösten Vermisstenfällen beschäftigt. Als »Probelauf« soll Evie zwei Fälle lösen, die seit Jahren wie ein düsterer Schatten über der Kleinstadt Carin in Illinois liegen: Die Familie eines Polizisten ist ebenso spurlos verschwunden wie ein kleines Mädchen.

Mit Hilfe des sympathischen Sheriffs Gabriel Thane und ihrer Freunde Ann und Paul Falcon gräbt Evie in der Vergangenheit. Wird sie die Wahrheit aufdecken oder reißt sie nur alte, mühsam verheilte Wunden wieder auf?

18

Gabriel Thane liebte seinen Job als Sheriff, aber es gab Tage, an denen er sich wünschte, er wäre nicht ans Telefon und an seine Arbeit gefesselt.

Sein Date am Abend zuvor hatte abrupt geendet, weil er bei einer Schlägerei in einer Kneipe hatte einschreiten müssen, und jetzt wollte er eigentlich den Rasen mähen, aber er kam nicht recht voran. Ständig klingelte sein Handy. Trotzdem versuchte er, einigermaßen höflich zu klingen, als er sich meldete. „Sheriff Thane.“ „Es gibt ein Problem, um das du dich kümmern müsstest, mein Junge, draußen auf der Bezirksstraße 62, unweit der alten Brücke. Es gab einen Wildunfall. Das Problem ist, dass die Fahrerin sich nicht beim Unfallwagen befindet. Ich habe eine Blutspur gefunden, die vermuten lässt, dass sie in die Stadt läuft.“ „Wie schlimm ist es, Dad?“ „Ein Rehbock ist durch ihre Windschutzscheibe geknallt“, sagte sein Vater. „Die Airbags wurden ausgelöst und sie hat den Wagen gegen einen Baum gelenkt. Im Fußraum der Beifahrerseite habe ich ihr kaputtes Smartphone gefunden, zusammen mit einer ausgeleerten Handtasche.

Daher weiß ich überhaupt, dass es sich um eine Frau handelt. Im Führerschein steht Evie Blackwell. 36 Jahre alt, eine Adresse in Springfield.“ „Ich fahre gleich hin. Ruf die Tanners und die Delaines an und frag, ob sie dort irgendwo an der Tür geklingelt hat.“ „Das sind die nächsten Anrufe. Bring deine Medizinausrüstung mit, mein Junge. Das Blut fühlt sich schon klebrig an. Ich vermute, dass der Unfall ungefähr eine Stunde her ist.“ Gabe beendete das Gespräch und ging zu seinem Dienst-Pick-up, warf seine Sachen hinein, setzte rückwärts aus der Einfahrt und lenkte den Wagen in Richtung Norden. (…)

Gabriel nahm die nächste Kurve und trat abrupt auf die Bremse. Dann griff er nach seinem Handy und wählte. „Ich hab sie, Dad! Ein Stück östlich von Kimbles Grundstück. Sieht aus, als hätte sie einen halben Liter Blut über sich verteilt. Ich brauche deine Hilfe hier. Sie hat Hunde. Zwei Stück.“ Die Schäferhunde umkreisten die Frau nervös bei jedem unsicheren Schritt, den sie tat. Gabriel musterte sie, während er weiter auf sie zufuhr.

Ungefähr einen Meter sechzig groß, kurze braune Haare, anthrazitfarbene Stoffhose und dazu passende Jacke, eine rote Bluse, von den Blutflecken 19

jetzt deutlich dunkler eingefärbt. In einem Holster an der rechten Hüfte steckte eine Waffe, unter der Jacke gerade so sichtbar.

Die Frau erschrak offensichtlich, als sie seinen Wagen sah. Schnell fuhr er an den Straßenrand, weit genug von der Fahrbahn, um in der Kurve nicht den Verkehr zu behindern, aber ein wenig schräg, um sie vor herannahenden Fahrzeugen zu schützen – der Randstreifen war hier nicht sehr breit. Dann stieg er aus, ging aber mit Rücksicht auf die Hunde nicht näher auf sie zu. „Ma’am, wir haben Sie gesucht. Sieht so aus, als könnten Sie Hilfe brauchen.“ Er griff nach den Rucksäcken und seiner Jacke, immer mit langsamen Bewegungen, weil die Hunde jetzt zwischen ihm und ihr standen. „Darf ich fragen, warum Sie bewaffnet sind, Ma’am?“ „Illionis State Police, Lieutenant Evie Blackwell. Meine Dienstmarke ist in meiner Tasche … glaube ich.“ Die Frau versuchte sich zu konzentrieren. „Ja, in der Jackentasche. Ich muss mich hinsetzen.“ Genau das tat sie dann, und zwar genau dort, wo sie gerade stand. Die beiden Hunde winselten und drängten sich um sie. „Sind Sie im Urlaub, Lieutenant?“, fragte Gabriel. Er wollte sie dazu bringen, dass sie ihn ansah. Wenn er in ihre Augen schauen konnte, würde er erkennen, wie es ihr ging. Sie wieder auf die Beine zu stellen, bevor Hilfe kam, schien ihm keine gute Idee. Nicht, dass sie das Bewusstsein verlor. Dann wären die Hunde ein echtes Problem. „Na ja, halb Urlaub, halb Arbeit.“ Sie runzelte die Stirn. „Sie sind Sheriff Thane.“ „Stimmt.“ „Ann hat gesagt, ich soll zu Ihnen gehen.“ „Ann?“ „Falcon.“ „Sie kennen Ann und Paul Falcon?“ Die beiden waren gute Freunde von Gabriel. Paul war ein hohes Tier beim FBI und Ann eine der besten Polizeiermittlerinnen des Landes. „Ja. Tut mir leid.“ Evie fasste sich an die Stirn. „Diese Kopfschmerzen sind wie zu schnelles Eisessen, nur eine Billion Mal schlimmer.“ Sie sah ihn wieder an. „Ein Fall. Wir arbeiten an einem Fall in Carin County.

Oder eigentlich an zwei.“ Ihre Aussprache wurde etwas undeutlich, als sie hinzufügte: „Ann soll Ihnen das erklären. Ich bin ein bisschen durcheinander.“ (…)

20

*** Gabriel setzte sich ans Steuer und sah zu Evie hinüber, die auf dem Beifahrersitz saß. Sie hielt die Augen geschlossen. Um den Verband herum waren die Blutergüsse und Schwellungen deutlich erkennbar. Er ließ den Wagen an und schaltete als erstes das Radio aus, das automatisch angegangen war.

Dann wendete er auf der Straße und fuhr zurück in Richtung Stadt. „Ich rieche nach Schweiß und Blut“, murmelte Evie.

Er lächelte angesichts der leisen Klage. „Nach dem Arztbesuch spricht bestimmt nichts gegen eine heiße Dusche.“ „Wunderbar.“ Evie schwieg einen Moment lang. „Ich hätte den Unfallort wahrscheinlich nicht verlassen, sondern bei meinem Wagen bleiben sollen …“ „Ich hätte es wahrscheinlich genauso gemacht wie Sie. Nicht viel Verkehr, keine Häuser in der Nähe ... Der Spaziergang hat Ihrer Wunde wahrscheinlich nicht so gutgetan, aber das kriegen wir schon wieder hin.“ Sie versank in Schweigen. Gabe spürte, wie seine Anspannung allmählich nachließ. „Die Florist-Familie …“, sagte sie plötzlich. „Danach wollte ich Sie fragen.“ Schon allein bei der Erwähnung dieses Falls verkrampften sich seine Muskeln erneut. „Ich kenne den Fall. Ein Deputy verschwindet, dazu seine Frau und sein elfjähriger Sohn – die Sache wurde nie zu den Akten gelegt.“ Evie wandte vorsichtig den Kopf zu ihm um. „Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe zwei Wochen Urlaub, mit jeweils einem Wochenende vorne und hinten dran, also sechzehn Tage. Das müsste reichen, um sich einen Eindruck zu verschaffen, was geschehen ist. Ann wird mir helfen.“ Diese Frau ist hier, um in einem ungeklärten Fall zu ermitteln? Und Ann Falcon kommt, um ihr zu helfen? Das warf eine ganze Menge Fragen auf ... *** Gabriel reichte Ann einen Kaffee, bevor er sich selbst einen einschenkte. „Du bist ja nicht oft hier, aber wenn, dann ist auch meistens irgendwas los. Tut mir leid, dass ich deine Ankunft verpasst habe.“ 21

„Evie wollte sich erst allein bei dir vorstellen, erklären, was es mit dem Auftrag der Task Force auf sich hat, und dich nach den Fällen fragen. Wir hatten vor, dich heute Abend zum Essen einzuladen, um dann gemeinsam die Einzelheiten zu besprechen.“ „Einige der Puzzleteile habe ich inzwischen zusammengefügt. Aber erzähl mir doch bitte, was Evie gesagt hätte, wenn sie nicht mit dem Rehbock zusammengestoßen wäre, damit ich mein Halbwissen vervollständigen kann.“ „Unser Gouverneur in spe will, dass eine Task Force sich die ungeklärten Fälle vermisster Personen quer durch den Bundesstaat vornimmt. In Carin County gibt es gleich zwei Fälle, die in diese Kategorie fallen: das vermisste Mädchen der Daytons, nach dem damals gesucht wurde, und die Florists, die als komplette Familie verschwunden sind. Evie wollte ihren Urlaub dazu nutzen, eine Art Probelauf durchzuführen, sich die Akten vorzunehmen und auszutesten, ob die Vorgehensweise funktioniert.

Lass dich nicht vom ersten Eindruck täuschen, Gabriel. Evie ist sehr gut.“ Gabriel dachte über das Vorhaben nach. „Du weißt, welche Bedeutung der Fall Florist hier in der Stadt hat, auch für meine Dienststelle. Ich will nicht, dass der Fall nur aus einer Laune heraus wieder aufgerollt wird. Ich will nicht, dass Angehörige noch einmal mit Fragen konfrontiert werden, dass sie sich falsche Hoffnungen machen, wenn es keinen Sinn hat – es sei denn, es gibt neue Erkenntnisse.“ „Wir werden den Fall neu durchdenken; wir werden herausfinden, warum er nicht gelöst wurde, und ihn aufklären, Gabe. Evie ist die Richtige für den Job. Ich weiß, wie sie arbeitet“, erwiderte Ann. Gabriel seufzte und nippte an seinem Kaffee. „Du gibst nicht vielen Menschen so viele Vorschusslorbeeren, Ann. Wir wollen wirklich, dass dieser Fall aufgeklärt wird, aber trotz intensiver Bemühungen ist uns das bisher nicht gelungen. Ich weiß die Absicht zu schätzen, aber ich kenne den Fall.“ Er musterte sie nachdenklich. „Bleibst du hier und hilfst Evie?“ „Ich werde in den nächsten zwei Wochen hin und her fliegen – ist ja nicht weit. Neben dem Verschwinden der Florists werden wir wie gesagt auch das Verschwinden der kleinen Ashley Dayton noch mal genau unter die Lupe nehmen. Gouverneur Bliss will wissen, ob der konzentrierte Einsatz von einer kleinen Truppe erfahrener, spezialisierter Ermittler ungeklärte Vermisstenfälle lösen kann. Und ich bin wild entschlossen, ihm 22

das zu beweisen. Carin County ist ein Probelauf. Ich will diese Probe hier bestehen, Gabriel. Wegen des Potenzials, das ich in diesen Fällen sehe, aber auch euretwegen.“ Gabriel zog die Augenbrauen hoch, da ihm durchaus bewusst war, dass sie versuchte, ihm die Sache mit der Task Force schmackhaft zu machen.

Ann quittierte das mit einem kleinen Lächeln. „Im Ernst, Gabe, deshalb habe ich vorgeschlagen, dass wir hier anfangen. Es sind zwei Fälle, an denen viel hängt. Evie ist so überzeugt davon, dass sie ihren Urlaub opfert, um sich in diese Arbeit zu stürzen. Ich bin so überzeugt davon, dass ich herkommen und helfen werde. Jetzt brauchen wir nur noch ein Ja von dir.“ Der Fall Florist war für Gabriel aus persönlichen wie aus beruflichen Gründen wichtig. Er raubte ihm zwar nicht direkt den Schlaf, aber er machte ihm auf jeden Fall zu schaffen. Und er wusste, dass die Sache seinen Vater noch immer verfolgte. Gabriel wollte verhindern, dass sein Dad sich falsche Hoffnungen machte. Nach der letzten Überprüfung war er zu dem Schluss gekommen, dass ein entscheidender Durchbruch nötig war, zum Beispiel die Entdeckung der Leichen, um den Fall zu lösen. Doch wenn Evie und Ann tiefer bohren wollten, würde er sie unterstützen und jeden Schritt des Weges mit ihnen gehen.

23

Denise Hunter

Das Haus der großen Träume

ISBN 978-3-86827-665-7 ca. 304 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Juli 2017

PJ McKinley träumt seit Jahren davon, in ihrer Heimatstadt eine eigene Pension mit angeschlossenem Restaurant zu eröffnen. Doch der talentierten Köchin und Konditorin fehlt es am Wesentlichen: Sie verfügt weder über die finanziellen Mittel noch über die geeignete Lokalität, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

Als die Besitzerin einer wunderschönen historischen Villa im Ort einen Wettbewerb auslobt und dem Gewinner ihr Haus in Aussicht stellt, scheint PJs Traum mit einem Mal zum Greifen nah. Wäre da nur nicht ein Mitbewerber, der ebenfalls unbedingt gewinnen will. Und dessen Pläne so herzergreifend klingen, dass PJ ihm das Haus sogar fast freiwillig überlassen hätte …

24

PJ McKinley wollte gerade das Licht ausmachen, als sie ein Geräusch hörte.

Reglos blieb sie in ihrem Bett sitzen, die Hand über dem Tablet erstarrt.

Rums.

Wahrscheinlich war es nur der Wind. Oder die alte Heizung oder ein loser Fensterladen. Sie wohnte erst seit einer Woche in ihrem Haus und war mit den Geräuschen noch nicht vertraut. Sie sollte sich entspannen, anstatt sich von nichts und wieder nichts einen Schrecken einjagen zu lassen.

PJ speicherte die Änderungen, die sie gerade an ihrem Marketingplan vorgenommen hatte. Inzwischen war der Plan beinahe perfekt. Noch zwei Tage. Sie holte tief Luft und sog den würzigen Duft der Fettuccine Carbonara ein, die sie vor ein paar Stunden gekocht hatte. Nächstes Mal würde sie statt Frühstücksspeck Pancetta nehmen, um etwas weniger Rauchgeschmack zu bekommen. Und vielleicht ein bisschen weniger Parmesan und dafür einen Schluck Weißwein.

Bumm.

Das Geräusch kam ganz aus der Nähe. Von der Veranda. Hastig schwang PJ die Füße aus dem Bett. Das war zwar noch kein Fall für den Notruf, aber sie würde sich deutlich besser fühlen, wenn sie ihr Handy in der Hand hielt. Leider hatte sie es zum Aufladen in der Küche gelassen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Hör auf, dich verrückt zu machen, PJ. Dies war Chapel Springs und nicht Indianapolis. Aber sie war es gewohnt, auf einem Campus zu wohnen, umgeben von Dutzenden Studenten, nicht allein. Und schon gar nicht in einem Haus im Wald, das ein Stück abseits der Straße lag.

Plopp.

PJs Herz raste. Diesmal war es noch näher. An der Haustür. Sie ermahnte sich, das Atmen nicht zu vergessen.

Sie musste ihr Handy holen, trotz des vorhanglosen Panoramafensters und ihres dünnen Schlafanzugs, der nur aus einem ärmellosen Top und Shorts bestand. Jetzt war eindeutig der Zeitpunkt für einen Notruf gekommen. Sich zu verstecken, brachte schließlich nichts, wenn jemand einbrach. Sie rutschte von der Bettkante und durchquerte auf Zehenspitzen den Raum.

Bitte, Gott … Ich weiß, es ist eine Weile her, dass wir miteinander gesprochen haben, aber – 25

Gerade als sie das Wohnzimmer erreicht hatte, rüttelte es am Türknauf.

PJ schnappte nach Luft und ihr Blick schnellte zur Tür. Das Licht aus ihrem Schlafzimmer fiel in den dunklen Raum und ließ den Metallknauf aufblitzen.

Er drehte sich.

Jetzt wurde ihr Atem ganz flach. Denk nach, PJ! Sie packte den ersten Gegenstand, den sie sah: ein französisches Veilchen in einem rustikalen Tontopf. Dann huschte sie hinter die Tür und hob den Blumentopf genau in dem Moment über ihren Kopf, als die Tür aufging.

Ihr stockte der Atem. Ihre Finger krallten sich um den Topf. Die Tür flog auf, schlug gegen ihre nackten Zehen, prallte davon ab und schlug gegen den Körper, der hereinstolperte. Ein Mann. Groß und kräftig.

PJ stellte sich auf die Zehenspitzen, zielte auf seinen Kopf und ließ den Topf so fest sie konnte herunterkrachen. Der Ton zerbarst in ihren Händen und ein kleiner Schrei entwich ihrer Kehle.

Der Mann grunzte und schwankte. Bitte, bitte, bitte! Dann stürzte er mit einem dumpfen Aufprall zu Boden. „Du meine Güte, du meine Güte.“ PJ tänzelte von einem Fuß auf den anderen. Ihre Hände zitterten und ihre Beine waren vom Adrenalin ganz weich. Rasch schaltete sie das Licht ein, bereit, nach der nächsten Waffe zu greifen.

Aber der Mann rührte sich nicht. PJ sprang über ihn und lief zu ihrem Telefon. Dann wählte sie die Notrufnummer und berichtete Nancy Lee von dem Einbruch; die versprach, Sheriff Simmons sofort rüberzuschicken. Aber PJ wusste, was das bedeutete. Der Sheriff bewegte sich im Schneckentempo und sie hatte einen gefährlichen Verbrecher bäuchlings in ihrem Wohnzimmer liegen. Einen Verbrecher, der jeden Augenblick aufwachen konnte.

Ryan! Er würde schneller hier sein. PJ drückte die entsprechende Kurzwahltaste, rief ihren Bruder an und schilderte ihm die Lage mit einigen unzusammenhängenden Sätzen. „Schließ dich in deinem Zimmer ein und nimm dein Telefon mit“, sagte er. „Ich bin in drei Minuten da.“ PJ legte auf und starrte mit gerunzelter Stirn den reglosen Brocken auf dem Boden an. Noch nicht einmal eine Woche wohnte sie allein und schon brauchte sie die Hilfe ihrer Familie.

26

Der Mann trug Jeans und ein dunkles T-Shirt. Sie fragte sich, warum er keine Jacke anhatte. Es war Mai und noch ziemlich kühl. Aber vielleicht froren abgebrühte Kriminelle nicht. Er hatte kurze dunkle Haare und kräftige Arme, von denen einer nach hinten weggestreckt war und der andere zum Kopf hin gebogen. Sie kniff leicht die Augen zusammen, als sie etwas auf dem Fußboden entdeckte. War das Blut?

Auf Zehenspitzen ging sie ein Stück ins Wohnzimmer zurück. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Es war Blut, sah sie, als sie näherkam. Es verklebte seine dunklen Haare und sammelte sich mit beunruhigender Geschwindigkeit auf dem Holzboden in einer Lache.

Ach, du liebe Zeit, ich habe ihn getötet!

Auf keinen Fall würde sie nach seinem Puls fühlen. Sie hoffte nur, dass er nicht auf ihrem Fußboden verblutete. An seiner Stirn bildete sich bereits eine Beule, aber das Blut kam vom Hinterkopf.

Gott sei Dank, dass Ryan unterwegs war. Er war bei der freiwilligen Feuerwehr und als Rettungssanitäter ausgebildet. Sollte sie die Blutung stillen? Aber was, wenn der Mann aufwachte? Zögernd entfernte sie sich wieder von ihm, blieb aber in der geöffneten Schlafzimmertür stehen, als würde ihr Bruder dadurch schneller erscheinen.

Zwei Minuten später hörte sie das Summen eines Motors und das Knirschen von Schotter. Ryan oder der Sheriff. Sie würde eher auf ihren Bruder wetten.

Eine Wagentür schlug zu und gleich darauf kam Ryan durch die offene Haustür hereingestürmt.

Er machte sich mit der Situation auf ihrem Fußboden vertraut und warf ihr dann einen Blick zu. „Ich habe doch gesagt, du sollst dich in deinem Zimmer einschließen.“ „Er hat geblutet.“ Sie näherte sich dem Mann. Jetzt, wo ihr Bruder da war, fühlte sie sich viel mutiger. Mit dem Fuß stieß sie den Eindringling an, bis er auf den Rücken rollte. „Mister? Hallo Mister?“ Sein Brustkorb hob und senkte sich. „Er atmet.

Gott sei Dank.“ Ryan kniete sich hin, fühlte den Puls des Mannes und begutachtete seine Wunde.

PJ ließ den Blick über das Gesicht des Fremden wandern. Es war ein 27

nettes Gesicht. Ein bisschen ähnelte es dem des Football-Spielers Tom Brady, mit dem kantigen Kinn und den langen dunklen Wimpern, die jetzt auf seinen Wangen ruhten. Auf seiner Stirn stand ein Schweißfilm.

Wie ein Verbrecher sah er nicht aus, so viel stand fest.

Als ob du schon so viele Verbrecher gesehen hättest … „Hol ein Handtuch und drück es auf seinen Kopf“, sagte Ryan.

Sie rannte los, holte das gewünschte und kniete dann neben dem Mann nieder, damit sie ihm das Handtuch auf den Kopf legen konnte. „Womit hast du ihn niedergeschlagen?“ Sie zeigte auf die Überreste des Tontopfs und die herumliegende Erde nebst Blumen. „Mit dem Einzugsgeschenk von Mom und Dad. Tja, das hat nicht lange überlebt.“ „Ist schließlich nicht so, als hätte es jemals eine Überlebenschance gehabt.“ PJ warf ihrem Bruder einen strafenden Blick zu, den dieser jedoch nicht bemerkte, weil er gerade anfing, die Wunde zu säubern.

Eine Minute später runzelte er die Stirn und legte eine Hand auf die Stirn des Bewusstlosen. „Er fühlt sich ganz heiß an.“ „Was bedeutet das?“ Ryan blickte kurz zu ihr auf. „Das bedeutet, dass er krank ist.“ „Aber warum sollte jemand, der krank ist, in mein Haus einbrechen?“ Ryan sah sich um. Dann hob er etwas Glänzendes vom Boden auf und hielt es hoch. Einen Schlüssel. „Vielleicht ist er ja gar nicht eingebrochen.“ Jetzt fiel PJ noch etwas auf, das sie vorher nicht bemerkt hatte. Eine kleine graue Reisetasche, die zwischen Couchtisch und Sofa gelandet war. „Guck mal.“ Ryans Blick folgte dem ihren. „Sieht aus, als wäre dein Einbrecher möglicherweise gar kein Einbrecher.“ *** PJ parkte am Bordstein und stieg aus dem Wagen. Ihr Blick wanderte zum Haus der Wishing-Familie hinüber. Das ausladende historische Gebäude war mehr als ein Jahrhundert alt und stand wenige Minuten vom Stadtzentrum entfernt an der Main Street. Eine Steinmauer trennte das Grundstück vom Gehweg und endete an einer gerissenen Betontreppe, 28

die zum Rasen hinaufführte. Einige alte Eichen ragten über dem gepflegten Garten und den makellosen Blumenbeeten auf.

Dann wanderte ihr Blick über das zweigeschossige Gebäude selbst: weiße Erker, eine breite Veranda und geschnitzte Verzierungen entlang der Dachkante. Es war eine beeindruckende Villa. Der perfekte Ort für ihre Frühstückspension mit angeschlossenem Restaurant.

Sie würde niemals in der Lage sein, ein solches Haus zu kaufen, selbst wenn sie noch zwanzig Jahre in Fionas Süßigkeitenladen arbeitete. Und bitte, Herr – dazu darf es nicht kommen!

Mit zitternden Knien durchquerte PJ den Vorgarten, stieg die Treppe zur Veranda hinauf und betätigte die Türklingel.

Einen Augenblick später erschien Evangeline Wishing Simmons auf der anderen Seite der Fliegengittertür. Weil sie so klein war, konnte PJ ihr kurzes silbernes Haar und ihre zierliche Gestalt aus der Vogelperspektive betrachten. Für eine Frau Mitte achtzig war Mrs Simmons sehr agil und rüstig und sie war für ihr unkonventionelles Verhalten bekannt. „Kommen Sie rein, PJ.“ Ihre Stimme war vom Alter brüchig. „Sie sehen hübsch aus.“ „Danke. Ich hoffe, ich bin nicht zu früh dran.“ „Keineswegs.“ Sie schob ihre Brille ein Stück hoch, sodass sie wieder richtig saß. „Es sind fast alle da. Sobald der andere Kandidat ebenfalls eingetroffen ist, fangen wir an.“ Das Haus roch nach Zitronenputzmittel und altem Geld. Ein Kronleuchter, der halb so groß war wie PJs Auto, hing an einer Messingkette über ihnen und das Licht brach sich in tausend Kristallanhängern.

PJ folgte Mrs Simmons über einen kurzen Flur in das riesige Wohnzimmer. Leises Stimmengemurmel hallte durch das beinahe leere Gemäuer.

Das Haus war bereits ausgeräumt worden, weil Mrs Simmons nach Colorado zog, um näher bei ihren Kindern und Enkeln zu leben. Sie hätte ihr Haus natürlich auch wie jeder normale Mensch verkaufen können, aber „normal“ war ein Wort, das niemand mit Evangeline Simmons in Zusammenhang brachte. Und so hatte sie einen Wettbewerb ausgelobt: Wer das überzeugendste Konzept für das Haus vorlegte, bekam es überschrieben.

Außer PJ war nur noch ein weiterer Kandidat in der Endrunde.

Der ehemals elegante Wohnraum war jetzt eine riesige freie Fläche mit hohen weißen Wänden und abgenutzten Holzböden. Im hinteren Teil 29

des Zimmers war ein langer Tisch aufgestellt. Dahinter saßen einige Personen, die PJ schon ihr ganzes Leben kannte. Mrs Simmons’ Perserkatze Snowball saß in der Mitte und ihr Schwanz zuckte in einem gleichmäßigen Rhythmus hin und her.

PJ begrüßte die Anwesenden, stellte ihren Laptop ab und setzte sich neben Mrs Simmons ans Ende des Tisches. Die Beratungskommission würde mit über das Ergebnis der letzten Runde entscheiden, doch PJ hatte den Verdacht, dass Mrs Simmons’ „Rat“ letztlich der einzige sein würde, der wirklich zählte.

Auf Mrs Simmons’ anderer Seite saß Cappy Winters. Ihm gehörte die Pizzeria im Ort. Neben ihm hatte Carl Dewitt Platz genommen, der Eigentümer von Dewitts Jachthafen, bei dem PJs Schwager Beckett einen Teilzeitjob hatte. Janet Lewis war die Letzte in der Runde. Sie vertrat den Tourismusverband.

PJ musste sie davon überzeugen, dass ihr Plan für Chapel Springs das Beste war. Sie hatte ihren Bachelor nicht gemacht, um in einem Süßigkeitengeschäft zu arbeiten. Dies war ihre Chance und die würde sie nutzen, egal, was ihre Geschwister dachten. Sie mochte das Nesthäkchen der Familie sein, aber sie konnte trotzdem Großes erreichen. Nicht, dass die anderen jemals offen das Gegenteil behaupten würden.

Während PJ die PowerPoint-Präsentation auf ihrem Laptop aufrief, klingelte es an der Tür. Mrs Simmons ging los, um zu öffnen, und Snowball sprang vom Tisch und stolzierte lautlos hinter ihr her. An der Tür drehte die Katze sich noch einmal um und warf der Kommission einen eingebildeten Blick zu, bevor sie weiterlief.

PJ hörte erst Stimmen, dann Schritte. Kurz darauf trat Mrs Simmons wieder durch die Tür. Ihr folgte ein Mann. PJ entwich ein kleines Quieken.

Der Mann bewegte sich natürlicher, als PJ es in Erinnerung hatte. Allerdings hatte sie ihn auch in keinem besonders guten Zustand erlebt. Und daran war nicht zuletzt sie schuld gewesen. In seinem schwarzen Anzug, einem frischen weißen Hemd und der leicht glänzenden roten Krawatte war er eine makellose Erscheinung. Er war frisch rasiert und sein Haar ordentlich gekämmt. „Liebe Kommissionsmitglieder, liebe PJ“, sagte Mrs Simmons, als sie vor dem Tisch stehenblieb, „dies ist unser zweiter Kandidat, Cole Evans.“ 30

Elizabeth Camden

Die Grenzen der Wahrheit

ISBN 978-3-86827-663-3 309 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Juli 2017

Washington 1897 Anna O’Brien ist Bibliothekarin in der berühmten Library of Congress und führt ein eher vorhersehbares Leben. Doch dann stolpert sie über eine Karte, die auf Fehler in einem alten Bericht hinweist. Vor Jahren soll ein Schiff angeblich während eines Wirbelsturms gesunken sein, doch das neue Material stellt das eindeutig in Frage. Anna beantragt die Korrektur des Berichts – und plötzlich werden ihr an allen Ecken und Enden Steine in den Weg gelegt. Sogar mit Entlassung droht man ihr.

In ihrer Verzweiflung wendet Anna sich an den Kongressabgeordneten Luke Callahan und bittet ihn um Hilfe. Denn sie kann den alten Fall nicht einfach ruhen lassen: Ihr Vater kam bei diesem Schiffsunglück ums Leben. Doch ist die Wahrheit es wert, alle ihre Träume für die Zukunft aufs Spiel zu setzen … und die von Luke gleich mit?

31

„Hört endlich auf, euch schmutzige Bilder anzusehen. Schließlich sind wir hier in einer Bibliothek!“ Anna hätte nie gedacht, dass sie diesen Satz jemals würde sagen müssen, noch dazu mit ernster Miene. Aber die Jungen waren kurz davor, in der Library of Congress Hausverbot zu bekommen, es sei denn, sie ging dazwischen. „Aber das sind doch medizinische Abbildungen“, gab Jack Wilkerson vom Lesetisch zurück. „Wir bilden uns nur weiter, Miss O’Brien.“ Gab es etwas Frustrierenderes als fünfzehnjährige Lausbuben? Die Regierung beschäftigte Hunderte von Waisenkindern als Dienstboten im Kapitol, wo sie Besorgungen erledigten und den Kongressabgeordneten zu Diensten waren, ansonsten aber leider kaum beaufsichtigt wurden.

Eine Gruppe von ihnen war in der Bibliothek zu einer regelrechten Plage geworden und nun hatte Anna sie dabei erwischt, wie sie Anatomiebücher nach Abbildungen von nackten Körpern durchforsteten.

Anna spürte das instinktive Verlangen, diese elternlosen Kinder zu beschützen. Sie war schließlich selbst Waise und eine Bibliothek war ein wunderbarer Zufluchtsort vor der grausamen Welt. „Ich meine es ernst.“ Anna hoffte, dass sie nicht zu belehrend klang, aber schließlich war die Arbeit hier in der Library of Congress ihr größtes Glück. Auch nach sechs Jahren blieb sie noch manchmal zwischen den Regalen stehen und staunte über die unermesslichen Büchertürme, die links und rechts von ihr aufragten. Für Anna hatte dieser Ort etwas Magisches und Überwältigendes. Die Bücher beeindruckten und inspirierten sie. Sie enthielten das Wissen ganzer Zeitalter, einige hatten sogar die Reiche überlebt, in denen sie geschrieben worden waren. Die Bücher zu pflegen und anderen dabei zu helfen, die Geheimnisse in ihnen zu entschlüsseln, das war Annas Berufung.

Als ein Mann in Marineuniform eintrat, ertönte eine Glocke über der Tür. Seine stocksteife Haltung und autoritäre Ausstrahlung ließen den Kartenraum kleiner und gleichzeitig voller erscheinen. „Miss Anna O’Brien?“, fragte der Offizier.

Annas Herzschlag beschleunigte sich. Das konnte nur eins bedeuten. „Ja, Sir?“ Der Offizier reichte ihr einen Umschlag. Das Siegel, welches auf dem Umschlag zu sehen war, gehörte der Navy. „Sie werden unten im Raum für Marineangelegenheiten erwartet. Jetzt 32

sofort.“ Er nickte kurz und verließ den Raum wieder. Anna und die Jungs blieben erstaunt und sprachlos zurück. „So eine Uniform will ich auch“, sagte einer schließlich. „Habt ihr seine Schuhe gesehen? Die haben geglänzt wie ein Spiegel!“ Die Jungen schwatzten wild durcheinander und Anna kämpfte mit ihren Gefühlen. Das hatte garantiert mit der Nachricht zu tun, die sie vergangene Woche an die Navy geschickt hatte. Es gab keinen anderen Grund, warum sie sonst auf sie aufmerksam geworden sein sollten. „Was steht denn drin?“, fragte Jack.

Anna brach das Siegel und überflog die Zeilen. Sie musste lächeln. Genau, wie sie vermutet hatte. „Ich habe in einem alten Bericht einen Fehler gefunden“, sagte sie leise. „Und weil ich dachte, dass die Navy das interessiert, habe ich das gemeldet.“ „Was für einen Fehler denn?“, wollte einer der Jungen wissen. „Einen großen“, erwiderte Anna, beließ es aber dabei. Das war zu persönlich, um es vor einer Gruppe ungestümer Knaben auszubreiten. „Ich weiß noch nicht einmal, wo der Raum für Marineangelegenheiten ist“, gab sie offen zu. „Aber ich!“, rief Jack und sprang auf.

Anna wagte sich nur selten aus dem in die Jahre gekommenen Kartenraum. Abgenutzte Bücher, Karten und Atlanten bildeten eine Art sicheren Kokon um sie. Unten, im Haupttrakt des Kapitols, war alles anders: Die Pracht aus Marmor und Vergoldungen gab einem das Gefühl, ein Königshaus sei zu Gast, was wohl daran lag, dass tatsächlich Königshäuser hier ein- und ausgingen, zusammen mit Senatoren, Diplomaten, Premierministern und Präsidenten. Klein gewachsene Bibliothekarinnen passten dort unten nicht ins Bild, aber angesichts der förmlichen Vorladung blieb ihr nichts anderes übrig.

Sie wünschte sich insgeheim, sich am Morgen noch mehr Mühe mit ihrem Äußeren gegeben zu haben. Obwohl das auch nicht viel geändert hätte. Alle ihre Kleidungsstücke waren schlicht und einfach gehalten, weil sie es nicht leiden konnte, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Sie sah Jack an und wünschte, sie hätte nur ein Zehntel seines Muts. „Dann los“, sagte sie. (…)

33

*** Als Anna Stunden später den Kartenraum wieder betrat, waren die Dienstboten längst verschwunden. Zu ihrer Überraschung stand Ainsworth Spofford am einzigen Arbeitstisch. Er war der Bibliotheksdirektor und wie ein Großvater für sie. Sein hagerer, vom Alter gebeugter Körper ließ ihn älter aussehen als seine dreiundsiebzig Jahre. „Da sind Sie ja“, sagte Mr Spofford. Er sah erleichtert aus. „Sie müssen für mich an der Sitzung des Fischereiausschusses teilnehmen.“ Anna zuckte zusammen. Mr Spofford fiel es leicht, bei Kongressanhörungen Auskünfte zu erteilen, aber für Anna war das jedes Mal eine Tortur.

Der Bibliotheksdirektor bemerkte ihre Unsicherheit. „Das wird eine ganz leichte Sitzung“, versicherte er ihr. „Der Fischereiausschuss ist eine erbärmlich kleine Gruppe. Niemand geht zu solchen Anhörungen, keine Angst. Halten Sie sich einfach bereit, falls jemand eine unserer Karten braucht.“ Dann legte er ihr einen Stapel Atlanten und Karten auf die ausgestreckten Arme.

Anna wusste, es war unwahrscheinlich, dass man ihr das Wort erteilen würde, aber allein schon die Bibliothek zu verlassen, verursachte ihr Bauchschmerzen. Und Kongressabgeordnete konnten so kompliziert sein.

Sie hoffte, mit den Vertäfelungen verschmelzen zu können und vollends unsichtbar zu werden. *** Leider hatte Mr Spofford falsch gelegen. Der Sitzungssaal war völlig überlaufen. Rings um die Eingangstür und bis weit in den Flur hinein drängten sich Zuschauer und warteten darauf, hineinzukommen. Anna zwängte sich durch die Menge und lief zur hintersten Stuhlreihe an der Wand, die für Angestellte reserviert war. Sie ergatterte den letzten freien Platz. „Was ist denn hier los?“, fragte Anna den Bediensteten neben sich im Flüsterton. „Das ist Luke Callahans erste Sitzung, seit er degradiert wurde und nun zum Fischereiausschuss gehört“, bekam sie zur Antwort. „Alle wollen sehen, ob er tatsächlich kommt und sich der Demütigung fügt.“ Das erklärte alles. Anna hatte von der Sache mit Callahan gehört. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Vergangene Woche war der Streit im 34

Plenarsaal bis in die oberste Etage des Kapitols zu hören gewesen. Luke Callahan war einer der charismatischsten Männer im Kongress, aber dem Sprecher des Repräsentantenhauses war er ein Dorn im Auge. Die Feindseligkeit zwischen den beiden Männern war übergekocht, und wie man hinter vorgehaltener Hand munkelte, hatte Mr Callahan versucht, Mr Jones einen Fausthieb zu verpassen. Der Sprecher hatte daraufhin genug von Mr Callahans Wutausbrüchen gehabt und ihn degradiert, indem er ihn in den Fischereiausschuss gesteckt hatte.

Anna ließ den Blick über die hölzernen Namensschilder auf dem Tisch in der Mitte schweifen, bis sie das von Mr Callahan entdeckte.

Sein Stuhl war noch leer. Würde er auftauchen? Den Gerüchten zufolge würde er wegen seiner aufbrausenden Art die Demütigung nicht auf sich sitzen lassen. Persönlich hatte sie ihn noch nicht gesehen, aber sie stellte ihn sich als schwerfälligen alten Mann vor.

Anna rutschte nervös auf ihrem Sitz hin und her, als ihr bewusst wurde, dass sie die einzige Frau im Raum war. Das störte sie immer wieder. Alles, was die Aufmerksamkeit auf sie ziehen konnte, wollte sie vermeiden, aber heute gab es kein Entkommen. „Platz da! Platz da!“, rief ein Junge und übertönte mit seiner jugendlichen Stimme den Lärm. Die Menge teilte sich. Ein Dienstbote drängelte sich durch die Tür und stampfte mit einem Amtsstab auf den Boden. „Platz da für den ehrenwerten Kongressabgeordneten aus Maine!“ Hinter dem Jungen trugen zwei Dienstboten eine Ledermappe und einen Aktenordner. Und hinter ihnen ... Hilfe! Mr Callahan war gar kein schwerfälliger alter Mann. Der junge Abgeordnete betrat den Sitzungssaal mit dem Selbstbewusstsein eines geborenen Anführers. Sein kastanienbraunes Haar schimmerte. Seine blauen Augen funkelten und er hatte den sonnengebräunten Teint eines Mannes, der die Natur liebte. Was Anna jedoch am meisten gefangen nahm, war sein Lächeln. Es war ungezwungen und mühelos, siegessicher und selbstbewusst. „Da sieh mal einer an, wer sich unters gemeine Volk mischt“, stichelte ein Abgeordneter am Tisch. „Das gemeine Volk? Im Gegenteil.“ Mr Callahan ließ seine Zähne blitzen und breitete die Arme aus. „Es ist mir eine Ehre, mich für die weltberühmten Fischgründe und Austernbänke dieser Nation einzusetzen. Eine ganz besondere Ehre!“ 35

Seine gute Stimmung wurde von grollendem Gelächter und Fußstampfen erwidert. Mr Callahan lief um den Tisch, klopfte den Männern auf den Rücken und flachste mit beneidenswerter Leichtigkeit herum. Er schien vor Energie nur so zu strotzen.

Ein Mann mit derart blendender Selbstsicherheit und Beliebtheit wusste ganz bestimmt nicht, wie es war, gehänselt zu werden oder Außenseiter zu sein. Er hatte sich als Kind bestimmt nie die Frage gestellt, ob heute der Tag war, an dem lauter boshafte Klassenkameraden sich um einen scharten, um herauszufinden, wie sich ein heulendes stummes Mädchen anhörte.

Die Sitzung begann und Anna verdrängte die Erinnerung. Ausschusssitzungen waren meist todlangweilig und auch jetzt zogen die Stunden träge dahin, während ein Abgeordneter aus New York versuchte, die schwächelnde Austernindustrie seines Staates zu retten. „Wir weigern uns, Steuern für Austernbänke zu entrichten, die von den Abwässern aus Schmelzhütten in New Jersey in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Abwässer vergiften die Bänke und zerstören die Uferlandschaft.“ „Unmöglich“, erwiderte ein anderer Abgeordneter. „Die Strömung fließt ganz woanders lang.“ Mr Callahan hob einen Arm und schnipste. „Das werden wir gleich haben. Eine Karte, bitte.“ Das war ihr Stichwort. Anna durchsuchte nervös die Kartenröhren neben sich nach der Karte, auf der die Meeresströmungen verzeichnet waren. „Karte!“, verlangte Mr Callahan gereizt. Ihre Blicke trafen sich. Unglaublicherweise sah er sie unentwegt an und schnipste weiter. Schnips, schnips, schnips. Erwartete er tatsächlich, dass sie aufsprang wie ein Hund, dem man „Bei Fuß!“ zugerufen hatte?

Offensichtlich ja. Die meisten Abgeordneten waren es gewohnt, dass die Leute vor ihnen einen Kratzfuß machten. Anna biss die Zähne zusammen und ging nach vorn. Sie legte die Karte vor Mr Callahan auf den Tisch und kam ihm dabei so nahe, dass sie sein nach Pinienholz duftendes Rasierwasser wahrnahm. Bevor sie wieder ging, raunte sie ihm ins Ohr: „Schnipsen funktioniert noch besser, wenn man eine Krone trägt und mit dem Zepter zeigen kann, wohin die Untertanen eilen sollen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück und hielt den ganzen Weg über die Luft an. Hatte sie tatsächlich gerade einen 36

Kongressabgeordneten gemaßregelt? Sie nahm still Platz und riskierte einen Blick zu Mr Callahan.

Er starrte sie verdutzt an, als wäre gerade seine Weltordnung durcheinandergeraten. Eine kleine Maus hatte es gewagt, dem gewaltigen Löwen in die Schnauze zu zwicken. Anna versuchte nicht zu grinsen, aber beim Versuch, es zu unterdrücken, verzog sie ihren Mund.

Das Erstaunen in Mr Callahans Gesicht wich allmählich einem Lächeln, das die Knie jedes Mädchens hätte weich werden lassen. Mr Callahan nickte ihr leicht zu und in seinen Augen spiegelte sich neuer Respekt.

Zu ihrem Entsetzen stand er kurz darauf auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf sie. „Mein Dank an die wissenschaftliche Hilfskraft dieses Ausschusses, Miss ...“ Der Satz blieb unvollendet und löste einen Adrenalinschub in Anna aus.

Lieber wollte sie öffentlich gesteinigt werden, als vor fremden Leuten reden zu müssen. Aber er wartete und alle Abgeordneten und Reporter im Raum sahen sie an. Stühle knarrten, Männer reckten die Hälse und alle Augen waren auf sie gerichtet. Am liebsten wäre Anna im Erdboden versunken. „Anna O’Brien“, murmelte sie. Die Worte reichten kaum, um ihre belegte Stimme zu lösen. „Wie war das bitte?“, fragte Mr Callahan.

Anna räusperte sich und versuchte es erneut. Aber auch jetzt klang es nur wie das Krächzen einer Kröte.

Der Bedienstete neben ihr ersparte ihr weiteres Elend. „Miss Anna O’Brien, von der Library of Congress“, sagte er mit klarer und lauter Stimme. „Miss O’Brien“, säuselte Mr Callahan. „Ich möchte mich für mein scharfes und unverzeihliches Benehmen entschuldigen. Wir ungehobelten Wilden aus dem Norden können noch viel von einer vornehmen Lady aus Washington lernen. Sie sind der Inbegriff von Anmut und Liebreiz angesichts meines flegelhaften Betragens. Ihr Verstand und Ihre Kompetenz sind ein heller Lichtstrahl im dunkelsten aller Nachmittage. Miss O’Brien, der amerikanische Kongress neigt in Dankbarkeit das Haupt vor Ihnen.“ Gemurmel und etwas Fußstampfen quittierten seine Aussage, aber dann widmeten sich die Abgeordneten wieder ihrer Arbeit.

Alle, außer Mr Callahan, der sie immer noch mit diesem neugierigen Funkeln in den Augen beobachtete.

37

Irma Joubert

Hinter dem Orangenhain

ISBN 978-3-86827-660-2 608 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen Format 13,5 x 21,5 cm erscheint im Juni 2017

Südafrika 1938 – 1968 Die kleine Persomi ist ein tapferes, kluges Mädchen, das als Tochter einer weißen Familie in Südafrika in großer Armut aufwächst. Doch in der Schule macht ihr so schnell keiner etwas vor und so hofft sie, ihrer Herkunft eines Tages entfliehen zu können.

Als Persomi in einem Prozess gegen den Mann aussagen muss, der behauptet, ihr Vater zu sein, stellt sich für sie zum ersten Mal die Frage, ob das Gesetz auch für arme Menschen gilt. In ihr erwacht der Traum, Jura zu studieren. Und sich für ein Land einzusetzen, in dem jeder die gleichen Chancen auf Gerechtigkeit hat. Doch wird sie diesen Traum verwirklichen können? Oder werden enttäuschte Hoffnungen, tragische Missverständnisse und ungeahnte Herausforderungen ihr die Flügel stutzen?

38

(…) Pérsomi kann immer noch nicht glauben, dass sie nach Weihnachten auf die weiterführende Schule gehen wird. „Mama, ist das wirklich wahr?“, hat sie gefragt. „Ein paar Leute haben mit mir gesprochen. Sie sagen, dass du weiterlernen musst. Die Regierung bezahlt das Wohnheim. Und die Frau von der Armenfürsorge kümmert sich um die Schuluniform, aber du brauchst auch noch Unterwäsche.“ In Pérsomi ist plötzlich eine unbändige Freude nach oben gesprudelt, sie wollte aus ihrem Mund, ihrer Nase und ihren Ohren strömen. Ihr ganzer Kopf ist voller Unglaube gewesen. Sie geht auf die weiterführende Schule, sie geht wirklich auf die weiterführende Schule! „Nächste Woche gehen wir ins Dorf“, hat ihre Mutter gesagt. „Und die alte Frau Fourie wird dir ein weißes Kleid für die Kirche nähen, sie sagt, dass sie noch genügend Stoff übrig hat.“ (…)

Als Pérsomi am nächsten Morgen lange vor Sonnenaufgang wach wird, scheint der Mond sehr viel heller und die Wolken sind verschwunden.

Sie steht auf und macht sich auf den Weg. Sie wird um den ganzen Berg herumgehen müssen, hinter dem Wasserfall vorbei, denn der direkte Weg ist unpassierbar. Der Boden ist nass und glitschig, die Steine spiegelglatt.

Doch sie kennt den Berg wie ihre Westentasche, kennt jeden kleinen Pfad, jeden Steinhaufen, jeden gefährlichen Abgrund. Dabei gibt ihr der Mond genügend Licht, sodass sie gut vorankommt.

Wenn sie heute ihr neues Sonntagskleid nicht anprobieren kann, bekommt Irenes Oma es vermutlich bis Montag nicht fertig, wenn sie aufs Internat geht. Um das Große Haus macht sie einen großen Bogen und nähert sich von hinten dem Alten Haus.

Die Hintertür steht offen und ein Gefühl der Unsicherheit fängt in ihrem Bauch an zu glühen. Langsam geht sie bis zur Tür. In der Küche sitzen der mürrische Herr Fourie, die alte Frau Fourie und ihr Enkel Boelie am Tisch und trinken Kaffee. Das Verlangen wegzurennen kribbelt ihr in den Beinen.

Dann klopft sie fest entschlossen an. „Guten Morgen Frau Fourie Herr Fourie Boelie ich komme weil ich mein Kleid anprobieren möchte“, verkündet sie in einem Atemzug. „Kind!“, erwidert Frau Fourie überrascht. „Pérsomi!“, ruft Boelie genauso überrascht. „Wie bist du denn bloß 39

hierhergekommen? Du bist doch wohl hoffentlich nicht durch den Fluss …“ „Ich bin um den Berg herumgelaufen, hinter dem Wasserfall vorbei“, antwortet sie. „Ich muss doch mein Kleid anprobieren.“ „Aber da bist du doch einen halben Tag unterwegs gewesen?“ Er hört sich immer noch völlig verblüfft an. „Ich bin früh aufgebrochen“, entgegnet sie. „Möchtest du einen Kaffee?“, will er wissen. „Komm doch herein.“ „Ich bin völlig verdreckt.“ „Ja, du siehst aus, als wärst du durch den Schlamm hierher gerobbt“, erwidert die alte Frau Fourie fast schon böse. „Geh dich erst einmal draußen an der Waschschüssel waschen, danach kannst du anprobieren kommen.“ Als sie wenig später das Kleid anzieht, kann sie nicht anders als sagen: „Das ist ein sehr schönes Kleid, Frau Fourie.“ „Ja“, entgegnet Irenes Oma, den Mund voller Stecknadeln, „du musst ja nun einmal anständig aussehen, wenn du in die Kirche gehst.“ „Vielen Dank“, erwidert Pérsomi.

Das ist das erste neue Kleid, das Pérsomi jemals bekommen hat. Und es ist ihr nicht viel zu weit oder viel zu kurz. Sie kann ihre Augen nicht von ihm wenden. „Ich habe das Kleid ein wenig großzügiger geschnitten, dann kann es noch ein paar Jahre seinen Dienst tun“, erklärt Irenes Großmutter. „Du kannst es morgen oder übermorgen abholen kommen, wenn der Fluss nicht mehr so hoch steht. Ich möchte nicht, dass du noch einmal um den ganzen Berg herumläufst, das ist zu gefährlich.“ „Vielen Dank“, sagt Pérsomi noch einmal.

Als sie wieder durch die Küche zur Hintertür geht, ist Boelie verschwunden. Sie riecht den Kaffeeduft, doch niemand hat ihr eine Tasse eingeschenkt.

Zielstrebig geht sie am Großen Haus vorbei, an der Scheune entlang und macht sich auf den Weg zum Berg. Als sie am Pferch vorbeikommt, biegt Boelie gerade um die Ecke. „Bist du fertig mit Anprobieren?“, will er wissen. „Ja.“ „Und jetzt gehst du wieder um den Berg herum zurück?“, fragt er ein bisschen ungläubig. „Ja.“ 40

Er schüttelt den Kopf. „Heute Morgen hast du doch sicher noch nichts zu essen gehabt? Wie früh hast du dich denn auf den Weg gemacht?“ „Früh.“ „Warte hier“, fordert er sie auf und geht hinüber zum Großen Haus.

Als er wieder zurückkommt, reicht er ihr zwei Stücke Zwieback. „Hier, iss das“, sagt er und schlendert neben ihr her.

Der trockene Zwieback droht ihr die ganze Zeit in der Kehle stecken zu bleiben. Neben ihr läuft Boelie mit langen, geschmeidigen Schritten. „Pérsomi, weißt du eigentlich, was dich da erwartet? In dem Wohnheim, meine ich?“, fragt er nach einer Weile. „Eigentlich nicht“, gibt sie zu, den Mund voller Zwieback. „Hmm“, erwidert er. Dabei schaut er sie aber nicht an, sondern hat die Augen auf den Weg gerichtet. „Du musst da dein Bett selber machen und bei Tisch mit Messer und Gabel essen.“ Boelie weiß, wie es bei uns zu Hause ist, denkt sie verlegen. Sie wollte, es wäre anders. „Das weiß ich schon“, antwortet sie leise. „Ich werde einfach gut aufpassen, wie es die anderen machen.“ „Ja“, erwidert er. Nachdem sie eine Weile schweigend weitergegangen sind, fragt er sie schließlich: „Hast du schon so Sachen wie Seife, eine Zahnbürste und ein Handtuch und so etwas?“ Sie merkt, dass sie vor Scham ganz rot wird. Boelie weiß alles. Als sie ihm keine Antwort gibt, verkündet Boelie: „Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.“ „Danke“, erwidert sie leise. (…) *** Zusammen mit anderen Mädchen geht Pérsomi zur Schule. Sie sehen alle genau gleich aus: weiße Bluse, schwarzer Rock, weiße Socken und schwarze Schnürschuhe. In langen Reihen sitzen sie in dem großen Saal, Hunderte von Kindern in einem Raum. Dort werden sie in die Klassen eingeteilt.

Plötzlich sitzt sie mit vierundzwanzig anderen in einer Klasse. Sie geht in eine B-Klasse, das System durchschaut sie schnell: Oh nein, ein Beiwohnerkind, setz das lieber zur Sicherheit in die B-Klasse.

Doch schon nach der großen Pause wird Pérsomi in die A-Klasse versetzt.

41

„Holt eure Rechenbücher heraus“, befiehlt der Lehrer.

Alle Kinder fangen an, in ihren Taschen herumzuwühlen, und legen ein Buch vor sich auf die Schulbank. Und auch nagelneue Bleistifte, Füllfederhalter, Lineale und Zirkel – alles.

Pérsomi besitzt nichts davon. „Schlagt Seite fünf auf“, fordert der Lehrer sie auf. Überall wird geblättert. Pérsomi rührt keinen Finger. „Lest jetzt Übung Nummer vier. Wer kann mir sagen …“ Plötzlich hält er inne.

Pérsomi schaut direkt auf ihre hölzerne Tischplatte. „Mädchen, wo ist dein Buch?“, fragt der Lehrer streng.

Langsam schaut Pérsomi auf. Er sieht sie direkt an. Mühsam steht sie auf. Die Augen der ganzen Klasse sind auf sie gerichtet. „Pérsomi ist ein Kind der Armenfürsorge, die muss Gratisbücher bekommen“, verkündet Irene mit einem Mal laut und deutlich Die Worte bleiben im Raum hängen. Kind der Armenfürsorge. Und sie kann nirgendwohin rennen. *** Sofort nach der Schule müssen sie alle aufs Rugbyfeld. Dort müssen sie sich in Reihen aufstellen. Pérsomi steht zwischen all den anderen Kindern der Unterstufe. „Auf die Plätze – fertig – los!“, ruft der Lehrer, noch bevor Pérsomi am weißen Strich angekommen ist. Die Mädchen rennen los.

Für einen Augenblick steht Pérsomi ganz verdattert da. „Renn!“, brüllt der Lehrer sie an.

Da rennt sie los. Ihre langen Beine fliegen über den Platz. Nach ein paar Sekunden hat sie die letzten Mädchen eingeholt. Ein befreiendes Gefühl macht sich in ihren Beinen breit, jetzt wo ihre Füße von den drückenden Schuhen erlöst sind. Nach der Hälfte des Platzes sind nur noch drei Mädchen vor ihr. Sie rennt die Erniedrigung der Armenfürsorge weg, ihren alten Rock, ihre abgewetzte Bluse und ihr verschlissenes Kleid, in dem sie schläft, lässt sie weit hinter sich, und sie flieht vor den Gratisschulbüchern.

Fünf Schritte vor dem weißen Streifen am anderen Ende des Feldes hat sie auch das schnellste Mädchen überholt. „Du meine Güte, Kind, was 42

kannst du rennen, hör mal!“, verkündet das Fräulein, das ihren Namen auf eine Liste schreibt. „Kannst du auch weit und hoch springen?“ Der Weitsprung ist einfach: Sie rennt an, stößt sich weg und landet trockenen Fußes auf der anderen Seite des Wasserlochs. Der Hochsprung ist tatsächlich völlig neu für sie. „Das wirst du ganz schnell lernen“, beruhigt sie der Lehrer. „Du hast lange Beine. Du musst nur eine Beinschere machen, wenn du über die Latte springst.“ *** Jedes Jahr finden am zweiten Samstag des ersten Quartals die Athletikwettkämpfe statt und am Montagmorgen danach wird der Direktor die Namen der Kinder bekannt geben, die in die Schulmannschaft aufgenommen werden.

Der Samstag wird der strahlendste Tag in Pérsomis Leben. Sie geht hinter der weißen Linie in die Hocke und holt eine Auszeichnung nach der anderen. Mit ihren langen Beinen rennt sie über den kurzen Anlaufweg und fliegt dann über die Sandkiste. Sie stopft sich den Saum ihres kurzen Röckchens in die elastischen Hosenbeine ihres Gymnastikanzugs und segelt über die Querlatte. Wieder und wieder steht sie auf der höchsten Stufe des Siegerpodestes. Als Letzte wird ihr das Staffelholz in die Hand gedrückt und als Erste rennt sie durch das gespannte weiße Band. Ihr Team explodiert geradezu vor Freude.

Während sie am späten Nachmittag zum Wohnheim zurückschlendern, sagt Beth, ihre Zimmernachbarin: „Du warst so gut, Pérsomi! Der Herr hat dich wirklich mit unglaublichen Talenten gesegnet.“ Am Montagmorgen steht auf dem Podium vorn im großen Saal ein Tisch mit sechs Pokalen darauf. Heute wird der Direktor in Gegenwart von allen die Namen derjenigen Schüler vorlesen, die Mitglied in der Schulmannschaft werden, denkt Pérsomi ein bisschen aufgeregt. Sie weiß, dass ihr Name auch dabei sein wird.

Nachdem der Direktor die Versammlung eröffnet hat, liest er die Namen vor. Pérsomis Name wird vorgelesen. Als alle Namen genannt sind, wird geklatscht. „Und jetzt zu unseren Spitzensportlern“, ruft der Direktor. „Es ist sicher 43

keine Überraschung mehr, wer die Gewinnerin in der Unterstufe ist: Pérsomi Pieterse!“ Wie benommen vernimmt Pérsomi ihren Namen.

Ihr Team bricht in Freudengeschrei aus.

Langsam, aber sicher macht sich in Pérsomis Kopf die Erkenntnis breit: Sie hat einen Pokal gewonnen.

Beth stößt sie an. „Du musst aufs Podium!“, übertönt sie den Jubel.

Pérsomi steigt die vier Stufen des Treppchens hinauf, während alle anderen Kinder klatschen. Der Direktor schüttelt ihr die Hand. „Herzlichen Glückwunsch, Pérsomi“, sagt er. „Wir sehen voller Spannung und Vertrauen deiner Teilnahme am Wettkampf mit anderen Schulen entgegen.“ Den ganzen Tag über fühlt sie sich wirklich wie ein ganz normaler Mensch. *** Am Freitag der darauffolgenden Woche fragt Herr Nienaber Pérsomi, ob sie auf seine Kinder aufpassen könne. Er und seine Frau würden gern am Abend tanzen gehen.

Am Samstagabend schlendert Pérsomi langsam zum Haus ihres Sportlehrers. Zögernd klopft sie an. „Komm herein, Pérsomi!“, ruft eine Frauenstimme.

Sie öffnet die Haustür. Dann macht sie einen Schritt über die Schwelle und schließt die Tür hinter sich wieder.

Sie befindet sich in einem halbdunklen Flur. Auf der linken Seite sind zwei Türen und auf der rechten ein Durchgang mit einem Bogen darüber, der in ein weiteres Zimmer führt. Dort muss das Wohnzimmer sein, denkt sie flüchtig, denn sie sieht dort Stühle stehen, ein Sofa und ein niedriges Tischchen.

Die Holzdielen des Flures knacken unter ihren Füßen. Am Ende des Flures befindet sich die Küche. „Hallo, du bist sicher Pérsomi, oder? Ich habe dich letzte Woche Samstag laufen sehen“, wird sie von einer freundlichen Frau begrüßt. „Ich bin Frau Nienaber.“ Sie ist klein, hat dunkle Locken und fröhliche braune Augen und sie trägt ein wunderschönes, tief-rotes Abendkleid.

44

„Guten Abend“, erwidert Pérsomi. „Und das sind Jacomien und Hennie.“ „Hallo“, sagt Pérsomi. Hennie ist noch klein. Er sitzt in einem Hochstuhl und kleistert ihn mit einem dünnen Brei voll. Jacomien ist wenigstens drei. Sie schaut Pérsomi mit einem wütenden Gesicht an, sagt aber nichts. „Sie sind noch nicht mit dem Essen fertig“, erklärt Frau Nienaber. „Wenn sie fertig sind, kannst du sie baden und dann musst du ihnen Geschichten vorlesen, bis sie einschlafen. Hennie hat auch noch eine Windel an. Traust du dir das zu, was denkst du?“ „Ja, sicher“, antwortet Pérsomi. „Das ist kein Problem.“ „Wir müssen los“, ruft Herr Nienaber hinter ihr. „Klappt alles?“ „Ja, Herr Nienaber, mit kleinen Kindern kenne ich mich aus“, erwidert Pérsomi. „Genießen Sie mal Ihren Abend außer Haus.“ „Du bist ein Engel“, sagt Frau Nienaber und nimmt ihre Handtasche. „Schlaft gut, ihr Süßen, und seid lieb, hört ihr?“ Es wird ein schwieriger Abend. Hennie schreit Zeter und Mordio, als Pérsomi ihn aus der Wanne holt. Als sie ihn endlich mit seinem Fläschchen in seine Wiege gelegt hat, schläft er schließlich ein.

Mit Jacomien ist es eine andere Geschichte. Trotzig-umständlich zieht sie sich ihren Schlafanzug selbst an, putzt sich die Zähne und will dann zu ihrer Mutter.

Dennoch gelingt es Pérsomi schließlich, das Mädchen zu beruhigen, bis es auf ihrem Schoß einschläft.

Ich werde etwas aus meinem Leben machen, nimmt sie sich vor. Ich werde später auch in einem richtigen Haus wohnen und gut kochen und die weichen Körper von meinen Kindern in einer warmen Badewanne mit einer gut riechenden Seife waschen. Ich werde mir später einen guten Beruf suchen und einen Mann heiraten, der gut für mich sorgen kann.

Meine Kinder sollen niemals erfahren, wie es ist, wenn man Hunger hat, sie sollen keine Kleider der Armenfürsorge anziehen müssen, niemals für Gratisbücher anstehen müssen, und unter keinen Umständen auf einer kahlen Matratze unter einer dünnen, kribbeligen Decke schlafen müssen.

45

Lisa Wingate

Der Ruf des Meeres

ISBN 978-3-86827-667-1 ca. 380 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im September 2017

Die erfolgreiche Restaurantbesitzerin Whitney will expandieren. Da kommt es ihr gerade recht, dass ihre Mutter ihr ein altes Hotel am Atlantik vererbt. Vielleicht lässt es sich ja noch zu Geld machen? Doch ihre Sondierungsreise nach Roanoke Island stellt Whitney vor ungeahnte Schwierigkeiten: Sie muss sich nicht nur mit ihrem Stiefvater auseinandersetzen, der für sie lange ein Fremder war, sondern auch noch mit Mark, der in dem historischen Gebäude einen Surfshop betreibt und von ihren Plänen alles andere als begeistert ist. Außerdem hält das alte Gemäuer für Whitney die eine oder andere rätselhafte Entdeckung bereit.

Während sie die Schätze sichtet, die das Hotel birgt, beginnt für sie eine Reise zu ungeahnten Familiengeheimnissen …

46

Vielleicht ist Leugnen ein Schutzmechanismus, um das Herz vor einem Tiefschlag abzuschirmen, den es nicht verkraftet. Vielleicht ist die Sache aber auch viel banaler. Vielleicht ist Leugnen einfach ein Nebenprodukt von Eigensinn, der etwas trotz erdrückender Beweise nicht wahrhaben will.

Ich hätte nicht sagen können, welche Erklärung in meinem Fall zutraf, als ich jetzt im Türrahmen stand, eine zitternde Hand auf dem Türgriff und in der anderen die Schlüssel, aber ich konnte nur eines denken: Das darf nicht wahr sein! So kann es doch nicht enden! Alles ist so … still. Wenn ein Traum stirbt, sollte man das wenigstens hören. Es steht ihm zu, in einem theatralischen Ruhmesfeuer zu erlöschen. Es sollte eine dramatische Sterbeszene geben, ein ächzendes Ringen nach Luft. Irgendetwas.

Denise legte eine Hand auf meine Schulter und flüsterte: „Geht es dir gut?“ Ihre Stimme wurde beim letzten Wort ganz leise und klang gebrochen. „Nein.“ Bitterkeit verschärfte die Härte des Wortes. Aber sie war nicht gegen Denise gerichtet, das wusste sie. „Hier ist überhaupt nichts gut.

Absolut gar nichts! „Das stimmt.“ Sie lehnte sich an den Türrahmen und legte den Kopf so, dass ihre Wange das Holz berührte. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob es die Sache besser oder schlimmer macht, wenn wir hier stehen und es uns ansehen. Zum endgültig letzten Mal.“ „Wir haben so viel Energie in dieses Projekt gesteckt.“ Denises Haare fielen wie ein heller, seidiger Vorhang über ihre Schultern. Wir waren zwar Cousinen, aber wir waren schon immer sehr verschieden gewesen: Denise war rotblond und hatte Sommersprossen, ich war dunkelhaarig und hatte einen braunen Teint. Denise war häuslich und ich war ständig auf Wanderschaft. „Whitney, wir müssen es aufgeben. Sonst verlieren wir am Ende beide Restaurants.“ „Ich weiß. Ich weiß, dass du recht hast.“ Trotzdem rebellierte etwas in mir. Alles in mir rebellierte. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, schon wieder in die Enge getrieben zu werden. „Ich verstehe, dass du nur vernünftig bist. Außerdem musst du an Mattie denken. Und an deine Großmutter. Wir müssen den Schaden begrenzen, solange wir das erste Restaurant behalten können.“ „Es tut mir leid“, flüsterte Denise traurig. Da es Menschen gab, die von 47

ihr abhängig waren, konnte sie kein weiteres Risiko eingehen. Wir waren in diesem Kleinkrieg, in dem ein unfairer Angriff auf den anderen folgte, schon viel zu weit gegangen. Wir kämpften gegen korrupte Bezirksbeamte, Baubehörden, die sich schmieren ließen, und viele andere, die mit einheimischen Geschäftsleuten unter einer Decke steckten, die in diesem Kaff keine Konkurrenz zulassen wollten.

Denise und ich hätten uns die Umgebung genauer ansehen sollen, bevor wir uns in das Fabrikgebäude mit seinem rustikalen Charme verliebt und beschlossen hatten, dass es ideal wäre, um hier ein zweites Bella Tazza und unser erstes richtig vornehmes Restaurant zu eröffnen. In den letzten elf Monaten hatten wir öfter geschlossen als geöffnet gehabt. Jedes Mal, wenn wir gedacht hatten, wir hätten den Kampf gewonnen und könnten unsere Gaststättenlizenz behalten, flatterte ein neuer Bescheid mit kostenintensiven Auflagen ins Haus, und wir mussten vorübergehend schließen, bis wir die Auflagen erfüllten.

Du bist hier nicht diejenige, die sich entschuldigen muss, wollte ich zu Denise sagen, aber ich tat es nicht. Stattdessen sank ich auf eine Bank und betrachtete die Wandbemalung, die Denise und ich nach langen Arbeitstagen im Bella Tazza 1 im Nachbarbezirk hier angebracht hatten.

Mir wurde wieder übel. „Sobald wir den Mietvertrag kündigen, werden sie wie Geier über dieses Gebäude herfallen.“ Denise sprach aus, was ich dachte. Sie war zwar meine Cousine, aber eigentlich war sie eher wie eine große Schwester für mich. „Diese Aasgeier!“ „Ja, das ist das Schlimmste dabei.“ Aber das stimmte nicht. Das Schlimmste war, dass es meine Schuld war. Ich war dafür verantwortlich, dass wir überhaupt so weit gegangen waren, um das Tazza 2 zu behalten.

Denise hätte sich Tagg Harper und seinen Handlangern schon längst ergeben. Denise wäre kein Risiko eingegangen.

Meine Schuldgefühle, die sich Stein für Stein aufhäuften, wurden immer schwerer, während wir über den Parkplatz zu unseren Autos gingen.

Wenn ich vor fünf Jahren nicht nach Michigan zurückgekehrt wäre und Denise überredet hätte, mit mir ein Restaurant zu eröffnen, hätte sie immer noch eine sichere Stelle als Lehrerin. Aber ich hatte einen großen Gewinn eingefahren, nachdem ich eine Stelle im gehobenen Management gekündigt, ein eigenes Bistro in Dallas eröffnet, es erfolgreich betrieben 48

und dann mit gutem Gewinn wieder verkauft hatte. Mit vierhunderttausend Dollar in der Tasche war ich mir so sicher gewesen, dass ich die perfekte Erfolgsformel gefunden hatte. Ich hatte mir eingeredet, ich würde meiner Cousine etwas Gutes tun, weil ich ihr den ständigen Kampf ersparte, mit ihrem kleinen Lehrerinnengehalt allein ihren Unterhalt zu bestreiten, und für Matties Asthmabehandlung aufzukommen.

Denise hatte vermutlich gehofft, ein gemeinsames Geschäft zu eröffnen würde irgendwie meine innere Unruhe stillen, die mich von der Kochschule in die entferntesten Winkel der Welt geführt hatte, wo ich für eine internationale Restaurantkette erstklassige Niederlassungen eröffnet hatte. „Wir sehen uns dann morgen früh, Whitney.“ Denise umarmte mich kurz, stieg in ihr Auto, ließ den Motor an und fuhr mit knirschenden Reifen über die vereisten Stellen, die der Polarwirbelwinter zurückgelassen hatte. *** „Ich weiß, dass es verrückt klingt. Hör mir bitte zu, Denise.“ In besseren Zeiten hätte ich vielleicht noch einmal in Ruhe über meine Idee nachgedacht, besonders da Denise dagegen war, aber im Moment schob ich alle Zweifel genauso vehement aus dem Weg wie ein Titanic-Passagier, der versucht, sich zu einem Rettungsboot durchzukämpfen. „Vergiss nicht, dass wir von einem alten Mann sprechen, der im Badezimmer gestürzt ist und dort vier Tage am Boden lag. Zumindest hat das der Anrufer gestern Abend so gesagt. Ja, ich weiß, dass Clyde Franczyk nicht einfach irgendein alter Mann ist, aber ich denke, dass mir nichts passiert, wenn ich dorthin fahre. Jemand muss es tun und seine Söhne haben offenbar keinen Kontakt zu ihm, sonst hätte der Nachbar sie und nicht mich angerufen.“ „Du willst also wirklich auf die Outer Banks fahren, um Clyde Franczyk zu helfen? Dem Mann, der deine Mutter eingewickelt hat, damit sie ihm vermacht hat, was eigentlich dir gehört hätte?“ Denise bereitete den Teig für das Brot zu. Eine Mehlwolke stieg von ihren fuchtelnden Händen auf. „Hast du vergessen, wie er sich bei der Beerdigung aufgeführt hat? “ „Natürlich nicht.“ Dank Clyde war die Trauerfeier am Grab fast zu einem Familienstreit eskaliert. „Aber dieses Gebäude in Manteo gehört mir.

Ja, er hat das Recht, dort zu wohnen, solange er will, aber er kann mich nicht daran hindern, es zu betreten. Ich war bis jetzt vielleicht nicht dazu 49

bereit, aber es ist Zeit, diesem Problem nicht länger auszuweichen. Meine Mutter hat mich jahrelang gebeten, die Sachen meiner Großmutter durchzusehen. Ich hatte einfach … keine Zeit, mich damit zu befassen.“ „Und jetzt willst du was machen? Du willst einfach dort hineinmarschieren, die Familienerbstücke durchsehen, ein paar Sachen verkaufen und das Geld, das du dafür bekommst, in den Kampf gegen Tagg Harper investieren? Wenn du schon dabei bist, kannst du deinen Stiefvater vielleicht nebenbei überreden, in ein Pflegeheim zu ziehen, damit du das Gebäude auch noch verkaufen kannst.“ Sie hustete, weil ihr Mehlstaub in die Nase gestiegen war. Als sie wieder Luft bekam, standen ihr Tränen in den Augen. Und ich sah ihre Sorge, dass ich mit dem Gebäude und allem, was noch darin war, einschließlich Clyde, überfordert sein könnte. „Komm schon, Whitney, wir sprechen hier von dem Mann, der dir nicht einmal erlaubt hat, deine tote Mutter zu sehen. Wir wissen, dass er egoistisch, besitzergreifend und gemein ist. Du musst dich von ihm fernhalten.“ „Ich muss hinfahren.“ Ich wollte nicht ohne Denises Segen fahren. Ich hatte sowieso schon das Gefühl, sie mit dem Bella Tazza im Stich zu lassen.

In Wirklichkeit wollte ich überhaupt nicht auf die Outer Banks fahren. Ein Teil von mir – der alte Teil, der um die Welt gereist war und nirgends lang genug geblieben war, um enge Beziehungen aufzubauen – wollte kneifen und in ein völlig neues Leben flüchten. Wenn Denise, Mattie und die Tazza-Angestellten nicht gewesen wären, hätte ich das machen können. Ich war noch nicht einmal vierzig. Ich hatte also noch genug Zeit, um irgendwo neu anzufangen. Die Restaurantkette, für die ich gearbeitet hatte, hätte mich mit Kusshand wieder eingestellt. Ich hätte irgendwo weit weg von hier wieder auf die Beine kommen können, ohne auch nur einen Gedanken an Clyde Franczyk und das alte Hotel am Meer zu verwenden, in dem fast hundert Jahre der schweren, oft tragischen Geschichte der Familie meines Vaters steckten. „Glaube mir, Denise, ich habe mir die Sache gut überlegt. Ich sehe mehrere Möglichkeiten. In seinem Alter wäre es für Clyde besser, wenn er sich mit seinen Söhnen ausspricht und zu ihnen zieht. Vielleicht kann ich ihnen helfen, sich zu versöhnen. Mama hat immer gehofft, sie könnte etwas tun, um ihre Beziehung zu verbessern. Sie hatte das Gefühl, sie wäre der Grund für ihre Probleme, obwohl das nie ihre Absicht war.“ „Willst du das alles jetzt für deine Mutter machen?“ 50

„Es ist für alle Beteiligten am besten. Und egal, ob sich Clyde mit seiner Familie wieder versöhnt oder nicht, geht es ja nicht nur um das Gebäude.

In der ersten Etage lagern immer noch diese ganzen Sachen. Die Familie meines Vaters war sehr wohlhabend. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was alles in der Penthouse-Wohnung in der zweiten Etage herumstand, als Mama und ich jeden Sommer im Hotel gearbeitet haben. Ich habe keine Ahnung, was davon noch übrig ist.“ Denise zog eine Braue hoch. „Whitney, nach dem, was bei der Beerdigung passiert ist, musst du damit rechnen, erschossen zu werden. Hast du eigentlich daran gedacht, dass Clyde vielleicht schon alles verkauft hat, was von Wert war?“ „Das weiß ich erst, wenn ich hinfahre.“ Mein Rücken versteifte sich und meine Entschlossenheit wuchs. „Ich muss versuchen zu tun, was ich kann, Denise. Das würde meine Mutter wollen, und es könnte uns allen weiterhelfen.“ Ich deutete in die leere Küche, in der jede Nische von unserer schweren Arbeit zeugte.

Denise teilte den Teig in klebrige Klumpen und setzte sie auf Rostbleche. „Ich weiß nicht recht. Bei der Vorstellung, dass du nach Manteo fährst, habe ich einfach kein gutes Gefühl. Vielleicht liegt das aber zum Teil auch einfach an früher. Ich war immer etwas neidisch, weil ihr jeden Sommer auf einer Insel verbracht habt. Das klang alles so romantisch!

Aber ich will ehrlich sein: Ich mache mir wirklich Sorgen. Ist dir eigentlich klar, dass es hier nicht nur um alte Familienerbstücke geht? In dem Gebäude sind auch die persönlichen Sachen deiner Mutter. Du warst dort nicht mehr, seit … Whitney, das Hotel war der letzte Ort, an dem du sie lebend gesehen hast! Bist du dir sicher, dass du in der richtigen Verfassung bist, um jetzt dorthin zu fahren?“ „Clydes gesundheitliche Probleme sind nun einmal jetzt aufgetreten.“ Im Grunde genommen war ich mir keineswegs sicher, ob ich in der Verfassung war, diesen Schritt zu gehen. Aber er war richtig.

Denise hob eine mit Teig beklebte Hand. „Okay. Also gut. Wenn du meinst, dass du das wirklich tun musst, stehe ich hinter dir. Ich halte dir den Rücken frei, aber ich will, dass du vorsichtig bist und auf dich aufpasst.“ „Ich passe auf“, versprach ich ihr. Aber ich hatte keine Ahnung, was mich auf den Outer Banks erwartete …

51

Ann H. Gabhart

Ein Sommer des Glücks

ISBN 978-3-86827-668-8 318 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Juni 2017

Hollyhill 1964/65 Jocie Brooke hat eigentlich geglaubt, dass nach den dramatischen Ereignissen des Sommers 1964 sie nichts mehr würde umhauen können. Aber das war noch gar nichts im Vergleich dazu, was jetzt auf sie, ihre Familie und die restlichen Bewohner von Hollyhill zukommt. Ihr Vater David nimmt endlich all seinen Mut zusammen und stellt Leigh die Frage aller Fragen. Doch dürfen die beiden wirklich auf ein Happy End hoffen?

Denn es gibt jemanden, der ihre Hochzeit um jeden Preis verhindern will.

Und der nichts unversucht lässt, um an sein Ziel zu gelangen. Als dann auch noch zwei Menschen in Hollyhill auftauchen, mit denen dort nun wirklich niemand gerechnet hat, ist irgendwann gar nichts mehr sicher.

Wird er tatsächlich kommen: Jocies langersehnter Sommer des Glücks?

Der fulminante Abschluss der Trilogie rund um die Familie Brooke.

52

Der Diamant war klein. Noch kleiner sogar, als er ihn in Erinnerung hatte. David Brooke saß an seinem Schreibtisch im Büro des Hollyhill Banner und starrte auf den Ring seiner Mutter. Im Vorzimmer hieb Zella auf ihre Schreibmaschine ein und hinter ihm spuckte die Druckerpresse die ersten Anzeigenseiten der nächsten Zeitungsausgabe aus.

Das Poltern der Presse war ein gutes Geräusch. Es bedeutete, dass nichts kaputt war. Gott sei Dank, dass Wes wieder arbeiten und das launische Ding am Laufen halten konnte. Jocie versuchte, den Lärm zu übertönen, als sie Wes etwas zurief, dann lachte sie. David konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber auch das war ein gutes Geräusch. Dass seine Tochter lachte, glücklich war und ganz sie selbst.

Sie würde ihn auslachen, wenn sie sähe, wie er den Diamanten anstarrte und sich wünschte, der Stein wäre größer. Eigentlich sollte er an seinem Editorial arbeiten. Das hatte er als Grund dafür angegeben, dass er die Tür zum Büro geschlossen hatte. Aber über seinen Herausgebertext machte er sich eigentlich gar keine Gedanken. Er könnte mit Leichtigkeit ein paar Absätze über den neuen Weihnachtsschmuck zusammenschreiben, den der Stadtrat endlich genehmigt hatte und der gerade an den Straßenlaternen der Main Street aufgehängt worden war. Grüne Plastikkränze mit roten Beeren. Nachts im Schein der Laternen sahen sie beinahe hübsch aus. Und wenn er dann noch nicht genügend Wörter zusammenhätte, könnte er immer noch etwas über den Weihnachtsumzug hinzufügen, der am Samstag stattfinden würde.

Mit dem Umzug sollte in Hollyhill die weihnachtliche Einkaufssaison 1964 eingeläutet werden. Die Geschäfte in der Main Street lockten mit Sonderangeboten und verteilten Pfefferminzstangen und Zuckerplätzchen, um die Einwohner der Stadt dazu zu bewegen, bei ihnen zu kaufen, anstatt nach Grundy oder Lexington zu fahren, um ihre Einkäufe dort in den großen Kaufhäusern zu tätigen. Wenigstens hatte die Stadt mit der Werbeaktion zum Geschenkekaufen bis nach Thanksgiving gewartet.

Nicht alle hatten so lange gewartet. Zella hatte ihm letzte Woche berichtet, sie habe ihre Geschenke schon vor Wochen gekauft. Wochen!

Dann hatte sie ihm diesen prüfenden Blick zugeworfen, unter dem er sich immer wie ein verlegener Zehnjähriger fühlte, und gefragt: „Und was schenkst du Leigh?“ Als er etwas davon gestammelt hatte, dass ja noch genug Zeit zum Ein53

kaufen sei, hatte sie die Augen noch etwas mehr zusammengekniffen und gesagt: „Also wirklich, David. Manchmal glaube ich, du bist ein hoffnungsloser Fall. Du kannst nicht an Heiligabend losziehen und Leigh eine Schachtel dieser schrecklichen Pralinen kaufen, in die man den Finger stecken muss, um zu sehen, ob sie überhaupt essbar sind, und erwarten, dass sie sich freut. Immerhin geht ihr seit Monaten miteinander aus. Wenn gemeinsame Gemeindeveranstaltungen und Besuche im Grover’s Grill als Ausgehen gelten können.“ „Wir haben ein Picknick gemacht.“ David war wichtig gewesen, dass Zella den einzigen Versuch eines romantischen Rendezvous nicht vergaß. „Klar.“ Zella hatte die Augen verdreht. „Auf der Kuhwiese hinter eurem Haus. Das war für das arme Mädchen bestimmt der Höhepunkt des Jahres.“ „Tabithas Baby konnte jeden Augenblick kommen. Wir mussten doch in der Nähe bleiben.“ „Und wie alt ist dein Enkel jetzt?“ „In der nächsten Woche wird es drei Monate.“ „Genau.“ Zella hatte ihn angefunkelt. „Leigh hat sich nicht beschwert. Sie sagt immer, sie mag unsere Runden im Park und die Basketballspiele der Hollyhill Tigers.“ „Natürlich beklagt sie sich nicht. Dafür ist sie zu nett. Vielleicht netter, als ihr guttut. Aber ich sage dir, David, sie ist ein Schatz. Und es wird Zeit, dass du die Augen aufmachst und das erkennst. Sie hat etwas besonders Schönes zu Weihnachten verdient.“ Zella hatte ihm den Zeigefinger in die Brust gebohrt. „Von dir.“ „Du hast ja recht.“ Zella zuzustimmen, war manchmal die schnellste Methode, um sie von ihrem Kriegspfad abzubringen. „Ich gehe nächste Woche einkaufen.“ „Aber kein Strickset mit Mütze und Handschuhen oder so etwas. Etwas Romantisches.“ Zellas Miene hatte sich von streng zu verträumt gewandelt, so als würde sie im Geiste den letzten Liebesroman, den sie gelesen hatte, nach Ideen durchforsten. „Ein Parfüm. Nicht das billige Zeug, sondern etwas, das in der Drogerie hinter der Theke steht. Chanel Nummer 5 vielleicht. Oder ein goldenes Medaillon. Ja, das wäre noch besser. Echtes Gold natürlich.“ „Wie wäre es mit goldfarbenen Hausschuhen? Leigh hat neulich gesagt, 54

der Boden in ihrer Wohnung sei immer so kalt“, hatte David versucht, einen Scherz zu machen.

Zella war nicht zu Scherzen aufgelegt gewesen. Sie hatte ihn entsetzt angeschaut. „Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall. Ich weiß nicht, was Leigh an dir findet.“ „Ich auch nicht“, hatte David zugegeben.

Aber Leigh fand etwas an ihm und darüber war er froh. Er wollte, dass sie weiterhin etwas an ihm fand, auch wenn er eigentlich zu alt für sie war und keine Ahnung von Romantik hatte. Das war der Grund, warum er jetzt auf den Ring starrte, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

Er wischte den Diamanten mit dem Ärmel seines Pullovers ab. Dadurch glänzte er ein bisschen mehr, aber größer wurde der Stein davon auch nicht.

Als David den Ring vor sechs Jahren zum letzten Mal am Finger seiner Mutter gesehen hatte, war ihm der Stein nicht so klein vorgekommen. Er hatte gedacht, der Ring würde mit ihr begraben, aber nach der Trauerfeier hatte Gordon Hazelton ihm die Ringe seiner Mutter und ihre Uhr in einem kleinen braunen Umschlag übergeben und ihm gesagt, er solle sich erst nächste Woche Gedanken über die Bezahlung der Beerdigung machen. Als ob eine Woche etwas daran geändert hätte, wie viel Geld David auf dem Konto hatte.

Geld. In der Bibel stand, dass Menschen sich keine Sorgen um Geld machen sollten. David hatte Predigten darüber gehalten, dass Christen dem Herrn vertrauen sollten, was ihre Bedürfnisse betraf. Er warf einen Blick auf den Stapel Rechnungen, der auf der Ecke seines Schreibtischs lag. Krankenhaus- und Arztrechnungen. Es war erstaunlich, wie viel es gekostet hatte, Stephen Lee auf die Welt zu holen. Und dann waren sie letzte Woche auch noch aufgestanden und hatten gesehen, dass der Kühlschrank in einer Pfütze stand. Wilson vom Haushaltswarengeschäft am Ende der Straße hatte gesagt, eine Reparatur lohne sich nicht und so hatte David sich von ihm überreden lassen, einen neuen Kühlschrank zu kaufen, anstatt zu warten, bis er einen gebrauchten fand. Schließlich mussten sie Stephen Lees Milch kühlen. Aber nun musste er irgendwo das Geld finden, um diesen Kühlschrank zu bezahlen.

Tante Love hatte zu David gesagt, er solle sich keine Sorgen wegen Weihnachten machen, ein neuer Kühlschrank sei für sie alle genug Ge55

schenk. Aber natürlich wollte Tabitha ihrem Baby etwas kaufen und Jocie glaubte mit ihren vierzehn Jahren zwar nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber zu alt für Weihnachtsgeschenke unterm Tannenbaum war sie noch nicht. Er bezweifelte, dass selbst Leigh zu alt dafür war. Wenn er sie fragte, würde sie vielleicht so tun. Oder sie würde sagen, die schrecklichen Pralinen oder die goldenen Hausschuhe wären genau das Richtige. So war sie eben.

Deshalb wollte David sie mit einem Ring überraschen. Wahrscheinlich würde er alle damit überraschen. Niemand glaubte, dass er schon für eine Verlobung bereit war. Schließlich waren sie erst seit ein paar Monaten zusammen. Leigh behauptete zwar, sie hätte schon länger ein Auge auf ihn geworfen, aber David hatte das nicht bemerkt. Er hatte sich damit abgefunden, allein zu bleiben, nachdem seine Frau ihn vor Jahren verlassen hatte. Im Grunde genommen war er schon allein gewesen, bevor sie gegangen war. Sie hatten auf seelischer oder geistiger Ebene nie eine richtige Ehe geführt.

Wenn Gott David jetzt tatsächlich eine zweite Chance im Hinblick auf die Liebe und das Eheglück gab, wollte er nicht zögerlich sein und sich Leigh durch die Lappen gehen lassen. Seit Wochen betete er jeden Tag bei seinen morgendlichen Gebetsspaziergängen ganz speziell auch darüber.

War es in Ordnung, dass ein Mann über vierzig mit zwei Töchtern, einem neugeborenen Enkel und einer älteren, leicht senilen Tante eine junge Frau wie Leigh darum bat, ihr Leben mit ihm zu teilen und all diese Verpflichtungen auf sich zu nehmen?

Gott hatte es David nicht leicht gemacht und gesagt: Ja, ist in Ordnung, oder Nein, ist es nicht. Aber David wünschte sich nichts mehr, als die Treppe zu Leighs Wohnung hinaufzusteigen, wo sie die Tür aufriss und ihn mit diesem Lächeln ansah, das ihm das Gefühl gab, wieder ein Teenager zu sein. Er wollte den frischen Apfelduft ihres Shampoos riechen, wenn sie den Kopf an seine Schulter lehnte, während sie sich irgendeine alberne Sendung im Fernsehen anschauten. Er wollte, dass sie den Rest seines Lebens an seiner Seite war. Er liebte sie. Das hatte er ihr noch nicht gesagt, aber das würde er, sobald er sich überlegt hatte, wie und wann.

Also war er nach Grundy gefahren, um dort zu einem Juwelier zu gehen. Er konnte schließlich nicht einfach in das Schmuckgeschäft in der Main Street marschieren und Rollin Caruthers nach Verlobungsringen 56

fragen. Es würde keine Stunde dauern, bis die Nachricht im ganzen Bezirk Holly County die Runde gemacht hätte. Und er wollte, dass Leigh es von ihm erfuhr, nicht von irgendeinem Kerl, der sich in dem Amt, in dem sie arbeitete, über den Tresen lehnte.

Es war lange her, dass David bei einem Juwelier gewesen war, um etwas zu kaufen. Der Verkäufer in dem Geschäft in Grundy hatte ihn mit einem Blick eingeschätzt. Ein Mann mittleren Alters ohne viel Geld in der Tasche. „Wir haben Ratenpläne“, hatte der Verkäufer vorgeschlagen, als David ihn nach dem Preis eines Ringes gefragt hatte. „Dafür müssen Sie natürlich kreditwürdig sein.“ „Ich habe nicht nach einem Kredit gefragt. Ich möchte wissen, was dieser Ring kostet.“ David hatte dem Mann direkt in die Augen gesehen, bis dieser sein süffisantes Grinsen abgestellt und David einige Preise genannt hatte. Alle völlig außerhalb von Davids Möglichkeiten. „Und ist dieser Ring für Ihre Verlobte gedacht?“, hatte der Verkäufer gefragt, als könnte er kaum glauben, dass irgendeine Frau ein Interesse daran haben könnte, David zu heiraten. „Normalerweise kauft ein Mann einen Verlobungsring für seine eigene Verlobte“, hatte David erwidert. „Das ist durchaus üblich.“ Der Mann hatte die Vitrine abgeschlossen und den Schlüssel in seine Tasche gesteckt, als wollte er auf jeden Fall verhindern, dass David ihn nach einem weiteren Preis fragte. „Vielleicht darf ich etwas vorschlagen: Viele unserer älteren Paare kommen gemeinsam und erlauben der Dame, ihren Ring selbst auszusuchen.“ Wieder waren die Mundwinkel des Mannes zu einem aufgesetzten Lächeln nach oben gekräuselt gewesen, als er David angesehen und weitergesprochen hatte: „Schließlich sind wir ja keine Teenager mehr, nicht wahr? Wir müssen uns nicht von einem Augenblick hinreißen lassen.“ David hatte noch einmal kurz die Ringe in der Vitrine betrachtet und dann gesagt: „Vielleicht haben Sie recht.“ Er hatte den Mann nicht nach seinem Namen gefragt. Er hatte den Namen gar nicht wissen wollen.

Während er nach Hollyhill zurückgefahren war, hatte er überlegt, ob er Rollin Caruthers bitten sollte, ihm in seinem Hinterzimmer einige Ringe zu zeigen, wo niemand David beim Ringkauf beobachten konnte.

Aber das würde nicht sein Geldproblem lösen. Er könnte natürlich warten und versuchen, bis zum Valentinstag genug Geld zu sparen, aber 57

er wollte nicht warten. Er wollte Leigh den Antrag jetzt machen und sie spätestens im nächsten Sommer heiraten. Es sollte ein ganz besonderer Sommer werden – ihr Sommer des Glücks. Seine Mutter hätte sich mit Sicherheit darüber gefreut, dass er den Ring aus dem Umschlag holte und Gebrauch davon machte. Sie hätte Leigh gemocht. Der Diamant war nicht groß, aber er war ein Diamant. Und er war für seine Eltern das Symbol einer guten Ehe gewesen. Er könnte den Stein neu einfassen lassen.

Nicht in dem Laden in Grundy – der eingebildete Verkäufer dort würde wahrscheinlich eine Lupe herausholen, um den Diamanten zu suchen.

Nein, er würde Rollin zum Stillschweigen verpflichten.

Jocie klopfte an seine Bürotür und rief: „Hey, Dad. Hast du das Editorial fertig?“ David fuhr zusammen, als hätte ihn jemand bei einem Nickerchen ertappt. Er versuchte, den Ring in seine Hemdtasche zu schieben, verfehlte diese aber. Stattdessen fiel der Ring auf den Boden und sprang ein Stück weiter. David tauchte unter den Schreibtisch, um den Ring wiederzuholen, als Jocie die Tür öffnete. Sein Stuhl krachte gegen die Wand und er stieß mit der Schulter an die Seite des Schreibtisches. Eine dicke Mappe mit Zeitungsausschnitten rutschte zu Boden, sodass sich die Zettel überall verteilten. Dann verhedderte sein Fuß sich irgendwie im Telefonkabel und beim Herunterfallen stieß das Telefon den Kaffeebecher um, sodass der Kaffee auf sein Bein tropfte. Wenigstens war er nicht mehr besonders heiß. „Ach, du liebe Güte!“, sagte Jocie. „Ist das ein Erdbeben?“

58

Dan Walsh

Das letzte Manuskript

ISBN 978-3-86827-666-4 ca. 320 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im September 2017

Gerard Warner war eine Legende. Mit seinen Romanen begeisterte er ein Millionenpublikum. Doch für Michael war er noch viel mehr: Er war sein Großvater und sein großes Vorbild. Nicht nur als Autor, sondern auch als treusorgender Ehemann und liebevoller Familienvater. Als Michael nach Gerards Tod dessen Anwesen erbt, zieht er sich mit seiner frischgebackenen Ehefrau dorthin zurück, um selbst seinen ersten Roman zu schreiben. Doch dann stolpert er zu seiner Überraschung über ein Manuskript, das sein Großvater nie veröffentlicht hat. Der fesselnde Spionagethriller über die Zeit des Zweiten Weltkriegs zieht ihn schnell in seinen Bann, doch irgendwie ist dieses Buch anders als alles, was sein Großvater zuvor geschrieben hat. Im Grunde genommen ist es eine Liebesgeschichte. Michael gräbt tiefer und stößt auf ein Geheimnis, das die Macht hat, nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Zukunft für immer zu verändern.

59

Ich erinnere mich … eigentlich hätte ich traurig sein sollen.

Alle waren traurig. Es ist ja auch traurig, wenn eine Legende aus dem Leben scheidet. Unsere Familie war zur Testamentseröffnung nach Charleston gekommen.

Gerard Warners Romane hatten sich millionenfach verkauft und er hatte sogar den Pulitzerpreis verliehen bekommen. Mehrere seiner Bücher waren verfilmt worden. Ich hatte Interviews mit einigen der Schauspieler gelesen, die in diesen Filmen mitgespielt hatten. Man hätte den Eindruck gewinnen können, sie wären mit meinem Großvater befreundet gewesen.

Aber das entsprach nicht der Wahrheit.

Sie kannten ihn nicht. Keiner von ihnen kannte ihn. Er hätte nie zugelassen, dass sie ihn kennenlernten.

Für seine Fans blieb Gerard Warner zeitlebens eine rätselhafte, schwer fassbare Gestalt. Nicht einmal sein Foto durfte auf das Cover seiner Bücher. Sobald einer seiner Romane erschien, hagelte es Anfragen von Fernsehproduzenten und Talkshowmoderatoren – jedes Mal aufs Neue. Jeder wollte als Erster ein Interview mit ihm machen. Aber er gestattete nur schriftliche Interviews. Fotos waren nicht erlaubt. Und Fragen zu seinem Privatleben beantwortete er grundsätzlich nicht.

Trotzdem wurden seine Bücher den Buchhändlern aus den Händen gerissen, so beliebt waren sie.

Ich nannte ihn immer Gramps. „Du lächelst, Michael.“ Ich sah meine wunderschöne Frau an, die meine Hand hielt. Ihre blonden Haare glänzten in der Sonne wie Gold. „Ich kann nicht anders, Jenn.

Ich liebe diesen Ort.“ Ein Spaziergang auf der Broad Street in Charleston im Oktober ist ein Erlebnis. Doch eigentlich ist es egal, auf welcher Straße in der Altstadt man unterwegs ist. Sie sind alle wunderschön.

Charleston war die Lieblingsstadt meines Großvaters und während der letzten Jahrzehnte seines Lebens seine Heimatstadt. Einige seiner besten Werke waren hier entstanden. Charleston barg eine Fülle an Erinnerungen für mich.

Erinnerungen an die Zeit mit ihm. „Die anderen aus deiner Familie werden bestimmt nicht lächeln“, meinte Jenn. „Deine Schwester Marilyn schon gar nicht. Ach übrigens, als du vorhin unter der Dusche gestanden hast, hat sie angerufen. Sie wollte aber 60

keine Nachricht hinterlassen.“ Jenn zuckte ratlos mit den Schultern. „Sie schien mir irgendwie ziemlich angespannt zu sein. Glaubst du, das hängt mit der Testamentseröffnung zusammen?“ „Vielleicht, aber ihr geht es nicht um das Geld.“ Wir blieben an der Ecke Church und Broad Street stehen, um eine Kutsche passieren zu lassen, in der begeisterte Touristen saßen. „Es geht um die Familiengeschichte. Irgendwie ist sie besessen davon.“ „Hast du mir nicht erzählt, sie hätte das aufgegeben?“, fragte Jenn. „Nein, ich habe gesagt, sie sollte das aufgeben.“ Frustriert seufzte ich auf. „Sie verbringt lächerlich viel Zeit damit, irgendein Geheimnis enthüllen zu wollen, das mit meinem Großvater zu tun hat. Ich rede ihr seit Jahren gut zu, dass sie das Thema endlich ruhen lassen soll. Aber sie gibt einfach keine Ruhe.“ Der Duft von frischem Knoblauchbrot stieg mir in die Nase, als wir an der offenen Tür eines italienischen Restaurants vorbeikamen. „Riechst du das? Nach der Testamentseröffnung könnten wir hier eine Kleinigkeit zu Mittag essen.“ „Das wäre toll. Also, wonach sucht Marilyn? Was ist das große Geheimnis?“ Jenn und ich waren erst seit einem Jahr verheiratet und wohnten in der Nähe von Orlando. Da die Fahrt hierher sieben Stunden dauerte, war sie meinem Großvater nur ein paar Mal begegnet. „Sie denkt, er hat etwas verheimlicht.“ „Was denn?“ „Keine Ahnung.“ „Sicher, er hat die Öffentlichkeit gemieden“, meinte Jenn. „Aber das ist bei berühmten Persönlichkeiten doch nicht ungewöhnlich.“ „Sie ist davon überzeugt, dass es einen tieferen Grund dafür gibt.“ „Auf mich machte er einen sehr netten Eindruck“, sagte sie. „Er hatte so freundliche Augen.“ „Gramps war ein ungewöhnlicher Mann. Nicht nur wegen seiner Bücher, sondern es war auch einfach ein Erlebnis, in seiner Nähe zu sein, ganz gewöhnliche Dinge mit ihm zu tun. Und deswegen ärgere ich mich auch so über Marilyns Recherchen.“ „Wie kommt sie denn darauf, dass es ein Geheimnis gibt?“ „Sie will schon seit einer Weile einen Familienstammbaum erstellen, weil einige ihrer Freundinnen das gemacht haben. Sie haben nach alten 61

Fotoalben und Briefen gesucht, im Internet recherchiert und sich einmal im Monat über die Ergebnisse ihrer Recherchen ausgetauscht. Alle anderen haben Unmengen an Material gefunden, aber unser Familienstammbaum scheint mit meinem Großvater zu Ende zu sein.“ „Tatsächlich?“ „Jetzt fang du nicht auch noch an.“ „Das tue ich nicht, aber du musst doch zugeben, dass das irgendwie seltsam ist.“ „Ach komm schon, Jenn.“ „Was denn? Ich will damit doch gar nichts andeuten. Aber du musst zugeben, dass es tatsächlich ungewöhnlich ist, dass euer Stammbaum nicht weiter zurückreicht. Die meisten Familien wissen etwas mehr über ihre Vorfahren.“ „Können wir das Thema fallen lassen?“ Mein Blick wanderte ziellos zur anderen Straßenseite. „Du bist verärgert.“ „Das stimmt nicht.“ Aber es stimmte doch.

Unvermittelt blieb Jenn stehen und zerrte an meinem Ärmel. Sie zog mich ein paar Schritte zurück zu dem großen Schaufenster einer Gemäldegalerie. „Oh Michael, sieh dir nur das Bild an!“ Wie gebannt standen wir vor dem Schaufenster. Das Bild faszinierte uns. Eine Sumpflandschaft bei Sonnenaufgang. Das Gemälde war so groß, dass es wunderbar über einen Kamin gepasst hätte. Palmwedel wiegten sich in einer sanften Brise. Eine große Eiche breitete ihre Äste über das Wasser. Im Vordergrund stand ein überlebensgroßer Blaureiher, der stolz den Kopf reckte und seinen stechenden und durchdringenden Blick über die Landschaft schweifen ließ. Das Gemälde war so bunt und detailgetreu – es hätte von Audubon stammen können. Ich schaute nach dem Preis.

Achtzehnhundert Dollar. „Vielleicht gibt es einen kleineren Druck davon“, seufzte Jenn, während sie mit ihren großen braunen Augen zu mir aufschaute. Sie wusste genau, dass ich diesem Blick nicht widerstehen konnte. „Was denkst du eigentlich, wie viel werden wir bekommen?“, fragte sie.

Ich hatte ihr bisher weder verraten, wie hoch das Vermögen meines Großvaters war, noch dass ich damit rechnete, dass sich unser Leben in 62

ein oder zwei Stunden dramatisch verändern würde. „Wir werden sehen“, erwiderte ich vage und zog sie vom Schaufenster fort. „Aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir auf dem Weg zurück zum Hotel vielleicht hier vorbeigehen werden.“ Wir setzten unseren Weg auf der Broad Street fort, während Jenn vor Freude leise aufquietschte.

Zu diesem Zeitpunkt war ich mir bereits ziemlich sicher, dass mein Erbe mich in die Lage versetzen würde, meinen Job in der Bank aufzugeben und der anderen Leidenschaft zu folgen, die ich außer meiner Liebe zu Charleston mit meinem Großvater teilte.

Ich wollte Schriftsteller werden.

Erst jetzt kommt mir der Gedanke, die Worte „genau wie er“ anzufügen, aber das wäre Unsinn. Ich war immer der Überzeugung gewesen, dass ich niemals so würde schreiben können wie er. Mein Geschreibsel würde garantiert weit hinter seinen Werken zurückbleiben. Es wären Kinderzeichnungen, die man an den Kühlschrank heftet, während er große Gemälde geschaffen hatte. Aber Gramps hatte mir diesbezüglich immer widersprochen und mein Selbstbewusstsein gestärkt. Einmal hatte er zu mir gesagt: „Du hast es im Blut, Junge. Das spüre ich. Das ist ein Talent, das Gott dir geschenkt hat. Darum lass dich nicht entmutigen, weil du so sein willst wie ich. Tu das, was du tun kannst. Suche die Straße, die du gehen willst, und dann sieh, wohin sie dich führt.“ *** (…) Nachdem ich mich eine Weile in dem herrschaftlichen alten Haus umgesehen hatte, das jetzt mir gehörte, schossen mir alle möglichen beunruhigenden Gedanken durch den Kopf.

Sie gefielen mir überhaupt nicht.

Alle meine Erinnerungen an meinen Großvater waren positiv. Mehr noch, sie waren großartig. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, dass er etwas verheimlichte. Ganz im Gegenteil: Als Antwort auf meine Fragen erzählte er mir immer eine wundervolle Geschichte.

Aber andererseits hatte ich ihm auch nie die Art Fragen gestellt, die Marilyn an ihn gerichtet hatte.

Ich durchquerte das Esszimmer, ging in die Küche und schenkte mir ein 63

Glas Eistee ein. Eine Frage brannte mir auf den Nägel: Wieso hat jemand kein einziges Foto von seinem Hochzeitstag?

Es war Marilyn, die darauf hingewiesen hatte, dass Gramps und Nan in den vierziger Jahren geheiratet hatten. Die Großeltern aller ihrer Freunde hatten jede Menge schwarz-weiß Fotos von ihrem Hochzeitstag und Dutzende Fotos aus ihrer Verlobungszeit. Die meisten besaßen sogar Kinderfotos von sich.

Warum Gramps und Nan nicht?

Plötzlich erschien mir dies eine berechtigte Frage zu sein.

Warum nicht?

Und wenn wir schon dabei waren, warum gab es keinen Trauschein und keine Geburtsurkunde? Wenigstens diese Dokumente hätten doch zu finden sein müssen. Vergilbt und brüchig, an den Ecken eingerissen.

Und warum gab es keine Liebesbriefe? Sie hatten sich in den Kriegsjahren kennengelernt und ineinander verliebt. Damals schrieben sich Liebende noch unzählige Briefe. Hatte mein Großvater überhaupt im Zweiten Weltkrieg gekämpft?

Ich war immer davon ausgegangen. Seine Bücher zeichneten sich aus durch dichte Handlungsstränge, Action und Spannung, viele spielten in Kriegszeiten. Bestimmt kannte er Gefahr und Sterben und die Intensität kriegerischer Auseinandersetzungen aus eigenem Erleben. Aber während ich darüber nachdachte, konnte ich mich nicht an ein einziges Gespräch über seine Kriegserlebnisse erinnern. Warum hatte ich nie danach gefragt?

Ich ging zurück zum Tisch im Esszimmer und schnappte mir meinen Laptop. Der Drang, etwas zu schreiben, irgendetwas, wurde übermächtig in mir. Ich musste meinen Kopf klar bekommen, bevor mein Geist in die Dunkelheit der Zweifel hinabstürzte. „Gramps, du bist nach wie vor mein Held“, sagte ich laut auf dem Weg zurück in den hinteren Teil des Hauses und in sein Arbeitszimmer.

War er ein Krimineller? Hatte er jemanden umgebracht? Hatte er – Stopp.

Ich musste aufhören, mich in Marilyns Verschwörungstheorien hineinziehen zu lassen. Während ich das Arbeitszimmer meines Großvaters betrat, gingen mir die Worte „Pass auf, wo du hintrittst“ durch den Kopf. Er hatte sie gesagt, wann immer ich im Laufe der Jahre sein Arbeitszimmer betreten hatte.

64

Es war ein prachtvoller Raum. Über zwei Wände zogen sich deckenhohe Bücherregale. Die obersten drei Regale auf der linken Seite waren gefüllt mit den Erstausgaben seiner Romane. Nan hatte sie dort einsortiert.

Die anderen Bücher hatte er für seine Recherchen gebraucht. Bestimmt war allein der Inhalt dieses Zimmers mittlerweile ein Vermögen wert.

Aber was mir beim Betreten des Raumes ins Auge stach, waren nicht die Bücherregale. Es war der Schreibtisch. Der Schreibtisch meines Großvaters.

Mein Schreibtisch jetzt.

Und dort, mitten auf dem Schreibtisch, seine berühmte Schreibmaschine. Eine alte Remington Rand-Reiseschreibmaschine aus den vierziger Jahren. Eine flache, schwarze, glänzende und sehr effektive Maschine.

Wenn man eine Taste anschlug, hörte man ein Klacken, ein Buchstabe wurde getippt.

Eine Erinnerung durchzuckte mich. Damals war ich zwölf oder dreizehn. Ich war allein nach Charleston gekommen, um eine Woche meiner Sommerferien bei Gramps und Nan zu verbringen. Aber ich war gewarnt worden, dass Gramps einen festen Abgabetermin hatte; er würde jeden Nachmittag arbeiten müssen. Einmal war ich mit meiner Großmutter in der Küche und atmete den herrlichen Duft von Rindereintopf und frisch gebackenem Brot ein. „Würdest du Gramps holen?“, fragte Nan. „Das Abendessen ist fertig.“ „Soll ich anklopfen?“ „Er wird dich nicht hören.“ „Ich kann sehr laut klopfen.“ Ich hörte das Klacken der Remington Rand bis hier. „Das glaube ich dir gern“, antwortete Nan. „Aber ich rede nicht vom Geräusch der Schreibmaschine. Wenn du diese Tür öffnest, wirst du Gramps Körper an seinem Schreibtisch entdecken und er hämmert auf dieses Ding ein. Aber sein Geist befindet sich in einer anderen Welt.“ Sie hatte recht. Ich musste entschlossen auf ihn zugehen, ihm ein paar Mal auf die Schulter tippen und mit ihm reden, als wollte ich ihn aus einem tiefen Schlaf aufwecken.

Jetzt starrte ich auf die Remington Rand und erinnerte mich daran, wie faszinierend es gewesen war, meinen Großvater bei der Arbeit zu beobachten. Ich beugte mich vor und legte meine Hände auf die Tasten. Ohne nachzudenken tippte ich „D-i-e“.

65

„Die“, las ich laut. „Die?“ Mehr war mir nicht eingefallen? D-i-e? Wem wollte ich hier eigentlich etwas vormachen? Ich würde nie so schreiben können wie er. Ein tiefer Seufzer entwich meinen Lippen. Ein guter Schriftsteller wurde man nicht allein dadurch, dass man in seinem Haus lebte und an seinem Schreibtisch saß.

Diese Schreibmaschine jeden Tag vor Augen zu haben, schien mir jetzt keine gute Idee mehr zu sein. Vermutlich würde sie mich mehr einschüchtern als ermutigen. Ich schaute mich um und entdeckte den Koffer, in dem Gramps die Maschine verstaute, wenn er auf Reisen ging, in einem Regal. Es war nicht der Originalkoffer, sondern ein wunderschöner, handgearbeiteter Holzkoffer. Vermutlich eine Sonderanfertigung.

Ich beschloss, die Schreibmaschine darin zu verstauen. Dann wäre sie vor Staub geschützt. Ich griff nach dem Koffer und stellte fest, dass er ungewöhnlich schwer war, fast, als enthielte er bereits eine Schreibmaschine. Als ich ihn neben der Remington Rand abstellte, spürte ich, wie etwas darin verrutschte. Der Koffer war definitiv nicht leer. Ich öffnete die Messingriegel und hob den Deckel an.

Darin lag ein ziemlich umfangreiches Manuskript, das von zwei Schnüren zusammengehalten wurde. Verblüfft zog ich den Stuhl unter dem Schreibtisch hervor und ließ mich darauf nieder.

Dann nahm ich das Manuskript aus dem Koffer und lehnte mich auf dem Stuhl zurück.

Das Papier war vom Alter leicht vergilbt. Meine Hände begannen zu zittern, als ich die wenigen Worte auf der Titelseite las. Ganz unverkennbar auf der Remington Rand geschrieben.

Eine aussichtslose Liebe Von Gerard Warner Ich traute meinen Augen nicht. Ich kannte jedes Buch, das mein Großvater je geschrieben hatte.

In meinen Händen hielt ich einen noch unveröffentlichten Roman von einem der größten Autoren unserer Zeit.

66

ISBN 978-3-86827-661-9

ISBN 978-3-86827-662-6

ISBN 978-3-86827-660-2

ISBN 978-3-86827-664-0

ISBN 978-3-86827-667-1

ISBN 978-3-86827-665-7

ISBN 978-3-86827-668-8

ISBN 978-3-86827-663-3

ISBN 978-3-86827-666-4