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Titelgeschichte
Normal
Alma und Julius antworten manchmal lieber mit Bildern und lernen langsamer als andere Kinder in ihrer Klasse – aber bei den »Eisvögeln« in der Leipziger Werner-Vogel-Schule ist das kein Problem. Sie lernen zusammen, wie vielfältig das Leben ist.
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anders

Die Kinder haben einiges erlebt am Wochenende. Schwimmen, Pilze sammeln, Baukasten bauen, natürlich auch Fernsehen geschaut. So sitzen sie im Morgenkreis ihrer Klasse und erzählen sich davon. Als die Reihe an Alma ist (alle Namen der Kinder geändert), hält sie sich die Hände vor die Augen. »Nee, nee«, das Mädchen schüttelt entschieden den Kopf. Und keines der Kinder wundert sich. Die Erst- und Zweitklässler der »Eisvögel-Gruppe« im Leipziger Werner-Vogel-Schulzentrum der Diakonie kennen Alma ja. Sie wissen, dass sie manchmal im Unterricht einfach aufsteht, Gäste fest umarmt oder zur Therapie abgeholt wird. Und dass sie noch nicht so schreiben kann wie andere. Auf ihrem Pullover steht heute: »Lächle jeden Tag«. So macht sie es. Alma gehört einfach zu den »Eisvögeln« dazu. So wie Julius. Auf seinem roten Pullover steht heute »Schulkind«. Ein Junge neben ihm erzählt, wie er am Wochenende Döner essen war, ein Mädchen berichtet von den Tieren im Zirkus. Aber auch Julius schweigt auf die Frage nach seinem Wochenende. Gar nicht so einfach für ihn, eine Antwort zu finden. Er steht auf und sucht in den Bilderkärtchen, die in der Mitte des Stuhlkreises auf einem grünen Teppich ausgebreitet liegen. Auf einem sind Bauklötzer gemalt – Julius zeigt es den Anderen. Die verstehen: »Du hast also Lego gespielt!« Julius sagt nichts. »Hattest Du ein schönes Wochenende?« Da nickt Julius. Für die 22 Kinder der »Eisvögel«-Klasse ist es ganz normal, dass manche Kinder lieber erzählen und andere lieber auf Bilder zeigen. Oder schweigen. Oder malen. Dass jeder etwas anders ist. Fünf von ihnen lernen wie Alma und Julius nach einem anderen Lehrplan, denn sie benötigen bei ihrer geistigen Entwicklung besondere Förderung. Und ein anderes, langsameres Tempo. »Andersartigkeit ist bei unseren Kindern gar kein großes Thema, sondern gelebter Alltag«, sagt die Lehrerin der »Eisvögel«, Christin Hoffmann. »Natürlich kommen auch Fragen auf – dann sprechen wir mit den Kindern darüber, dass Andersartigkeit auch normal ist.«
Andersartigkeit ist bei unseren Kindern gar kein großes Thema, sondern gelebter Alltag. Natürlich kommen auch Fragen auf – dann sprechen wir mit den Kindern darüber, dass Andersartigkeit auch normal ist.«
Christin Hoffmann, Lehrerin der »Eisvögel«

Zusammen mit ihren Kolleginnen Henriette Ringeis und Karoline Fränzel sitzt sie im Morgenkreis der Erst- und Zweitklässler. Während andere Kinder von Papas Geburtstag am Wochenende berichten oder von Ausflügen, geht Alma auch auf den Teppich in der Mitte und beginnt die Bilderkärtchen zu studieren. Die Klassenkameraden schauen ihr aufmerksam zu. Als sie die erste Karte mit einem Einkaufswagen hochhält, rufen sie: »Du warst einkaufen!« Alma nickt. Sie zeigt immer mehr Karten, und die anderen Kinder übersetzen: »Du hast Puzzle gespielt! Dich ausgeruht! Gegessen!« Es hört gar nicht mehr auf. Wie ein gutes Gespräch, nur anders.
So ist das im Leipziger Werner-Vogel-Schulzentrum. Werden anderswo vorsichtig ein, zwei Kinder mit Behinderungen in eine Klasse aufgenommen, geht man hier den umgekehrten Weg. Die seit über 30 Jahren bestehende evangelische Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung öffnete sich vor vier Jahren auch für Kinder ohne eine Behinderung. Einfach war das nicht. »Wir haben im ersten Jahr um jedes Kind gekämpft und unsere erste Klasse nicht vollbekommen«, erinnert sich Schulleiter Tobias Audersch. Zu groß war die Skepsis: Kann das gelingen? »Aber schon im zweiten Schuljahr hat sich das geändert. Wir haben viel mehr Anmeldungen als Plätze.« 88 Kinder lernen jetzt an der Grundschule – davon 20 mit einem Förderbedarf für ihre geistige Entwicklung. Mit den 80 Schülerinnen und Schülern der Förderschule im selben Haus teilen sie sich Hort, Hofpausen, gemeinsame Gottesdienste und Feiern. Der Unterricht bei den »Eisvögeln« ist auch anders. Statt Bankreihen stehen fünf Tisch-Inseln im weiten Klassenzimmer und in der Ecke ein gemütliches Sofa, statt einer Lehrerin kümmern sich gleich drei Pädagoginnen um die Kinder. Ganz individuell, der Personalschlüssel für Förderschulen macht es möglich. Und die Jungen und Mädchen haben viel Freiraum, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen beim Lernen. Zum Beispiel an der »Lerntheke«. Ein halbhohes Regal voller bunter Stifte, bunter Glassteine, Regenbogenfarben und Stempel. Mit ihnen können die Kinder Buchstaben gestalten und so das Schreiben lernen. Julius greift zur blauen Knete. Mit ihr läuft er von Tisch zu Tisch und freut sich: »Eine Schlange!« – »Damit knetet man Buchstaben«, erklärt ihm sein Mitschüler Emil. Er hat gerade sein M aus Glassteinen fertig gelegt, Julius schaut ihm interessiert über die Schulter. Die »Eisvögel« helfen sich gegenseitig. Die Zweitklässler den Erstklässlern, die ohne Förderbedarf denen mit Förderbedarf. Und manchmal auch andersherum.

Schulleiter Tobias Audersch muss an die biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter denken. Die hat Jesus einst erzählen, um die Frage zu beantworten, wem denn die Nächstenliebe gilt. Seine Antwort: Dem, der sie braucht – auch wenn er ganz anders ist. Oder gerade dann. »Der Nächste kann jeder sein, auch wenn er nicht der selben Gruppe angehört oder die selbe körperliche Unversehrtheit hat wie ich«, sagt Tobias Audersch. »Der christliche Glaube hat im Kern dieses grenzüberschreitende Denken.«
Tobias Audersch,
Schulleiter Werner-Vogel-Schule, Leipzig

Dabei sind bei weitem nicht alle Lehrerinnen und Schüler im Werner-VogelSchulzentrum christlich, doch sie teilen diese Werte. Auch das ist Inklusion.
Am Ende der Schulstunde dürfen einige »Eisvögel« ihre Ergebnisse vorstellen. Georg meldet sich, er will unbedingt drankommen. Er steigt auf eine kleine gelbe Treppe und hält sein Bild über den Kopf. Das Feedback der Kinder kommt sofort. »Ich finde schön, wie Du die Giraffe gemalt hast«, sagt Hannah. »Ich finde Deine ganze Seite schön«, sagt Max. Am Ende applaudieren alle. So wie bei allen Kindern, die ihre Werke vorstellen. Obwohl sie ganz verschieden sind: Genau oder abstrakt, mit feinen Strichen oder zerzaust, gerade auf Linien geschrieben oder auf und ab und krumm wie das Leben. All diese Vielfalt zu ermöglichen und jedem Kind einzeln gerecht zu werden – das ist kein Kinderspiel. Auch nicht, wenn sich drei Pädagoginnen um eine Klasse kümmern können. »Es ist ein großer Schatz und eine große Bereicherung. Aber es bedarf auch sehr vieler Absprachen, im Team zu arbeiten«, sagt die Förderschul-Pädagogin Henriette Ringeis. Überhaupt ist sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen auch beim Thema Inklusion für Vielfalt. Und gegen feste Schablonen. Nicht für jedes Kind mit einer Behinderung muss eine gemischte Klasse wie ihre »Eisvögel« der beste Weg sein, meint Henriette Ringeis. »Es muss wirklich passen, dass Kinder von einer großen Gruppe profitieren. Manche Kinder mit Förderbedarf sind auch in kleineren Förderschul-Klassen besser aufgehoben.« Auch Schulleiter Tobias Audersch will aus Inklusion keine Ideologie machen. Aber er ist überzeugt: »Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger – in unseren gemischten Klassen können Kinder schon früh lernen, mit Vielfalt umzugehen. Und in einer immer komplexer werdenden Welt nicht überfordert zu sein.«

Manchmal ist es auch ganz einfach. Zum Beispiel, wenn für die »Eisvögel« die Frühstückspause beginnt. Dann holen sie ihre Brotbüchsen und Trinkflaschen aus dem Regal und sprechen gemeinsam ein kurzes Gebet: »Wir essen gemeinsam und nicht allein – hab Dank, lieber Gott, für’s Zusammensein«.
Julius schaut neugierig in die Dose eines anderen Jungen: »Oh, lecker«, umarmt ihn und zeigt allen seine Kekse. Alma isst langsam. Sehr langsam. Die anderen sind längst draußen auf dem Hof, da kaut sie noch immer. Und als sie zurückkommen, da krault Klassenkamerad Karl ihr den Rücken. Ohne viele Worte, was nun anders ist oder normal. Das ist eben so. •


•Text: Andreas Roth, Fotos: Steffen Giersch, Illustrationen: Julia Kluge