FALTER 39/20 Leseprobe

FALTER

NR. 39 / 20 – 23. SEPTEMBER 2020

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DIE WOCHENZEITUNG AUS WIEN

„Dann war mir klar, dass ich dableibe“ Der Bosnienkrieg endete vor 25 Jahren. Die Regisseurin Nina Kusturica flüchtete als Teenager von Sarajevo nach Wien. Ein Gespräch

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Gast sei mit uns!

Fehlende Touristen, zaudernde Politiker, Reisewarnungen: Die Covid-19-Krise macht den Wiener Hotels zu schaffen. Das Sacher kündigt Mitarbeiter. Weitere Hotels werden folgen. Was bedeutet das für die Stadt?

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iob kommt für die mehr als 400 Mitarbeiter nach dem Aufstehen. Am Montag, den 7. September, blinkt die hotelinterne App. Über sie verteilen an normalen Tagen die Abteilungsleiter die Dienstpläne und Neuigkeiten, verschicken die Chefs Weihnachtsgrüße. Nicht an diesem Morgen. Es ist sieben Uhr. „Ein Virus hat die ganze Welt krank gemacht und die Wirtschaft angehalten.

Mit Sicherheit sind wir in der schwierigsten Situation der jüngeren SacherGeschichte. Vielleicht stellt sich jetzt gerade die schwerste Aufgabe für Sacher seit 1832 überhaupt“, schreibt die Geschäftsführung. Der Präambel folgt der Schlag: Man werde 30 Prozent der Mitarbeiter abbauen, „auch um die Schließung der Hotels zu verhindern“.

Die Sacher-Gruppe hat 140 Personen beim AMS zur Kündigung angemeldet. 35 davon sollen in Salzburg gehen, die anderen im 1872 erbauten Wiener Stammhaus, das mittlerweile das Karree zwischen Oper, Albertina und Kärntner Straße ausfüllt. Sechs Gebäude, fünf Eingänge, drei Restaurants, ein Name: Sacher. Mitglied der Leading Hotels of the World. Hätte Wien ein Signature Dish, es wäre die „aprikotierte“ (Friedrich Torberg) Sa-

HOTELBESUCH: EVA KONZETT

FOTOS: CHRISTOPHER MAVRIČ

Sacher-Geschäftsführer Matthias Winkler (oben): „Wien ohne Sacher liegt nicht in meiner Gedankenwelt.“ Vorerst aber bleiben die Gäste aus

chertorte. Brauchte Wien noch einen Warnschuss, dass die Stadthotellerie im Argen liegt, dieser hallte laut nach.

Um 88 Prozent sind die Nächtigungen in der Wiener Stadthotellerie im Juni eingebrochen, minus 73 Prozent immer noch im Juli. Die Auslastung lag während der Sommermonate bei weniger als 20 Prozent. Die Touristen bleiben aus. Die Kongresse, alle abgesagt. Die wichtigen Fernmärkte, Asien, USA bleiben durch den schleppenden Flugverkehr abgeschnitten. Während die Beherbergungsbetriebe am Wörthersee und im Burgenland im Juli und August in Gästen übergingen, starrten die stolzen Ringstraßenburgen in die mager gefüllten Reservierungsbücher. Schon jetzt rechnen die einzelnen Häuser mit nicht mehr einholbaren zweistelligen Millionenverlusten für 2020. Die aktuellen Umsätze decken nicht einmal die laufenden Kosten aus Miete, EDV, Wareneinsatz, oder die Haustechnik.

Es ist der 11. September, als der Sacher-Geschäftsführer Matthias Winkler persönlich zu den Mitarbeitern spricht. Wegen der Abstandsregeln findet eine Betriebsversammlung am Vormittag und eine am Nachmittag statt. Im Marmorsaal des Hauses erklärt der Chef die missliche Lage. Er spricht in ehrlichem Ton. Die Mitarbeiter klatschen. Dass die Behaltefrist, wie sie die Kurzarbeit eigentlich vorsehen würde, ausgesetzt wurde? Das erlaubt eine Vereinbarung der Österreichischen Hoteliervereinigung mit der Gewerkschaft Vida. Das Sacher setzt einen Härtefallfonds auf und zahlt Prämien. Die Sacher-Mitarbeiter unterschreiben ihre Kündigungen.

Sie werden die Kündigungsfrist in der Kurzarbeit verbringen. Danach geht man gemeinsam zum Würstelstand.

Es sei Zufall gewesen, kein Kalkül, sagt Matthias Winkler, dass ausgerechnet das Traditionshaus Sacher mit den Kündigungen als erstes Ringstraßenhotel an die Öffentlichkeit ging.

Winkler ist ein Mann in sportlichem Sakko mit Stecktuch. Er hat in die Eigentümerfamilie Gürtler eingeheiratet und führt das Hotel seit 2014 operativ.

Jetzt, eine Woche nach der App-Mitteilung, sitzt er in der Halle hinter dem Foyer. Empire-Stil, üppig, Samt. Im noblen Ambiente könnte man die Seuche fast vergessen, stünden nicht die Desinfektionsspender neben dem goldbeschlagenen Lift, würden in den Restaurants Salz und Pfeffer nicht vorportioniert und „keimfrei“ gereicht. Wären nur Gäste zum Reichen da.

Lediglich ein Wagenmeister steht auf dem Gehsteig, um die Limousinen wegzubringen. Er hat kaum Arbeit zu verrichten. Das Hotel Sacher in der Wiener Innenstadt am vergangenen Freitag: Ein leeres Hotel ist ein trauriges Haus.

Nicht nur im Sacher müssen Mitarbeiter gehen. Die Schick-Gruppe, die mit dem Hotel Stefanie das älteste Hotel der Stadt und vier weitere bespielt, wird am 1. Oktober 100 Kündigungen verschicken. Das Intercontinental am Heumarkt soll Leute abbauen. Im AMS in der zuständigen Geschäftsstelle in Hietzing brüten die Mitarbeiter über den Frühanmeldungen aus weiteren Ringstraßenhotels.

Wien Tourismus rechnet damit, dass 35.000 Jobs der 116.000 Jobs im Service und in der Hotellerie wackeln, zumal am 1. Oktober die dritte Phase der Kurzarbeit startet. Diese sieht unter anderem vor, dass Mitarbeiter anstatt der bisherigen zehn mindestens 30 Prozent arbeiten müssen. Das bedeutet für viele den Kündigungsgrund.

Und wann sie wiederkommen können, ist ungewiss. Wie alles andere auch. Österreich im Monat sieben nach dem

Shutdown: Die türkis-grüne Regierung lässt im Corona-Management keine klare Handschrift erkennen, für die Allgemeinheit nicht und für den Tourismus noch weniger. Die pompös beworbene Strategie für die Sommersaison, die freiwillige, großflächige Testung der Servicemitarbeiter, ging im Cluster von St. Wolfgang baden. Die Ampel, die für alle gelten sollte, wurde im Koalitionsstreit ausgeschaltet.

Den Fallzahlen kann derzeit jeder beim Wachsen zuschauen.

Dass erst die Schweiz am 11. September, dann Deutschland und jetzt noch die Niederlande eine Reisewarnung für Wien herausgaben, machte nur offiziell, was die Hoteliers seit Mitte August wussten: Herbst und Winter kann man abschreiben. Schon zuvor hatten Reisegruppen storniert, Fluggesellschaften ihre Pläne wieder ausgedünnt, der unkontrollierte Ausbruch in den USA, eben die hohen Infektionszahlen in Österreich. Ischgl wirkt nach. „Die Auslastung war gering, aber sie ist stetig über den Sommer gestiegen. Wir hatten Hoffnung, die ist nun zunichte“, sagt Peter Buocz, Geschäftsführer der Schick-Hotel-Gruppe. Im Hotel Stefanie hatte er das Licht im Foyer auch während des Shutdowns als Zeichen des Widerstands brennen lassen. Ein „Wir geben so schnell nicht auf “. So wie der 130 Jahre alte Götterbaum, der im Innenhof des Stefanie durch das Dach wächst. Wie lange noch?

Die Hälfte der 435 Wiener Hotels hat am 29. Mai, als die Covid-Gesetze die Beherbergung wieder erlaubt hätten, gar nicht mehr aufgesperrt. „Wir sind im Wachkoma“, sagt der Chef von Wien Tourismus Norbert Kettner. Jeder vierte Betrieb könnte daraus nicht mehr erwachen. Und wer jetzt öffnet, tut es im Schonbetrieb. Im Sacher sind Fortsetzung Seite 14

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ZAHLEN 50 Milliarden an Nothilfen für die Wirtschaft in der Pandemie hat die Regierung zusammengetragen

25 Milliarden seien bereits fix vergeben, sagte Finanzminister Gernot Blümel im Juli.

Details nannte er nicht.

Die Vergabe, die über die eigens geschaffene Cofag-Agentur abgewickelt wird, wird nicht offengelegt.

Die Forderung der Opposition, die Vergabe unter parlamentarische Kontrolle zu stellen, weist die Regierung zurück

12 Milliarden sind insgesamt für den Fixkostenzuschuss I und II reserviert. Bisher haben Unternehmen nur 200 Millionen Euro abgeschöpft. Das liegt am aufwendigen Prozedere und daran, dass die Unternehmen noch abwarten. Möglich ist ein Antrag für den Fixkostenzuschuss I bis August 2021. Die schlechtesten drei zusammenhängenden Monate gelten als Bemessungsgrundlage

22 Millionen Euro steckt die Stadt Wien in die Hotels und den Tourismus der Hauptstadt. Bis zu 50.000 Euro können Beherbergungs­betriebe geltend machen

Der Blaue Salon im Erdgeschoß des Hotel Sacher: das eigentliche Herzstück des Traditionshauses, leer. Wegen der Pandemie hat die Geschäftsführung die Öffnungszeiten eingeschränkt

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„Man geht mit einem Nina Kusturica ist Filmemacherin und Theaterregisseurin. Sie wurde 1975 in Mostar in Bosnien und Herzegowina, damals noch Jugoslawien, geboren und wuchs in Sarajevo auf. Als sie 17 war, begann der Krieg in ihrer Heimat. Sie und ihre Familie flüchteten nach Wien. Kusturica absolvierte ihr Studium an der Filmakademie.

Zwei ihrer bekanntesten Arbeiten sind die Doku „Little Alien“ (2009) und der Spielfilm „Ciao Chérie“ (2017). 2019 inszenierte sie am Kosmos Theater das Stück „Rule of Thumb“ von Iva Brdar. Aktuell arbeitet Kusturica an einer Doku über die Wohnung ihrer Familie in Sarajevo

Nina Kusturica: „Als ich Anfang 1996 gesehen habe, dass das Friedensabkommen hält, bin ich mit einem der ersten Busse nach Sarajevo gefahren.“ FOTO: HER IBERT CORN

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Geheimnis durch die Welt“ Vor 25 Jahren endete der Bosnienkrieg. Die Filmemacherin Nina Kusturica, die in Sarajevo aufwuchs, über Flucht und Heimkehr, die Schamgefühle der Überlebenden und solidarische ÖVP-Politiker

E

s war das Friedensabkommen von Dayton, das im Spätherbst 1995 den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete. 100.000 Menschen waren getötet, über zwei Millionen aus ihrer Heimat vertrieben worden. 700.000 Bosnierinnen und Bosnier flüchteten ins Ausland, 85.000 von ihnen nach Österreich. Zwei Drittel leben nach wie vor hier. Die Regisseurin Nina Kusturica, 45, ist eine von jenen, die damals ins Ungewisse aufbrachen. Sie steht für eine Generation, die eine unbeschwerte Jugend im ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien verbrachte, Madonna hörte und im Sommer an die kroatische Küste fuhr. Doch im April 1992 erfasste der Krieg, der zu diesem Zeitpunkt schon ein Jahr in Kroatien tobte, auch Bosnien und Herzegowina.

Falter: Frau Kusturica, im November 1995 ging der Krieg in Bosnien und Herzegowina zu Ende. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Herbst?

Nina Kusturica: Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Hoffnung mehr, dass es Frieden geben würde. Die internationale Gemeinschaft hatte immer wieder Diplomaten zu Verhandlungen in die Region geschickt, und alle Bemühungen sind gescheitert. Ich habe versucht, mein Leben in Wien in den Griff zu bekommen, hier Fuß zu fassen.

Dieser Herbst ist an mir vorübergezogen.

Ein Friedensabkommen wie jedes andere, dachte ich mir damals. Nur die Fotos waren schöner. Mit dem US-Präsidenten Bill Clinton, dem mürrischen serbischen Machthaber Slobodan Milošević, dem kroatischen, Franjo Tuđman, der so aussah, als wäre er nur zufällig hier, einem überforderten bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović und meiner ehemaligen Englischlehrerin, die seine Übersetzerin war. Sie zu sehen, hat mich gefreut, denn ich hatte den Kontakt zu ihr verloren.

Wie kam es dazu, dass sie Dolmetscherin war?

Kusturica: Sie hatte neben dem Englischunterricht auch in einem Ministerium gearbeitet. Als der Krieg ausbrach, hat sie ihren Job dort behalten und wurde Izetbegovićs Übersetzerin. Später war sie auch Botschafterin in Wien. Sie hieß Amira Kapetanović.

Sie hat mir auch ein paar Dinge über Dayton erzählt, wie sich die Kriegsherren und Friedensstifter hinter verschlossenen Türen verhalten haben.

Dayton ist eine Luftwaffenbasis in den USA. Jeder der drei Präsidenten saß in einem eigenen Raum. Chefverhandler Richard Holbrooke sprach abwechselnd mit ihnen. Was hat Ihnen Ihre Lehrerin erzählt?

Kusturica: Entlarvend war für mich zum Beispiel, dass Milošević, der immer den großen Nationalisten gespielt hat, nach

INTERVIEW: MATTHIAS DUSINI UND STEFANIE PANZENBÖCK

den Aussagen meiner Lehrerin ein pragmatischer Machtmensch war. Er hat die Nationalisten instrumentalisiert, um seine Macht zu festigen. Ich denke, dieser Pragmatismus kennzeichnet viele nationalistische Politiker.

Was war Ihre Reaktion auf das Dayton-Abkommen?

Kusturica: Als ich Anfang 1996 gesehen habe, dass das Abkommen hält, dass keine Bomben mehr fallen, habe ich meine Sachen gepackt und bin mit einem der ersten Busse nach Sarajevo gefahren. Vor allem wollte ich wissen, wer noch da ist. Der Krieg hatte so lange gedauert, und ich dachte, dass er nie aufhören würde. Ich habe in dem Glauben gelebt, dass ich Sarajevo für immer verloren habe.

Wie haben Sie die Fahrt erlebt?

Kusturica: Als Geschenk. Ich habe mich privilegiert gefühlt, die Chance zu haben, diese Stadt wiederzusehen, die so lange eingekesselt war. Der Krieg hätte noch viel länger dauern können, wie jetzt in Syrien. Ich war aufgeregt und glücklich.

Was haben Sie gesehen?

Kusturica: Der Bus fuhr durch dieses verwüstete Land. Man konnte die Brandherde noch riechen. Auch Sarajevo war komplett zerstört, die Menschen haben noch immer im Kriegsmodus gelebt, nur dass sie nicht mehr beschossen wurden. Sie mussten mit einer Stunde Strom am Tag, mit ein bisschen Wasser, das rationiert war, irgendwie über die Runden kommen. Das Schönste war, als ich meine beste Freundin, die fast den gesamten Krieg im Stadtteil Grbavica überlebt hat, wiedergesehen habe. Ich war so überwältigt, sie umarmen zu dürfen. Sie hatte in der Zwischenzeit einen Sohn bekommen.

Wo haben Sie sich getroffen?

Kusturica: Ganz dramatisch, vor dem Volkstheater. Sie hat mir ihre Wohnung gezeigt und mir von der Zeit erzählt.

Zwei Frauen treffen sich nach Kriegsende.

Die eine ist geflüchtet, die andere geblieben.

Ging es bei diesem Treffen auch um Schuldoder Schamgefühle?

Kusturica: Das ist etwas, was bis heute andauert. Und es war eines der ersten Dinge, die meine Freundin angesprochen hat. Sie hat gesagt: „Nina, es wird Leute geben, die euch Vorwürfe machen werden. Deinen Eltern, aber auch dir, selbst wenn du erst 17 warst. Aber für mich ist es okay.“ Es war für mich befreiend, das von einem Menschen zu hören, der mir sehr wichtig war.

Später war da so eine Mischung aus Schuld und Scham. Scham, sich auch einmal freuen zu dürfen.

Woher kommen diese Gefühle?

Kusturica: Ich habe mir so viele Jahre einge-

redet, dass mir nichts passiert ist, dass ich davongekommen bin. Dass ich nicht vier Jahre lang unter Belagerung leben, im Luftschutzkeller in die Schule gehen, mich um einen Liter Wasser beim Brunnen anstellen musste. Ich wurde nicht verletzt, meine Eltern wurden nicht von Scharfschützen ermordet oder in die Armee eingezogen. All das ist meinen Freunden in Bosnien passiert. Ich habe Freunde im Krieg verloren, die gekämpft haben, die ermordet wurden. Meine Generation. Die waren zwischen 18 und 20. Ich aber bin nach Wien gezogen und habe mein Leben hier weitergelebt. Erst später habe ich mich getraut, mich damit auseinanderzusetzen, wie viel Halt ich durch die Flucht verloren habe, was das für die ganze Familie bedeutet hat, bei null oder eigentlich aus einem Minus heraus neu anzufangen.

Man hört immer wieder, dass viele Menschen in Bosnien und Herzegowina bis zur letzten Sekunde dachten, dass es keinen Krieg geben würde. War das in Ihrer Familie auch so?

Kusturica: Ja, wir dachten im Frühjahr 1992, die Leute würden schon wieder zur Besinnung kommen. Die Jugoslawische Volksarmee würde ein bisschen mit den Waffen rasseln, aber mehr nicht. Wir wollten nicht wahrhaben, dass es tatsächlich zum Krieg kommen könnte. Gerade in Sarajevo, wo so viele Nationalitäten und Religionen nebeneinander lebten. Bis dann die ersten Schüsse zu hören waren. Aber selbst zwei Monate nach Kriegsbeginn hat uns mein Onkel nach Wien geschrieben: Das wird schon wieder.

Wann haben Ihre Familie und Sie beschlossen, Sarajevo zu verlassen?

Kusturica: Offizieller Kriegsbeginn war der 6. April. Bosnien und Herzegowina wurde als souveräner Staat anerkannt, es gab eine große Demonstration in der Nähe von unserer Wohnung. Das Militär brachte sich in Stellung. In den folgenden Nächten wurde die Stadt mit Granaten beschossen. Es gab Ausgangssperren, der Krieg nahm seinen Lauf. Mein Vater hat dann Mitte April schnell entschieden, dass wir Sarajevo verlassen. Er mit seiner Frau und der kleinen Tochter ­– meine Eltern waren schon geschieden –, meine Mutter und ich. Wir packten unsere Sachen und machten uns auf den Weg nach Wien. Wir hatten einen guten Kontakt zum Busfahrer, weil wir meiner Schwester, die in Wien studierte, oft per Bus Essenspakete geschickt hatten.

Wir mussten um vier in der Früh da sein.

Um acht, bei der offiziellen Abfahrt, waren Fortsetzung nächste Seite

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er katholische Weltjugendtag war im April, die vielen Halbwüchsigen vor dem Stephansdom müssen ein anderes Ziel verfolgen. Dutzende Burschen drängen sich nach Schulschluss vor der Dompforte, irgendwo dürfte hier eine Salbung warten. Doch ihre Kirche sieht anders aus, ihr Feiertag ist ein anderer.

Am Freitag vor einer Woche ist der „Nike Air Jordan 1 Retro High OG Tokyo Bio Hack“ auf den Markt gekommen, das ist ein hoher, braun-blau-orange-grün-rosenfarbener Turnschuh. In Wien gibt es das Modell nur im Sneakertempel Solebox in der domnahen Jasomirgottstraße, laut Verkäufer hatten sich mehr als 1000 Menschen dafür eingetragen. Nicht einmal jeder Hundertste von ihnen wurde zufällig auserwählt und durfte ein Paar um 160 Euro kaufen.

Der Schuh ist limitiert, also nachgefragt, also wertvoll: Einer der Glücklichen verkauft seinen Fang direkt vor der Ladentür um 230 Euro. Es hat etwas von Drogengeschäften, wie die Burschen einander heiße Ware aus dem Schuhkarton präsentieren und Interessenten einen Halbkreis bilden.

Das Sakrament vor der Solebox ließ sich im Sommer alle paar Tage beobachten, der Ansturm auf ihre Neuzugänge setzt allmählich sogar den Betreibern zu: „Ihr könnt nachhause gehen“, sagt die erschöpfte Verkäuferin, „heute gibt es keine Schuhe mehr.“ Diese Stadt bringt gerade eine neue Genera-

tion junger Männer hervor. Sie sind stilbewusst und mit einem temperamentlosen Verhältnis zu Geld ausgestattet. Sie kaufen T-Shirts um 200 Euro und wissen, welche Armbanduhren die Rapstars tragen.

Vor 20 Jahren galten Burschen als cool, die zwei Wochen lang kein Wasser an ihr Haupthaar und Nirvana-Shirt ließen. Mit ihrer Ungepflegtheit wollten Teenager den spießigen Erwachsenen zu denken geben.

Heute gehen Flaumträger regelmäßig zur Maniküre und stellen sich um teure Fußbekleidung an. Was ist passiert?

Marvin ist im Sommer fast jede Woche vor der Solebox gestanden, er ist sozusagen einer von denen. Marvin geht in die Maturaklasse der Kindergartenschule, vor nicht so langer Zeit war er noch ein kleiner Bub mit einem Tretroller. Sein Interesse für Mode sei mit 15 gekommen, sagt er, ein Alter, in dem man langsam weiß, wo man suchen muss, um sich selbst zu finden. An wohlhabenderen Freunden schulte er seinen Stil und kaufte sich erstes Markenzeug.

In Shops und auf Instagram lernte er Gleichgeschalte kennen und brachte auch alte Freunde zum neuen Hobby: Heute kennen Marvin, Marc und Martin alle Kleidergrößen der jeweils anderen, im Juni haben zwei von ihnen vor dem Nike-Geschäft auf der Mariahilfer Straße campiert, um ein Paar „Air Jordan 1 High Royal Toe“ kaufen zu dürfen.

Marvin, Marc und Martin haben keine reichen Eltern, sie sind ganz normale Burschen aus der Donaustadt, aber nicht sehr gerne dort, weil es schon viel Gesindel gebe. Für sie darf es einmal mehr vom Leben sein: Der Maturaklassler Marvin verdient sich mit dem An- und Verkauf von Schuhen etwas dazu. Marc lernt Montagetischler beim Leiner, Martin handelt samstags beim Kika mit Besteck und Gläsern, so kann er sich seine Mode leisten. Er möchte vielleicht Virologe werden, sagt Martin, die Generation Corona treibt schöne Blüten.

Sonst sind die drei sparsam, gehen nicht in Konzerte, Fußballstadien oder Clubs.

Aber sie schätzen das Gefühl, lange erwartete Gewandpakete zu öffnen.

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STIL

Sie sind modebewusst, eingelesen und zelebrieren den Triumphzug der Straßenkleidung. Über die neue Textillust der Wiener Burschen REPORTAGE: LUKAS MATZINGER

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Die Donaustädter Marc, Marvin und Martin (von links) haben mit jeweils 15 zur Mode gefunden FOTO: HER IBERT CORN

„Es ist schon verrückt“, sagt Marvin, „wie viele Leute inzwischen bei den Raffles mitmachen.“ Manche Kunden des Schuhgeschäfts Solebox sind nicht älter als zwölf, doch das Szenevokabular haben alle verinnerlicht: „Raffles“ sind, wenn Geschäfte Kaufrechte an gefragten Teilen verlosen, „coppen“ heißt kaufen, „stocken“ heißt behalten und „resellen“ verkaufen.

Marvin, Marc und Martin sind ein letzter Beweis dafür, wie sehr sich Medienwahl, Musikgeschmack und Vorbildfiguren von Jugendlichen in den vergangenen 20 Jahren verändert haben. Fernsehen, Radio, Zeitungen? Die drei lachen nur. Gitarrenmusik sei durch, nicht einmal mehr Fußballstars interessant. Ihre Medien sind Youtube und Instagram, sie hören auf die Entertainment-Stars der USA. Der Hip-Hop liefert die modischen Ideale. Die Aufdrucke sind oft opulent, Motive eher groß. „Wenn ich so viel Geld für ein Shirt ausgebe, soll man schon etwas sehen“, sagt Martin. Ein kleiner Brustaufstick des Firmenlogos mache nichts her. Viele Burschen tragen überweite Schnitte. Auch der balzende Meerschweinchenbock macht sich groß, um Eindruck zu schinden.

Wer bei modebewussten jungen Männern noch an weißes Hemd und schwarzen Schuh denkt, hat den Schuss nicht gehört: Komfort hat Eleganz ersetzt.

Wahrscheinlich hat der unwahrscheinliche

Marc, 16 Shirt: Daily Paper, 40,– Tasche: Supreme, 70,– Hose: Peso, 130,– Schuhe: Nike, 280,– Marvin, 18 Shirt: Kavs, 45,– Tasche: Supreme, 70,– Hose: Pull&Bear, 35,– Schuhe: Off White, 225,– Martin, 17 Shirt: Travis Scott Merchandising, 130,– Hose: Nike, 40,– Schuhe: Nike, 160,–

Triumphzug der Straßenmode im Jahr 2009 mit einem Flug von den USA nach Rom begonnen: Zwei Afroamerikaner traten damals ihre Praktika bei der italienischen Luxusmarke Fendi an. Der eine war der Architekt Virgil Abloh, der andere einer der bekanntesten Musiker der Gegenwart: Kanye West. Wenig später machte Virgil Abloh Fanartikel für Kanye West und sich einen Namen in der Modewelt. 2013 nannte er sein Label „Off-White“, Abloh wollte Straßenkleidung durch einen intellektuellen Anstrich salonfähig machen.

Ohne Übertreibung, das ist ihm gelungen. Die Welt war verrückt nach seinen 250-Euro-T-Shirts mit den aufgedruckten Anführungszeichen und Absperrbändern, bald präsentierte der Prophet auf der Pariser Modewoche. Früher gab es Sport-, Alltags- und Abendbekleidung, es gab High Fashion und bequemes Schlabbern. Heute ist das alles eins, Topmodels tragen GucciJogginganzüge über den Laufsteg.

Der Daunenjacken-Designer Francesco Ragazzi entwarf mit seinem Label Palm Angels plötzlich Gewand für situierte Skater, 2015 wurde das alte Haute-Couture-Haus Balenciaga radikal straßentauglich. Von Rappern getragen, eroberten diese Marken die Welt. Virgil Abloh ist der vielleicht wichtigste Männermodeschöpfer der Gegenwart, 2018 hat ihn die Elitemarke Louis Vuitton zum Chef ihrer Herrensparte gemacht. Die Jugendkultur hatte gewonnen.

Natürlich kennen die Donaustädter Burschen ihre Pioniere, Marvin kann diese Geschichten nacherzählen, als wäre er dabei gewesen. Noch vor wenigen Jahren haben er und seine Freunde Ältere in teuren Klamotten lächerlich gefunden, inzwischen „freue ich mich, wenn ich auf meine Schuhe angesprochen werde“, sagt Marvin.

Seine Inspirationen sind nicht mehr reichere Nachbarn, sondern online erlebbare Rapper und Influencer. Findige Herrenausstatter alleine hätten nicht gereicht, um das junge Aspern auf den Modegeschmack zu bringen. Es brauchte Verstärker, mit einem guten Draht an die Bildschirme und in die Jugendzimmer.

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Für einen 25-Jährigen aus Katzelsdorf an der Leitha hat Maximilian Weißenböck einen prallen Lebenslauf: Radiomoderator bei KroneHit, Milizoffiziersanwärter, Musiker, Turmspringer, Bitcoin-Investor, Psychotherapie-Student, DJ-Agentur-Betreiber. Das, wofür er wirklich bekannt ist, war noch gar nicht dabei: Weil ihn mit Marvin, Marc und Martin noch 183.000 andere abonniert haben, ist „MaxaMillion“ der wichtigste Mode-Youtuber Österreichs. „Wieder hundert mehr“, sagt Weißenböck mit gesenktem Blick – er meint seine Instagram-Follower. Inzwischen werde er fast jeden Tag auf der Straße erkannt, sagt er, in den vergangenen drei Jahren sei die junge Wiener Modeszene enorm gewachsen.

Seit Dezember betreibt Weißenböck sein eigenes Label, die Shirts (87 Euro) und Sweater (137 Euro) entsprechen dem Zeitgeist, er verkauft sie online und in einem Geschäft in der Krugerstraße. „Viele Burschen haben kein wirkliches Händchen für Mode“, sagt er, „natürlich können Marken auch einfach ein Statussymbol im Freundeskreis sein.“ Auf Youtube erklärt er, was er sich beim Kaufen oder Entwerfen seiner Kleidungsstücke gedacht hat, so könnten auch die jungen Zuseher stilsicherer werden. Zwei Drittel seiner neuen Kollektion sind schon verkauft.

MaxaMillion ist ein gewinnender Typ, überhaupt können Sie sich die InstagramFeeds von Burschen wie Marvin, Marc und Martin als einen endlosen Bilderstrom erfolgreicher Musiker und schöner Trendsetter vorstellen. Zumindest unbewusst entsteht ein gewisser Eifer, aber die drei Burschen versuchen, ihre Einflüsse zu hinterfragen.

In einem bemerkenswert klarsichtigen Moment sagt Marvin: „Social Media schaut immer nach ‚Good Life‘ aus, dabei sind die Leute vielleicht verschuldet oder zerstritten. Es gibt einen sozialen Druck wegen der Followerzahl und der Kleidungswahl, es ist ein bisschen wie früher bei den Ständen: Die Bauern tragen nur H&M und C&A, die Bürger ein bisschen bessere Sachen und die Adeligen High Fashion. Natürlich ist es gut für den Selbstwert, weiter oben in der Rangliste zu stehen. Wir sehen ja auf den Bildern, was möglich ist. Das ist quasi unser American Dream.“ Dem Burschen reichen wenige Sätze der Innenschau, um das Prinzip sozialer Medien zu erklären. Nutzer treten in Beziehung zu dem, wovon sie glauben, dass es anderer Menschen Leben ist. Der Abgleich mit dem Eigenen fällt schlecht für sie aus, man will an sich arbeiten, gute Kleidung könnte Selbstermächtigung bringen. Vielleicht ist es mit den Textilien ein bisschen so wie mit dem Geld selbst: Die Bedeutung entsteht dadurch, wie viele Leute daran glauben.

Bisher hatten es mehr Mädchen begehrt, schön

gekleidet zu sein, jetzt entdecken Burschen wie Marvin, Martin und Marc das Äußere für sich. Sie verfolgen ihre Leidenschaft konsequent, ungefähr halbjährlich drehen sich die Trends, sagt Martin. Viel länger könne man viele Stücke nicht tragen.

Gott sei Dank gibt es Hersteller, die ihre Bedürfnisse bedienen können. Den begehrten Air Jordan 1 hat Nike schon 1984 für den vielversprechenden Basketballer Michael Jordan entworfen. 36 Jahre später bringt das Unternehmen noch immer alle zwei Wochen neue Farbvarianten der alten Silhouette auf den Markt. Die meisten sind limitiert.

Die Namen Marvin, Marc und Martin stehen bei fast jedem „Raffle“ für neue Jordan-Schuhe auf der Liste. Doch die Konkurrenz wird immer größer. F

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„Radikale Vorgangsweisen“ Was der Tourismus mit Land und Leuten macht, das thematisiert das Wiener Künstlerkollektiv Steinbrener/Dempf & Huber mit ihrem „Cliffhanger“ INTERVIEW: GERLINDE PÖLSLER

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as Wiener Künstlerkollektiv Steinbrener/Dempf & Huber hat schon öfter starke Bilder in die Welt gesetzt: Mit ihrem Gründungsprojekt im Jahr 2005 haben sie die Wiener Neubaugasse „entschriftlicht“ und für 14 Tage alle Werbeaufschriften, Reklameschilder und Firmennamen verdeckt. Zehn Jahre später hat das Trio, bestehend aus dem Bildhauer Christoph Steinbrener, dem Fotografen und Grafiker Rainer Dempf und dem Architekten Martin Huber, dem riesigen Hamburger Bismarck-Denkmal einen Steinbock auf den Kopf gesetzt. Bei dem „Capricorn Two“ genannten Projekt war das Thema das Zurückbringen der Natur, das „Verwildern“ zivilisierter Lebensräume. Für „Cliffhanger“ haben sie nun die Fassade eines Geschäftslokals in eine Steilwand im Naturpark Ötscher-Tormäuer gesetzt – symbolisch für die Eroberung der Landschaft und das Ausbreiten von Zivilisationsgrenzen auch durch den Tourismus. Das Projekt wurde am Freitag öffentlich vorgestellt.

Falter: Seit ein paar Tagen leuchtet Wanderern in den Ötschergräben, in einer Steilwand direkt neben dem Mirafall, ein knallrotes Geschäftsportal mit der Bezeichnung „Tourist Information“ entgegen. Ein paar Leute haben empört reagiert, eine Schamanin soll gesagt haben, damit sei das gesamte Areal entweiht.

Christoph Steinbrener: Wir hoffen doch sehr, dass wird das Gebiet entweiht haben. Weil wir einen Diskurs darüber provozieren wollen, mit welch radikalen Methoden die Natur erobert wird, sowohl von massentouristischer Seite als auch von Immobilienspekulanten. Ganze Landstriche werden lahmgelegt, privatisiert und devastiert.

Dieses kleine Teil, das wir da einbringen, ist harmlos im Verhältnis zu dem, was in Wirklichkeit passiert, wenn Hotelbauten ganze Landschaften verstellen wie in Tirol. Man muss dazusagen: Das waren zwei Negativstimmen in einem Reigen von vielen, vielen positiven.

Mit dem Mostviertel haben Sie eine Region ausgesucht, in der der Tourismus noch in Maßen stattfindet. Was sagen die Ortsansässigen zu dem Thema?

Martin Huber: Wenn man mit ihnen spricht und „Cliffhanger“ erläutert, verstehen sie, dass wir hier einen mahnenden Blick in die Zukunft werfen. Tirol hat ja vor 100 Jahren auch noch anders ausgesehen.

Steinbrener: Wobei es auch hier schon zwei Seiten gibt: einerseits wirklich intakte Na-

„Cliffhanger“ am Mirafall, Ötschergräben: „Schleichen uns in die privaten Bildwelten von Wanderern ein“

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Architekt Martin Huber, Bildhauer Christoph Steinbrener und Fotograf Rainer Dempf, hier auf „Gruppenbild mit Darwin“

tur mit wenig Touristen, anderseits stehen an Samstagen bei den Ötschergräben die Leute Schlange. Dann ist natürlich eine sonst schöne Wanderung sehr getrübt. Da stellt sich also schon die Frage, was man tun kann, dass es einerseits diese Naturerlebnisse geben kann, die Natur aber auch intakt bleibt. Die Ötschergräben sind genau in so einer Kippsituation, wo man sehr wohl noch etwas retten kann.

ja nicht so, dass jeder gerne mit 500 Leuten durch die Gegend juckelt. Aber das Auseinanderdriften von Arm und Reich findet auch im Tourismus statt. Die schönsten Locations sind inzwischen privatisiert, zum Beispiel gibt es auch bei den österreichischen Seen nur noch selten öffentliche Zugänge, die meisten sind wenigen Menschen mit privaten Badeplätzen vorbehalten. Man muss also auch hier die Verteilungsfrage stellen.

Warum haben Sie für Ihr Projekt genau die Ötschergräben ausgesucht?

Huber: Zuerst war „Cliffhanger“ für Tirol, nämlich den Wilden Kaiser, gedacht. Da hatten wir fast alle behördlichen Schritte schon durchgemacht, auf einmal hat es geheißen, es gebe da in Tirol so einen Umweltparagrafen, wonach in den Bergen nicht einmal ein Nagel eingeschlagen werden darf. Das haben sie vor 20 Jahren eingeführt, nachdem große Firmen wie Milka angefangen haben, die Berge zu bespielen.

Der zuständige Umweltanwalt, der unsere Arbeit kannte und schätzt, meinte, da gebe es leider keine Chance.

Sie schreiben: „Die radikalen Vorgangsweisen in Erholungsgebieten, auch auf Kosten der örtlichen Bevölkerung und der Natur Gewinne zu maximieren, scheinen jetzt covidbedingt zumindest einmal unterbrochen zu sein.“ Das klingt ein bisschen, als würden den Regionen nur von außen Gäste aufgezwungen. Aber die Bewohner vor Ort kurbeln das ja auch selber an, sie leben ja auch davon.

Steinbrener: Dennoch muss es von staatlicher Seite eine Lenkung geben, sodass auch die Bedürfnisse der Bewohner vor Ort berücksichtigt werden. Auch in Tirol ist nicht jeder ein Gastronom oder Hotelier, und es gibt dort Leute, die sich in ihrer eigenen Ortschaft keine Wohnung mehr leisten können. Dazu muss ein Diskurs entstehen. Es geht auch darum, welche Angebote man Touristen macht. Stellt man wie in Mariazell in vorauseilendem Gehorsam Parkplätze für die Massen hin oder versucht man, dem ganz bewusst etwas entgegenzustellen, durch Bildungs- und Kulturangebote zu locken. Niederösterreich zum Beispiel forciert sehr geschickt Projekte für Kunst im öffentlichen Raum, dazu kann man auch touristische Angebote formulieren.

FOTOS: STEINBRENER/DEMPF & HUBER

Das entbehrt nicht der Ironie, wenn man sich anschaut, was im Namen des Skitourismus rund um die Tiroler Gletscher alles passiert.

Huber: Der Umweltanwalt hat das auch wirklich bedauert, aber uns dann auf Kollegen in Niederösterreich verwiesen. Der Mirafall ist es dann geworden, weil es uns immer um starke Bilder geht.

Steinbrener: Wir wollen unsere Projekte immer so platzieren, dass sie gewissermaßen optisch im Weg stehen. Vor den Mirafällen machen die Leute ihre Selfies, und jetzt haben sie unser Objekt mit am Motiv. Wir schleichen uns also auch in die privaten Bildwelten von Wanderern ein.

Sie thematisieren einen ausufernden Tourismus, gleichzeitig wollen wir selber alle reisen. Ab wann ist es ausufernd?

Steinbrener: Wir sind alle Touristen in bestimmten Momenten, uns geht es aber um Extreme beim Tourismus: um Kreuzfahrtschiffe, die in Venedig einfallen und diese ohnehin touristisch ausgerichtete Stadt nochmals in die Knie zwingen. Um Dubrovnik, das wegen einer Fernsehserie inzwischen eine Kulissenstadt ist, deren Bewohner kaum mehr einkaufen können, weil es fast nur noch Souvenirgeschäfte gibt. Hier steht Geld vor den Bedürfnissen der Einwohner. Dabei hat dieser Massentourismus ja auch seinen Grund in den Preisen. Es ist

Was kann denn ein solcher Tourismus für die Region und ihre Bewohner leisten?

Steinbrener: Der bewirkt, dass sich die Bewohner plötzlich mit Dingen auseinandersetzen, die sie nicht kennen. Das ist wesentlich spannender, als wenn man nur Klischees erfüllt und so wie Hallstatt inzwischen eine Replik seiner selbst ist. Man sollte Tourismus auch mit Umweltaspekten verschränken, Stichwort Ferien auf dem Bauernhof. Damit kann man auch die kränkelnde Landwirtschaft stützen. Und man verteilt so die großen Mengen an Geld, die im Tourismus ja fließen, auf mehr Köpfe, sodass nicht nur Seilbahn-Investoren Millionen verdienen.

Nun haben viele Österreicher heuer ja sanften Tourismus betrieben, aber auch das stößt bald an die Grenzen. Da hört

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Dabei ist es ja nicht so, dass ­jeder gerne mit 500 Leuten durch die Gegend juckelt.

Aber das Auseinanderdriften von Arm und Reich­ ­findet auch im Tourismus statt CHRISTOPH STEINBRENER

Das Projekt läuft bis September 2021, ein filmischer Parcours von Sylvia Eckermann und Gerald Nestler vertieft die Themen des „Cliffhanger“.

Steinbrener/Dempf & Huber bieten auch Führungen für Gruppen ab zehn Personen an. Bei Interesse melden unter steinbrenerdempf@chello.at. Öffnungstermine Naturpark: www. naturpark-oetscher.at

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man Klagen über Müll hinterlassende Prozessionen auf Berge, da muss die Polizei einschreiten, weil es an einem kleinen See im Streit um einen Parkplatz zu Handgreiflichkeiten kommt.

Steinbrener: Ja, das ist fast unlösbar. Wir können nur Diskurse anstoßen. Was daraus folgt, damit haben wir nur peripher zu tun. Was wir aber politisch gefährlich finden, ist, dass es jetzt infolge von Covid fast nur noch nationalen Tourismus gibt. Die Umwelt schont das zwar wegen der kürzeren Verkehrswege, es ist aber gefährlich, sich bloß auf die eigene Nationalität zu besinnen und zu isolieren.

Manche haben heuer gesagt: Je mehr idyllische Alm-Werbungen ich sehe, desto mehr sehne ich mich weit weg.

Huber: Ja, genau das haben wir selber gespürt. In meinem Umfeld waren alle nur noch auf Urlaub in Österreich fixiert. Mir ist dieses Nationale schon zu eng geworden.

Ich bin beinhart wie geplant nach Kroatien gefahren, weil ich erbost war, dass man aus wirtschaftlichem Kalkül gesagt hat: Ihr bleibt lieber zuhause, aber die Deutschen sollen schon zu uns kommen.

Corona bewirkt auch, dass der Städtetourismus ums Überleben ringt. Wie erleben Sie das in Wien?

Huber: Womit wir uns beschäftigen, seit es uns gibt, ist die Frage: Wem gehört der öffentliche Raum? Deshalb nützen wir als Künstlergruppe diesen speziellen Bereich und stellen uns der Konfrontation.

Steinbrener: Wie die Leute in der durch Covid so reglementierten Zeit die Plätze und Märkte, die Parks und den Donaukanal benützt haben, das hat gezeigt, was der öffentliche Raum wert ist. Im stillgelegten Wurstelprater haben sich die Leute mit ihren mitgebrachten Jausen in die Gastgärten gesetzt. Das Nichtkommerzielle war ja schon völlig verkleistert durch die Gastgärten überall. Ich behaupte überhaupt nicht, dass es die Lokale nicht bräuchte. Nur sie haben ein Übermaß angenommen, dass man oft gar nicht mehr wusste, wo man sich hinsetzen konnte, ohne sofort etwas bezahlen zu müssen.

Huber: Wir haben beide Kinder im Jugendlichenalter, und die haben auch neue Plätze finden müssen, weil ja alles zugesperrt war.

Die haben mit ihren mitgebrachten Soundmaschinen ihre eigenen Clubs gemacht.

Angenommen, die Corona-Krise wird überwunden, weil ein Impfstoff kommt.

Wie wird es dann mit dem Tourismus weitergehen? Wird Ischgl wieder auferstehen wie zuvor?

Huber: Einerseits befürchte ich, dass die Leute wieder gern zu dem zurückkehren, womit sie Profit gemacht haben. Andererseits hoffe ich, dass die Stimmen stärker sind, die sagen: Passen wir auf, wir gehen schon wieder den alten Weg. Steinbrener: Ich beobachte noch etwas: In unserem Bekanntenkreis gibt es eine Renaissance des Lebens am Land. Wir haben zufällig auch gemeinsam mit Freunden im Weinviertel einen alten Hof, allerdings hatten wir den schon vorher. Viele suchen jetzt aktiv Rückzugsorte. Da geht’s einerseits ums Ferienmachen, andererseits können sich die Leute aber auch vorstellen, ganz aufs Land zu ziehen. Man kann ja auch online nun leicht dort arbeiten. Das wird logischerweise zu einem Austausch mit den Leuten führen, die jetzt schon dort wohnen, und es wird das Leben am Land stark verändern.

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