Rotes Wien

Autorin Inge Podbrecky, Kunsthistorikerin (Dr. phil.) mit Schwerpunkt Architekturgeschichte und -theorie des 20. Jahrhunderts, hat u.a. Texte zu Gottfried Semper und Adolf Loos, zu frühen Hochhausprojekten und zur Wiener Architektur der Nachkriegsmoderne veröffentlicht.

Für die Reihe Falters CITYwalks verfasste sie die Bände „Wiener Jugendstil“, „Wiener Interieurs“ und „Rotes Wien“.

Zurzeit forscht sie zur Wiener Architektur der 1930er-Jahre.

Unter dem Motto „Gehen, Sehen & Genießen“ eröffnet die Reihe Falters CITYwalks spannende Blickwinkel auf Neues und auf Vertrautes in der Stadt.

Falters citywalks

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Der Band weist kundig den Weg zu den wich­tigs­ten Bauwerken und Sehenswürdig­keiten jener Epoche der Wiener Geschichte, die landläufig als „Rotes Wien“ bezeichnet wird.

Zwischen 1919 und 1934 entstanden eindrucksvolle kommunale Wohnbauten, die „Gemeindebauten“, aber auch Gebäude für Arbeit und Verwaltung, Verkehr, Freizeit und Sport.

Die Autorin führt unter anderem zum KarlMarx-Hof, durch den Arbeiterbezirk Favoriten, den Gürtel entlang, zur Siedlung auf der Schmelz und zur Werkbundsiedlung.

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Falters citywalks

Rotes Wien Gehen, Sehen & Genießen 5 Routen zu gebauten Experimenten Vom Karl-Marx-Hof bis zur Werkbundsiedlung

ISBN 978-3-85439-489-1 o 12,90 Umschlagfotos: Karl-Marx-Hof, Amalienbad, Werkbundsiedlung, Gemeindebau Bürgergasse © Arnold Pöschl

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www.falter.at

R o t es W ie n

Mit Falters CITYwalks die Stadt kennenlernen.

Essen Kultur

Trinken Shopping

Die fünf Routen, die Inge Podbrecky zusammen­ gestellt hat, führen den Spaziergänger zu den sicht­ baren und unsichtbaren Spuren, die das „Rote Wien“, die Ära der sozialdemokra­ tischen Stadtregierung von 1919 bis 1934, in der Stadt hinterlassen hat; zu Bauwerken, die in dieser Epoche entstanden sind und die sichtbarsten Spuren dieses einzig­artigen Experiments sind.

Die Routen sind so konzi­ piert, dass Dauer und Intensität je nach Lust und Laune des Flaneurs bestimmt werden können.

Ausgangs- und Endpunkte der Spaziergänge sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.

All jene, die noch mehr vom Roten Wien sehen wollen, finden ab Seite 117 weitere sehenswerte Bauten und Objekte abseits der fünf Routen.

Blick und Tritt können auch vom thematischen Hauptstrang abschweifen: Wir geben Tipps zu Cafés, Lokalen, Geschäften oder anderen lohnenswerten Abstechern entlang der Routen. Fünf Karten, über 150 Fotos und ein prakti­ sches Register erleichtern die Benutzung des Buchs.

06.08.2013 14:41:32 Uhr

Inge Podbrecky

Rotes Wien Gehen, Sehen & Genieร en 5 Routen zu gebauten Experimenten Vom Karl-Marx-Hof bis zur Werkbundsiedlung

Fotos von Arnold Pรถschl

Falter Verlag

LEGENDE = Kaffeehäuser

= Literatur

= Restaurants, Gasthäuser

= Shopping

= Kultur

Autorin: Inge Podbrecky Fotos: Arnold Pöschl; außer Fotos auf: Seite 7 oben: ÖNB/Wien/ Voisard (#12579291); Seite 7 Mitte: ÖNB/Wien (#9333102); Seite 7 unten: vga, wien/az-fotoarchiv; Seite 13: ÖNB/Wien (#10451897, #17888890, #10452133); Seite 19: ÖNB/Wien (#596529, #12203661, #10828761); Seite 45, 46: Terezija M. Popp; Seite 98: ÖNB/Wien; Seite 105 unten: Ingo Pertramer; Seite 111, 116, 119: Terezija M. Popp; Seite 113, 120: Inge Podbrecky Wir danken den Mitarbeiterinnen und -mitarbeitern des Amalienbades für die Unterstützung bei den Fotoaufnahmen.

Karten: arbeitsgemeinschaft kartographie Lektorat: Patrick Sabbagh Grafik und Layout: Marion Großschädl Produktion: Susanne Schwameis Gedruckt in der EU

ISBN 978-3-85439-489-1 © 2013 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. 1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9 Tel. +43/1/536 60-0, Fax +43/1/536 60-935 E-Mail/Verlag: bv@falter.at E-Mail/Bestellungen: service@falter.at Web: faltershop.at 2., überarbeitete Auflage 2013 Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Obwohl wir versucht haben, so gründlich wie möglich zu sein, können wir Fehler oder Änderungen bei Öffnungszeiten und Telefonnummern, die sich seit Erscheinen ergeben haben, nicht ganz ausschließen. Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass wir keine inhaltliche Haftung übernehmen.

2 | Impressum

Inhalt Vorwort �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 5 Wien in der Zwischenkriegszeit �������������������������������������������������������������������� 6

ROUTE 1

Margareten und die „Ringstraße des Proletariats“

��������������������� 24

ROUTE 2

Favoriten: Bauten für Wohnen,

Arbeiten und Sport

��������������������������������������������

60

ROUTE 3

Auf der Schmelz: Experi-

mentierfeld Wohnbau ������������� 82

ROUTE 4

Der Karl-Marx-Hof:

ein Wohnbau als Monument ����������������������� 96

ROUTE 5

Werkbundsiedlung: Avantgarde im Grünen . . . . . . 107 Noch nicht genug? ���������������������������������������������������������������������������������������� 117 Register ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 125

Inhalt | 3

Vorwort Das Rote Wien war ein einzigartiges Experiment. Zwischen 1919 und 1934 brachte die sozialdemokratische Stadtregierung Wiens eine modellhafte proletarische Kultur hervor, die in ganz Europa nicht ihresgleichen hatte. In diesen 15 Jahren wurde von der sozialdemokratischen Majolika-Dekoration am Gemeinde Wien auf der BaReumannhof sis der austromarxistischen Theorie eine politische Utopie in einem kapitalistischen Staat verwirklicht: Nicht auf eine gesellschaftliche Umwälzung durch eine Revolution in einer fernen Zukunft wurde hingearbeitet, sondern auf Veränderung hier und jetzt, auf eine Vorahnung der sozialdemokratischen Gesellschaft der Zukunft – das war es, was das Rote Wien von anderen sozialdemokratischen Kommunen in Europa unterschied. Dieses Experiment, das work in progress war und an die zentrale Funktion von Kultur als politisches Kampfmittel glaubte, hat sichtbare und unsichtbare Spuren in der Stadt hinterlassen, ihre Topografie und ihre Infrastruktur nachhaltig beeinflusst und ihr Selbstverständnis bis heute geprägt.

Die fünf Spaziergänge folgen diesen Spuren. Auf dem Weg liegen vor allem die eindrucksvollen kommunalen Wohnbauten, die „Gemeindebauten“, aber auch Gebäude für Arbeit und Verwaltung, Verkehr, Freizeit und Sport. Dazu kommen Hinweise auf Vergessenes und Verlorenes, das manchmal in Spuren erhalten geblieben, manchmal aber völlig aus dem Stadtbild verschwunden ist, und Informationen für den Flaneur: Pawlatschenhöfe und alte Ortskerne, Denkmäler und Gasthäuser, denn hin und wieder braucht man Stärkung – und eine Pause zum Nachlesen. Ergehen Sie sich die Stadt – und erfahren Sie, was Sie noch nicht gewusst haben oder schon immer wissen wollten!

Der Karl-Marx-Hof: Höhepunkt des Wohnbaus im Roten Wien 7 vorwort | 5

Wien in der Zwischenkriegszeit Zur Geschichte Das Rote Wien, von dem hier die Rede ist, begann am 4. Mai 1919, als die SDAP, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Wiener Gemeinderatswahlen mit überwältigender Mehrheit (54,1 Prozent) für sich entschied.

Jakob Reumann wurde zum ersten sozialdemokratischen Bürgermeister einer Großstadt in Europa gewählt. Zu diesem Zeitpunkt war die Republik Österreich noch kein Jahr alt: Kaiser Karl hatte am 11. November 1918 abgedankt – am selben Tag verstarb Victor Adler, unbestrittene Leitfigur und Einiger der österreichischen Sozialdemokratie. Am 12. November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich ausgerufen. Das Gebiet, das nach der Neuaufteilung Europas von der ÖsterreichischUngarischen Monarchie übrig blieb, war ein vorwiegend landwirtschaftlich und katholisch geprägtes Restland, das bis 1920 um seine territoriale Integrität kämpfte und eine viel zu große Hauptstadt hatte. 1918/19 hatten die österreichischen Arbeiter, angeregt durch das Vorbild der Russischen Revolution und durch die Räterepubliken in Ungarn und Bayern, in Wien und in den Industriegebieten Arbeiter- und Soldatenräte gebildet, die faktisch die politische Macht in Händen hielten. Die Angst des bürgerlichen Lagers vor einer roten Revolution war groß.

In dieser extrem instabilen, von Hunger, Arbeitslosigkeit, Streiks und politischer Polarisierung gekennzeichneten Zeit entwicckelte die Sozialdemokratie ein Prinzip, das ihre Handlungen in der Ersten Republik generell prägen sollte: Revolutionär reden, evolutionär handeln. Diese Vorgangsweise ermöglichte die Integration radikaler Kräfte bei gleichzeitigem Verhandeln mit dem politischen Gegner, der über den entsprechenden Druck zu Konzessionen gebracht werden konnte. In diese Frühzeit der Ersten Republik, die 1919/20 von einer großen Koalition regiert wurde, fielen wichtige politische Erfolge, wie die Einführung des Achtstundentags, bezahlter Urlaub, Betriebsräte, Sozialversicherungsgesetze, Arbeiterkammern und Mieterschutz. Aber schon 1920 zerbrach die Koalition auf Bundesebene, Österreich wurde bürgerlich-konservativ regiert – und hatte eine tiefrote Hauptstadt. Die Kluft zum restlichen Österreich verstärkte sich 6 | einleitung

noch zusehends, als Wien, das zuvor zu Niederösterreich gehört hatte, mit 1. Jänner 1922 selbstständiges Bundesland wurde – mit dem Recht, als Bundesland Mittel aus den Steuereinkünften zu beziehen, und mit eigener Steuerhoheit, die sich als unverzichtbare Grundlage für die Durchführung des sozialdemokratischen Reformprogramms erweisen sollte.

Um die Mitte der 1920er-Jahre polarisierten sich die politischen Lager. Aus den illegal bewaffneten Gruppen, die im Burgenland und in Kärnten nach dem Zu­ sammenbruch der ÖsterreichischUngarischen Monarchie für den ungeteilten Verbleib dieser Territorien bei Österreich gekämpft hatten, waren politisierte paramilitärische Verbände geworden – der Republikanische Schutzbund auf sozialistischer und die deutschnationalen, monarchistischen und nazistischen Heimwehrverbände, die sich als eigene politische Kraft sahen, auf konservativer Seite. Für die agrarischen Gebiete Österreichs war Wien der „Wasserkopf“, eine gefährliche Festung des Bolschewismus; das städtische, vorwiegend antiklerikale Proletariat hingegen verachtete die katholische Landbevölkerung. Bei einer Demonstration in Schattendorf im Burgenland wurden zwei Unbeteiligte durch Schüsse von Angehörigen der nationalen Frontkämpfervereinigung getötet; als die Täter

Victor Adler

Otto Bauer

Jakob Reumann einleitung | 7

freigesprochen wurden, kam es am 15. Juli 1927 in Wien zu schweren Zusammenstößen von Demonstranten und Polizei, bevor der Justizpalast in Flammen aufging. Nach einem Schussbefehl des Polizeipräsidenten wurden 89 Personen getötet. Die Führung der Sozialdemokratie blieb letztlich inaktiv. In der Folge kam es zur Entstehung einer bewaffneten, kampfbereiten Links­opposition innerhalb der Sozialdemokratie. Damit verstärkten sich die Spannungen nun auch innerhalb der Partei, deren Führung immer noch zu Kompromissen mit dem politischen Gegner bereit war. Im konservativen Lager wurde die Heimwehr immer stärker als Speerspitze gegen den „Bolschewismus“ in die politischen Strukturen einbezogen. Der politische Konflikt erhielt eine offen gewaltbereite Komponente. Durch eine umfangreiche Säuberung wurden Sozialdemokraten aus Polizei, Bundesheer und bundesstaatlichen Einrichtungen entfernt, die Partei geriet in die Defensive. Im Mai 1930 deklarierte die Heimwehr mit dem „Korneuburger Eid“ ihren Willen zur Zerschlagung der Demokratie. Ein Koalitionsangebot von Bundeskanzler Ignaz Seipel wurde durch Otto Bauer 1931 abgelehnt, da die Sozialdemokratie angesichts der Weltwirtschaftskrise auf das baldige Ende des Kapitalismus hoffte. 1932 hatten die Nationalsozialisten erste Erfolge. Die Heimwehr forderte die Einrichtung einer ständestaatlichen Regierung. Im März 1933 wurde die parlamentarische Verfassung durch eine Notverordnung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß außer Kraft gesetzt.

Ende März wurde der Schutzbund aufgelöst, der traditionelle Aufmarsch am 1. Mai wurde verboten, eine Hetzkampagne gegen Sozialdemokraten setzte ein. Die Führung der Sozialdemokratie verhielt sich noch immer defensiv, um die Demokratie zu erhalten und eine autoritäre Staatsform zu verhindern; noch im Jänner 1934 gab es Verhandlungen mit der Regierung. Der linke Parteiflügel hingegen forderte eine revolutionäre Gegenstrategie, unter Einschluss gewaltsamer Auseinandersetzungen. In einem extrem radikalisierten und kampfbereiten Klima gab eine Waffensuche der Polizei im Linzer Hotel Schiff den Anstoß für Kampfhandlungen – gegen den Willen der SP-Parteiführung.

Dem Schutzbund standen die zum Zuschlagen entschlossenen Heimwehrverbände und die Staatsmacht gegenüber. In Wien Ein Durchgang im Reumannhof, Wien-Margareten 3 8 | einleitung

wurden am 12. und 13. Februar 1934 die großen Gemeindebauten, Arbeiterheime und Versammlungslokale von der Polizei und der Artillerie des Bundesheers beschossen. Ein geplanter Generalstreik wurde nicht durchwegs befolgt. Am 15. Februar war der sozialdemokratische Widerstand ausgeschaltet; es gab 182 Tote und 460 Verletzte, Verhaftungen, Misshandlungen und standrechtliche Erschießungen von neun Schutzbundführern.

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei mit allen ihren Organisationen wurde verboten, die Parteiführung flüchtete ins Ausland. Aus Funktionären der mittleren Hierarchie formierten sich die RS, die Revolutionären Sozialisten, die in der Illegalität operierten und sich von der alten Partei, aber auch von den Kommunisten abgrenzten.

Wien erhielt schon Ende März 1934, noch vor dem Umbau Österreichs zum autoritären Ständestaat, eine ständische Verfassung. Damit war das Rote Wien der Ersten Republik zu Ende.

Die austrofaschistische Ideologie propagierte nun eine autoritäre Staatsform nach italienisch-faschistischem Vorbild, aber unter prominenter Einbindung der katholischen Kirche. Die Bedeutung der Familie und eine neue Vaterlandsliebe – als deutliche Abgrenzung gegen das nationalsozialistische Deutschland – wurden in den Vordergrund gestellt. Im Juli 1934 wurde Kanzler Dollfuß bei einem fehlgeschlagenen nationalsozialistischen Putschversuch ermordet. Sein Nachfolger Kurt Schuschnigg verlor 1936 Mussolinis Schutz gegen eine Vereinnahmung Österreichs durch Hitler. Als der Druck von Nazideutschland 1938 die österreichische Eigenstaatlichkeit bedrohte, suchte Schuschnigg im März 1938 Kontakt zur illegalen Sozialdemokratie, die beschloss, eine geplante Volksabstimmung zur Eigenständigkeit Österreichs mit „Ja“ zu unterstützen. Im letzten Moment gab Schuschnigg dem Druck der Nazis nach und sagte das Referendum ab. Am 12. März 1938 marschierte Hitler in Österreich ein. Zahlreiche Sozialdemokraten waren im Widerstand aktiv; unzählige wurden vertrieben, ermordet, inhaftiert und gefoltert.

Die Sozialdemokratie Die SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) wurde am Hainfelder Parteitag 1888/89 gegründet, als es dem Arzt und Publizisten Dr. Victor Adler gelang, einen Konsens zwischen dem 10 | einleitung

gemäßigten und dem radikalen Flügel der österreichischen Arbeiterbewegung zu erzielen. In der damals verfassten Prinzipienerklärung setzte sich die Sozialdemokratie das Ziel, „für das gesamte Volk ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Geschlechtes, die Befreiung aus den Fesseln der ökonomischen Abhängigkeit, die Beseitigung der politischen Rechtlosigkeit und die Erhebung aus der geistigen Verkümmerung“ einzutreten. Die Arbeiter Wiens waren damals noch von jeglicher politischer Mitbestimmung ausgeschlossen, denn es galt ein Kurienwahlrecht, dessen Ausübung an eine bestimmte jährliche Steuerleistung gebunden war, die die Arbeiter nicht erbringen konnten. Die Sozialdemokratie kämpfte ab den 1890er-Jahren für ein allgemeines Wahlrecht; Frauen hatten zu diesem Zeitpunkt in Österreich überhaupt noch nie gewählt. 1890 wurde die erste Wiener Maikundgebung veranstaltet (es gibt sie – mit einer Unterbrechung von 1934 bis 1945 – bis heute: Die Wiener Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sammeln sich am 1. Mai morgens in ihren Bezirken und ziehen mit Musik und Transparenten über die Ringstraße zum Rathausplatz, wo alljährlich die Schlusskundgebung stattfindet; bei dieser Gelegenheit werden zahlreiche öffentliche Gebäude und kommunale Wohnhausanlagen rot-weiß-rot, rot-weiß oder – mittlerweile seltener – rot beflaggt). Immerhin erhielten die Sozialdemokraten im Jahr 1900 erstmals zwei Mandate im Wiener Gemeinderat.

Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte die Sozialdemokratische Partei in Wien etwa 45.000 Mitglieder. Im Lauf des Krieges entschloss sie sich zu einer stärker oppositionellen Antikriegspolitik, die ihr eine Kontrolle der eskalierenden Massenproteste zu Kriegsende ermöglichte. Die ersten allgemeinen freien Wahlen fanden im Februar 1919 statt, die ersten Wiener Gemeinderatswahlen in Wien brachten einen überwältigenden Wahlerfolg der Sozialdemokratie (54,4 Prozent), der sich in den Jahren danach noch steigern sollte (1923: 55,5; 1927: 60,3; 1932: 59 Prozent). Die Mitgliederzahl stieg von 79.165 im Jahr 1919 auf 417.347 1927 – bei etwa 1,7 Millionen Einwohnern.

Wien wurde mit einem Netz von sozialdemokratischen Ins­ titutionen überzogen, das sämtliche Bereiche des Lebens abdeckte: Arbeit und Freizeit, Kultur und Sport, Körper und Gesellschaft wurden durch Verbände und Vereine organisiert, die zum Teil bis heute existieren: vom Esperantobund bis zum einleitung | 11

Feuerbestattungsverein, von der Rettungsgesellschaft bis zum Sportverband (eine Liste sozialdemokratischer Organisationen ist unter www.spoe.at abrufbar). Zeitungen, Zeitschriften und Publikationen (Arbeiter-Zeitung, Der Kampf, Die Unzufriedene u.v.m.) verbreiteten sozialdemokratisches Gedankengut, die Kunststellen vermittelten Theater- und Konzertkarten (u.a. zu den Arbeiter-Symphoniekonzerten, die unter der Leitung Anton von Weberns stattfanden und zu deren Besuch den Arbeitern dem Anlass angemessene Kleidung empfohlen wurde) und versuchten, die Arbeiter weg von der Populärkultur und hin zum klassischen deutschen Bildungskanon zu führen. Kinderbetreuungseinrichtungen entlasteten die arbeitenden Frauen, in den Schulen wurden reformpädagogische Methoden angewandt.

Der Einfluss der Partei ging über Gesundheitsvorsorge- und Fürsorgeeinrichtungen, Lebensstil- und Verhaltensempfehlungen (Rolle der Frau, angemessene Kleidung, persönliche Hygiene) bis in die Familien hinein. Die Partei begleitete die Proletarierinnen und Proletarier vom Kindesalter an: Auf die Mitgliedschaft bei den Kinderfreunden (seit 1922; Kinder von sechs bis zehn Jahren) folgte der Eintritt bei den Roten Falken, einer an den Pfadfindern und den sowjetischen Pionieren orientierten Organisation für die 10- bis 14-Jährigen, die der Disziplinierung diente und gegen das Rauchen und Trinken eintrat. Für die 14bis 21-Jährigen war die Sozialistische Arbeiterjugend zuständig, bevor der Eintritt in die Partei erfolgte. Diese war hierarchisch organisiert: Über den Gruppen in den Häusern standen die lokalen Sektionen, darüber die Bezirksorganisationen, die wiederum dem Parteisekretariat bzw. der Leitung unterstanden.

Anfang der 1930er-Jahre gab es 1500 bezahlte Parteifunktionäre und über 21.000 Vertrauenspersonen.

Leben und Jahreszeiten wurden anhand eines Festkalenders strukturiert, der trotz des antiklerikalen Charakters der Partei deutlich an die christlichen Feste angelehnt war: Es gab Wiegenfeste, Jugendweihen, ein Fest des Arbeitersports zu Ostern und die Feiern anlässlich der wichtigen Gedenktage (Erster Mai, Tag der Republikgründung). Nach 1927 kamen sorgfältig choreografierte propagandistische Massenfestspiele dazu; ein Höhepunkt war die Internationale Arbeiterolympiade von 1931, die im neu erbauten Wiener Praterstadion stattfand.

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Das sozialdemokratische Reformprogramm für Wien Das Reformprogramm der Sozialdemokratie bezog sich nicht auf eine Veränderung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern auf eine umfassende gesellschaftliche Veränderung innerhalb dieser Verhältnisse. Nichts weniger als der „Neue Mensch“, so der Titel eines Textes von Max Adler, sollte geschaffen werden – durch ein alle Bereiche des Lebens umfassendes Reformprojekt. Das theoretische Fundament des Roten Wien war der Austromarxismus. Eine erste Gruppe von marxistischen Intellektuellen hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg mit Karl Renner, Max Adler, Rudolf Hilferding, Otto Bauer und Friedrich Adler, dem Sohn Victor Adlers, konstituiert; bis auf Renner, den Staatsgründer der Ersten und der Zweiten Republik, kamen sie alle aus bürger­ lichem Milieu. Das philosophische Fundament bildete – vereinfacht gesagt – eine Integration von marxistischer Gesellschaftstheorie und den vielfältigen philosophischen Strömungen der Jahrhundertwende. Die zweite Generation, zu der Otto Bauer die Kontinuität herstellte, waren die Realpolitiker des Roten Wien: die Bürgermeister Jakob Reumann und Karl Seitz, die Stadträte Hugo Breitner (Finanz), Julius Tandler (Fürsorge, Gesundheit), Otto Glöc-kel (Schule), Anton Weber (Wohnbau), Parteisekretär

Hugo Breitner

Julius Tandler

Otto Glöckel einleitung | 13

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Robert Danneberg, Julius Deutsch (Leiter des paramilitärischen Schutzbunds), die Kulturfunktionäre ­Josef Luitpold Stern, David Bach und Otto Felix Kanitz, Anton Tesarek, der Gründer der Jugendorganisation, und die Publizisten Friedrich Austerlitz, Max Winter und Julius Braunthal. Die operative Grundlage für ihre Tätigkeit war Otto Bauers Theorie des „Gleichgewichts der Klassenkräfte“: Da weder Bourgeoisie noch Proletariat den Staat dominieren konnte, musste die Macht zwischen ihnen aufgeteilt werden. Die sofortige Übernahme der Macht könne nur ein um jeden Preis zu vermeidender Bürgerkrieg herbeiführen.

Aber eine proletarische Gegenkultur als Vorbereitung für eine sozialistische Gesellschaft könne, so Bauer, schon in der Gegenwart geschaffen werden – durch ein dichtes Netzwerk von Institutionen, in denen über Bildung proletarisches Klassenbewusstsein erzeugt werden sollte. Der Glaube an Bildung als Mittel zur gesellschaftlichen Veränderung („Wissen ist Macht“) war ein Erbstück der bürgerlichen Herkunft der sozialdemokratischen Funktionäre, ebenso die Tendenz zur Unterdrückung traditioneller Inhalte der proletarischen Kultur zugunsten einer Einbringung lebensreformerischer Inhalte, wie sie vom fortschrittlicheren Teil des Bürgertums kultiviert worden waren, wie zum Beispiel Koedukation, Antialkoholismus, Sport und Ähnliches.

Das Reformprogramm stützte sich auf fünf Grundpfeiler. Der erste war eine umfassende Sozialpolitik mit Kinder- und Jugendfürsorge, Kindergärten, Horten, Schulzahnkliniken, Schulärzten und Verpflegung; der zweite eine intensive Gesundheitspolitik mit Vorsorgemedizin, Antialkoholismus-Kampagnen, Tbc-Bekämpfung, Sportstättenbau, Familienplanung etc.; der dritte eine reformistische Schulpolitik mit Gesamtschule, Demokratisierung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, Abschaffung des Religionsunterrichts und einem umfangreichen System der Erwachsenenbildung; der vierte eine sozialdemokratische Kulturpolitik, die mit Büchereien, den sogenannten Kunststellen, zahlreichen Arbeiterbildungseinrichtungen, den Arbeiter-Symphoniekonzerten und Kulturvereinen für alle nur erdenklichen Bereiche einen vorwiegend bürgerlichen Bildungskanon zu vermitteln versuchte. Der fünfte Träger des Reformprogramms war Stiegenzugang im Karl-Marx-Hof, Wien-Heiligenstadt 7 einleitung | 15

das Wohnbauprogramm, das ein Grundbedürfnis des Wiener Proletariats stillte, denn die Wohnverhältnisse in der Hauptstadt waren bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts katastrophal.

Die Gemeindebauten sind es, über die das Rote Wien bis heute hauptsächlich rezipiert wird, denn sie verankern es mit ihrer unverkennbaren Formensprache fest im städtischen Kontext.

Die Wohnbauten der Stadt Wien Die Wohnungssituation war für die arme Wiener Bevölkerung bereits seit dem 19. Jahrhundert unerträglich. In der Gründerzeit wurden Mietshäuser als Spekulationsobjekte gebaut, möglichst viele Wohnungen pro Grundstück garantierten optimalen Gewinn. Das geschah auf Kosten der Mieter, denn bei den hohen Mieten mussten viele von ihnen Untermieter und Bettgeher aufnehmen. Die Mieter waren der Willkür der Hausherren ausgesetzt, die jederzeit Verträge kündigen und Mieten erhöhen konnten. 1917 waren fast drei Viertel aller Wiener Wohnungen überbelegte Ein- oder Zweiraumwohnungen in Zinskasernen, in denen unter teils entsetzlichen gesundheitlichen Verhältnissen – die Tuberkulose hieß damals „Wiener Krankheit“ – gehaust wurde. 1916/17 kam noch ein Hungerwinter dazu, und die Arbeiterschaft begann sich zu radikalisieren. Die konservative Regierung der zusammenbrechenden Donaumonarchie war aus Angst vor sozialen Unruhen gezwungen, Konzessionen zu machen, und verabschiedete eine Mieterschutzverordnung, die das Kündigungsrecht der Hausherren einschränkte und einen Mietzinsstopp verfügte. Die Wohnungssituation besserte sich allerdings zunächst nicht. Der Wohnhausbau war nämlich für private Investoren unrentabel geworden: Vor dem Krieg waren die Grundstücke zu teuer gewesen, danach waren die Kosten für das Baumaterial zu hoch, und durch den Mietzinsstopp in Verbindung mit der Inflation tendierten die Mieten gegen null.

Der private Wohnbau kam daher zum Erliegen, obwohl Nachfrage nach Wohnungen bestand, denn nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Eheschließungen an. Die Sozialdemokraten, seit 4. Mai 1919 stärkste Fraktion im Gemeinderat, mussten sich etwas einfallen lassen und organisierten zunächst Notquartiere in leeren Wohnungen, Kasernen, Hotels etc. Die Schaffung billiger, gesunder, hygienischer Wohnungen für alle war aber, wie sich zeigte, nur durch die Kommunalisierung des Wohnhaus16 | einleitung

baus möglich. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Anlaufen des vorbildlichen Wohnbauprogramms des Roten Wien war die Trennung Wiens von Niederösterreich Anfang 1922, denn nun konnte Wien eigene Steuergesetze beschließen. Die so erzielten Steuereinkünfte waren die finanzielle Basis für die Durchführung des epochalen kommunalen Reformprogramms des Roten Wien unabhängig von der konservativen Bundesregierung. Aus Gründen der niedrigeren Aufschließungs-, Bauund Infrastrukturkosten, aber auch aus ideologischen und politischen Gründen entschloss sich die Gemeinde, den Bau von Geschoßbauten, nicht von Siedlungshäusern, zu forcieren, und kaufte mittlerweile preisgünstig gewordene Grundstücke in infrastrukturell erschlossenen Stadtbereichen auf; Anfang 1924 war die Stadt bereits die größte Grundbesitzerin in Wien. Im Mai 1922 wurde der Mieterschutz gesetzlich festgeschrieben und eine Mietzinsabgabe eingeführt, Anfang 1923 folgte eine zweckgebundene Wohnbausteuer, deren Ertrag ausschließlich in die Errichtung neuer Wohnbauten floss. Die Steuer war von allen Besitzern vermietbarer Räume zu entrichten und wurde sozial gestaffelt; die teuersten 0,54 Prozent der Wiener Mietobjekte erbrachten 44,57 Prozent der Gesamtleistung. Der geniale sozialdemokratische Finanzstadtrat Hugo Breitner schuf in einer Periode der Inflation, der Belas­tung durch Reparationszahlungen an die Gewinner des Ersten Weltkriegs und der hohen Arbeitslosigkeit, in der große Teile der Wiener Bevölkerung zu verelenden drohten, die finanzielle Grundlage für eines der umfangreichsten gesellschaftlichen Reformprogramme des 20. Jahrhunderts, indem er ein System neuer Abgaben kreierte.

Diese bezogen sich auf alles, was über das unbedingt Lebensnotwenige hinausging: Besteuert wurden Automobile, Pferde, Hauspersonal, Luxus und Vergnügen. Dadurch wurden die Vermögenden zur Kasse gebeten. Wegen des kompensatorischen Charakters des Steuersystems wurde Breitner als „Steuerbolschewist“ beschimpft und wie viele Sozialdemokraten offen antisemitisch attackiert.

Die Gemeinde Wien, 1918 am Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, war 1923 imstande, ein über fünf Jahre angelegtes Projekt zur Errichtung von 25.000 Wohnungen für etwa 100.000 Personen anzukündigen und durchzuführen. Zwei weitere Wohnbauprogramme folgten, bis 1934 wurden 61.175 einleitung | 17

Wohnungen errichtet. Dieses unglaubliche Bauvolumen verringerte wesentlich die dramatische Arbeitslosigkeit und sicherte einer Reihe von kleinen Baufirmen und Baustoffherstellern das Überleben. Im Rahmen des Wohnbauprogramms wurden verschiedene Grundsätze entwickelt, die ein gesundes und hygienisches Wohnen ermöglichten und eine ideologisch motivierte typologische Abwendung von der Zinskaserne der Gründerzeit bedeuteten. Die Hofräume der Anlagen sorgten für Licht, Luft und Bewegungsraum und nahmen nun – entsprechend große Bauplätze vorausgesetzt – 50 Prozent der Grundstücksfläche ein (baurechtlich vorgeschrieben waren 15 Prozent). Alle Räume der Wohnungen wurden so angeordnet, dass sie direkt beleuchtet und belüftet werden konnten – ein großer Fortschritt gegenüber den herkömmlichen Wohnungstypen, deren Küchen über den Gang belüftet wurden. Maximal vier Wohnungen pro Stockwerk lagen um ein Stiegenhaus, das nicht von der Straße, sondern meist über einen großen begrünten Hof zugänglich war. Jede Wohnung war durch ein Vorzimmer vom Stiegenhaus getrennt, was mehr Privatheit garantierte. Bis 1927 wurden vorwiegend zwei Typen errichtet: 38 Quadratmeter groß, mit Wohnküche (mit Gasherd und Wasserstelle) und Zimmer, bzw.

48 Quadratmeter groß, mit Wohnküche, Zimmer und Kabinett.

Fast alle Wohnungen hatten Balkons, Loggien oder Erker, fließendes Wasser sowie WCs, aber keine Badezimmer. Es gab aber Brause- und Wannenbäder im Erdgeschoß der Gemeindebauten oder in eigenen Badehäusern, ebenso wie Kindergärten, Lebensmittelgeschäfte, Bildungseinrichtungen wie Büchereien und Lesesäle, Zahnkliniken, Fürsorge- und Gesundheitseinrichtungen. Die gemeinsamen Waschküchen und die Grünflächen mit Kinderspielplätzen wirkten der Isolierung der Hausfrauen bei der Hausarbeit entgegen und stärkten das Kollektiv.

Bis 1922 wurden die gemeindeeigenen Wohnhäuser fast ausschließlich durch das seit 1835 bestehende Stadtbauamt entworfen, in dem auch mehrere Schüler Otto Wagners tätig waren (Karl Ehn, Engelbert Mang, Gottlieb Michal, Konstantin Peller), danach wurden zahlreiche freie Architektinnen und Architekten zugezogen, die das Stadtbauamt auswählte. Für die Gestaltung der Bauten scheint es kein festgeschriebenes ästhetisches Programm gegeben zu haben; die Vorgaben waren auf die beschriebenen Grundsätze beschränkt, aber die Viel18 | einleitung

zahl der Entwerfer sorgte für ein heterogenes Erscheinungsbild. In den historischen Texten geht es zwar um eine Distanzierung vom bürgerlichen Zinshaus und seinen formalen Motiven, allerdings ohne die Forderung einer proletarischen Architekturästhetik. Ein Text aus 1927 distanziert sich von der Verlogenheit der Palastfassaden an Zinskasernen. Weiter heißt es dort: „Die Gemeindewohnhäuser vermeiden solche architektonische Zutaten, sie wirken durch ihre meist sehr glückliche Gliederung, durch die würdigen und einfachen Formen … dort, wo eine Verbesserung der Wohnverhältnisse erzielt wird.“ Viele Reformer hatten allerdings genaue Vorstellungen von der Möblierung der Wohnungen.

Eine ganze Generation von Architekten und Designern hat in der 1920er- und 1930er-Jahren nicht ganz ohne Herablassung versucht, den Wiener Arbeiterinnen und Arbeitern ihre Vorstellungen von einer adäquaten proletarischen Wohnkultur zu vermitteln; es gab unzählige Ausstellungen und Veröffentlichungen zu diesem Thema.

Adolf Loos hat sich im Rahmen seiner Tätigkeit für die Siedlerbewegung ganz besonders damit beschäftigt, ebenso Josef Frank, Ernst Lichtblau und viele andere.

Zum Teil wurde auch mit Einbaumöbeln experimentiert. Margarete Schütte-Lihotzky hat sich mit der

Ernst Lichtblau

Adolf Loos

Josef Frank einleitung | 19

Rationalisierung der Frauenarbeit im Haushalt beschäftigt; ihre berühmte Frankfurter Küche entstand allerdings erst 1927 für das Frankfurter Siedlungsamt. Die herkömmliche proletarische Wohnkultur, die sich an bürgerlichen Vorbildern orientierte, schien den Reformern, die mit den Sozial- und Gesellschaftsutopien des frühen 20. Jahrhunderts vertraut waren, verstaubt, bieder und kleinbürgerlich. An ihre Stelle sollten einfache, glatte und preiswerte Möbel und Gegenstände treten (die Reformvorschläge machten auch nicht vor so persönlichen Aspekten wie Frisur und Bekleidung Halt – Pagenköpfe und lose Kleidung für Frauen galten als proletarisches Ideal, lagen allerdings auch im allgemeinen Trend der 1920er-Jahre und wurden wohl nicht zuletzt deshalb gerne getragen).

Die Wohnungen in den Gemeindebauten werden bis heute zentral verwaltet; sie wurden und werden nach einem sozial gestaffelten Punktesystem vergeben. Der Mietzins für die Wohnungen war von Anfang an so veranschlagt, dass zwar die Kos­ ten für die Instandhaltung der Wohnungen laufend hereinkamen, aber kein Gewinn erwirtschaftet wurde. Die Miete für eine durchschnittliche Gemeindewohnung betrug 1926 vier Prozent eines Arbeitermonatslohns. Diese Preise waren nicht zu unterbieten, sodass Wohnungen als Ware uninteressant wurden. Das hatte noch einen weiteren wichtigen Effekt: G. Pirhofer hat darauf hingewiesen, dass die nur mehr symbolischen Mieten dazu beitrugen, das Lohnniveau und damit die Arbeitslosigkeit in Österreich niedrig zu halten, was die österreichische Industrie unterstützte – eine Situation, die vielleicht paradox erscheint, aber mit der austromarxistischen Vorstellung von einer Veränderung innerhalb der herrschenden kapitalistischen Zustände verständlich wird.

Nach außen hin sind die Gemeindebauten nicht nur durch eine Reihe formaler Eigenheiten, wie die typisierten Fenster, die Erker und Balkons und den Dekor, leicht zu erkennen. An den größeren Anlagen gibt es gut sichtbare Aufschriften, die den Namen der Anlage und das Baujahr nennen – mit dem Zusatz „Wohnhausanlage der Gemeinde Wien“. In den Einfahrten sind Tafeln angebracht, die mit ihrer sorgfältigen Gestaltung nicht nur die erstaunliche Schriftkultur der Zeit dokumentieren, sonLuxus für alle: die Schwimmhalle im Amalienbad 3 20 | einleitung

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dern die Bauten als „gewollte Denkmäler“ ausweisen – Vorsorge für die Erinnerung in einer Zukunft, die man sich sozialdemokratisch vorstellte. Von Anfang an wurden größere Wohnhausanlagen meist nach Personen benannt, die in Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung oder der Sozialdemokratie standen oder als ideologische Vorläufer gelten konnten – wie Karl Marx und Friedrich Engels, Ferdinand Lassalle, George Washington, Heinrich Heine oder Jakob Reumann.

Die Gemeindebauten sind nicht nur die sichtbaren Denkmäler der Sozialdemokratie und des größten Reformprogramms in der Geschichte der Stadt, sie repräsentieren auch die unwahrscheinliche Bandbreite architektonischer Möglichkeiten im Wien der Zwischenkriegszeit.

Die Ansichten über die Durchsetzung einer wirklichen architektonischen Moderne in Wien sind geteilt; zum einen gab es nach dem Ersten Weltkrieg einen formalen Backlash in Richtung Neohistorismus, zum anderen wurden aber auch zahlreiche Anregungen aus der sich formierenden internationalen Moderne (Bauhaus, Neue Sachlichkeit, Funktionalismus) rezipiert und bearbeitet. Die Sozialdemokratie hat sich nie zu einer der herrschenden architektonischen Ideologien ihrer Zeit bekannt; ihre heterogene Architektursprache wurde nicht selten als rückständig und bourgeois diffamiert. Aber genau dadurch war sie modern – im Sinn Josef Franks, der jeglichen Dogmatismus, jedes Formdiktat ablehnte, die Suche nach dem neuen Stil, der alles verändern sollte, aufgegeben hatte und sich dafür den Luxus von Vielfalt, Abwechslung und Sentimentalität leistete.

Die folgenden fünf Spaziergänge sollen das illustrieren – und darüber hinaus an Zusammenhänge erinnern, die ein wenig in Vergessenheit geraten sind, im Kontext der Stadt aber immer noch gelesen werden können.

Noch ein paar praktische Hinweise Die Routen sind so konzipiert, dass Sie Dauer und Intensität je nach Lust und Laune bestimmen können. Wenn Sie sich auf die rot hervorgehobenen Objekte beschränken, erhalten Sie einen guten Überblick über die wichtigsten Highlights des Roten Wien. Wenn Sie so viel wie möglich sehen wollen, gehen Sie die ganze Route ab; es gibt auch Infos zu Sehenswürdigkeiten, die nicht unmittelbar mit dem Roten Wien zu tun haben, aber In22 | einleitung

Begrünte Innenhöfe als Erholungsoasen

teressantes zur Stadt- oder Bezirksgeschichte bieten. Die roten Symbole verweisen auf ein umfangreiches kulturelles und kulinarisches Angebot – Essen und Trinken, Schauen und vielleicht auch Einkaufen gehören zum Flanieren.

Kurze Übersichten und Pläne finden Sie am Anfang jeder Route. Alle Anfangs- und Endpunkte sind leicht und schnell mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen; Ihr Pkw wäre Ihnen ein Klotz am Bein, da die Etappen der Routen nahe beieinanderliegen, Parkplätze hingegen rar und (innerhalb des Gürtels ausnahmslos) kostenpflichtig sind. Viel eher anzuraten wäre der Gebrauch eines Fahrrads – das Wiener Radwegnetz ist gut ausgebaut.

Viele der beschriebenen Wohnbauten verfügen über meist frei betretbare, weitläufige Höfe mit Grünanlagen, in denen man angenehme Pausen einlegen kann – das Betreten von Rasenflächen wird allerdings nicht gerne gesehen, von Fußballspielen und Radfahren ganz zu schweigen. Eventuell könnten Sie als „hausfremde“ Person identifiziert und nach Ihrem Begehr gefragt werden. Die Stiegenhäuser der Anlagen sind üblicherweise versperrt; bitte respektieren Sie die Privatsphäre der Bewohner. Diese Bitte gilt natürlich auch für die Einfamilienhäuser der Werkbundsiedlung (Route 5).

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Margareten und die „Ringstraße des Proletariats“ Ausgangspunkt: U4 Pilgramgasse Endpunkt: U4 Margaretengürtel Die Route: U-Bahn-Station Unbedingt sehen: Pilgramgasse – 1 Vorwärts Reumannhof Verlag – 2 ehem. Zentralstel-  Brandmayergasse 24 le für das Bildungswesen –  Sgraffito in der Fendigasse 3 Margaretenplatz (Erinnerungen an die tschechischen Wiener Sozialdemokraten) – 4 Castelligasse 1 – Stöbergasse ( 5 Heinehof, 6 Polycollege) – 7 Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum – 8 Arbeiterwohnhausanlage Carolinum – Brandmayergasse 24 und 27 ( 9 Wohnhaus der Gemeinde Wien, 10 ­Keramisches Bild/Kunst am Bau) – 11 Familien-Asyl (Wohnheim des Ständestaats) – 12 ehem. Arbeitsamt Siebenbrunnenfeldgasse – 13 ehem. Autobusgarage – Der Gürtel als „Ringstraße des Proletariats“: Margaretengürtel, 14 Julius-Popp-Hof, 15 Herweghhof, 16 Matteottihof, 17 Metzleinstaler Hof, 18 Reumannhof) – Gaudenzdorfer Gürtel ( 19 Leopoldine-Glöckel-Hof, 20 Haydnhof) – Margareten­gürtel ( 21 namenlose Anlage Nr. 122–124, 22 Franz-Domes-Hof) – 23 Eisenbahnerheim – Berufsschule („Mollardburg“) und 24 Jubiläumswerkstättenhof – U-BahnStation Margaretengürtel Das 3 Stationsgebäude Pilgramgasse gehört zur Stadtbahn, einer der bedeutendsten und frühesten kommunalen Anlagen Wiens. Sie stammt aus einer Zeit, in der Wiens Bevölkerung rasant anwuchs; die Stadt hatte im Jahr 1892 mehr als 1,3 Millionen Einwohner. 1894 wurde der renommierte Architekt Otto Wagner mit dem baukünstlerischen Teil der Stadtbahn beauftragt. Wagner war nicht nur als einer der Mitbegründer der architektonischen Moderne bedeutend, er bildete als Lehrer an der Akademie auch jene Generation von Architekten aus, die das Rote Wien der 1920er- und frühen 1930er-Jahre mit seinen vielfältigen kommunalen Bauaufgaben entscheidend mitgestalten sollte. Mehr über Otto Wagner und die Stadtbahn erroute 1 | 25

fahren Sie in Band 1 der Reihe Falters Citywalks – „Wiener Jugendstil“.

Etwas weiter stadtauswärts, auf Rechte Wienzeile 97, liegt das ehemalige Gebäude des 1 VorwärtsVerlags. Das Vorwärts-Gebäude wurde 1909 eröffnet und war ab 1910 Sitz der Parteizentrale der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs), des parteieigenen Vorwärts-Verlags und zahlreicher sozialdemokratischer Organisationen (Republikanischer Schutzbund, Otto Wagners StadtbahnZentralstelle für das Bildungswesen, station Pilgramgasse Jugendorganisation etc.). Von der ursprünglichen Anlage steht heute nur mehr der Straßentrakt.

Errichtet wurde das Haus nach einem Entwurf der aus Mähren stammenden Otto-Wagner-Schüler Hubert und Franz Gessner, denen es gelang, mit der Modernität des Gebäudes ein Zeichen für das Selbstverständnis der österreichischen Sozialdemokratie zu setzen und diese gleichzeitig durch die charakteristische Silhouette ihres Sitzes an repräsentativer Stelle im Stadtbild zu verankern – immerhin war die Wienzeile ein wichtiger Boulevard, der die Innenstadt mit der kaiserlichen Sommerresidenz Schönbrunn verband. Die Putzfassade des Gebäudes fällt

Haus des Vorwärts-Verlags, einst Medienzentrum des Roten Wien 26 | route 1

durch die Fensteraufteilung auf: Der regelmäßige Rhythmus von Wand und Öffnung wird im obersten Geschoß „kopflastig“ durch vier große bay windows durchbrochen. Darüber sitzt ein markanter Treppengiebel mit einer Uhr, zwei Fahnenmasten und einer Ringkrone. Repräsentativ-bürgerliche Elemente, wie das Hoheitsmotiv des Giebels, die Erkerfenster und die Bauplastiken von Anton Hanak, die Arbeiter und Arbeiterin als idealisierte Akte darstellen und eine pathetische Note beisteuern, mischen sich hier mit modernen Elementen: Die Gesamtkonzeption geht vom klassischen gründerzeitlichen Fassadenschema ab, das Erdgeschoß wurde mit schmutzabweisendem keramischem Material verkleidet, und Belichtung, Belüftung und Funktionalität wurden berücksichtigt. Diese Kombination von konservativen und modernen Motiven, bürgerlichen Reminiszenzen und fortschrittlichem Selbstverständnis nimmt einige wichtige Charakteristika der Architektur des Roten Wien vorweg.

Hubert Gessner war mit Victor Adler beCafé Rüdigerhof freundet und entwarf mehrere wichtige Gebäude der Sozialdemokratie (zum Beispiel den Reumannhof, 3 S. 50 ff., und das Arbeiterheim Favoriten, 3 S. 81).

Im ersten Stock des Vorwärts-Gebäudes liegt das bis heute kaum veränderte ehemalige Sitzungszimmer der Parteivertretung, des erweiterten Parteivorstandes. Gleich daneben war das Büro von Zentralsekretär Robert Danneberg, der als eine Art Hausherr des Gebäudes fungierte. Das Vorwärts-Gebäude war eine Drehscheibe nicht nur der österreichischen Sozialdemokratie. Vor 1914 war Wien eine wichtige Station der russischen Emigranten; Leo Trotzki, Nikolai Bucharin und Lenin haben Victor Adler hier besucht und frequentierten das nahe gelegene 3 Café Rüdigerhof (5., Hamburgerstraße 20, Tel. 01/586 31 38, tägl. 9–2 Uhr). Ungarische und italienische Sozialdemokraten verkehrten hier.

Im Vorwärts-Haus waren die Redaktion der Arbeiter-Zeitung (AZ) und der Vorwärts-Verlag mit seiner Druckerei untergebracht. route 1 | 27

Die Verbindung von Organisation und Parteipresse war traditionell sehr eng; der Chefredakteur saß (in beratender Funktion) im Parteivorstand. Die Arbeiter-Zeitung war die Nachfolgerin der von Victor Adler 1886 gegründeten, 1889 verbotenen Gleichheit; sie erschien ab Juli 1889 als Wochenblatt, ab 1895 als Tageszeitung. Chefredakteur war zunächst Victor Adler (bis 1918), ihm folgten der berühmte Friedrich Austerlitz (bis 1931) und Oscar Pollak (bis 1961). Zusammen mit dem Chefideologen Otto Bauer, der zahlreiche Leitartikel verfasste, mit Julius Braunthal und Otto Leichter prägten diese hervorragenden Journalisten die Blattlinie der Arbeiter-Zeitung der Zwischenkriegszeit. Neben der AZ wurden hier auch das Kleine Blatt und die Illustrierte Kuckuck produziert. Während des Bürgerkriegs im Februar 1934 (3 S. 8 ff.), in dessen Folge die autoritäre Bundesregierung alle sozialdemokratischen Institutionen und Publikationen verbot, wurde das Haus von der Polizei besetzt. Erst 1945 konnte die AZ wieder erscheinen, 1986 zog die Redaktion aus, 1991 wurde die Zeitung endgültig eingestellt. Danach wurden die Hoftrakte des Gebäudes mitsamt der Druckerei abgebrochen. – Im Vorwärts-Gebäude ist seit 1989 der 3 Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung untergebracht (Tel. 01/545 78-70, www. vga.at, Di–Do 10–16 Uhr), ebenso die Stiftung Bruno Kreisky Archiv (Tel. 01/545 75 35-32, www.kreisky.org) und Teile des Renner-Instituts.

Nicht weit von hier befand sich in der Schönbrunner Straße 56 (heute steht hier ein Neubau, es gibt vor Ort nichts zu sehen) die sozialdemokratische 2 Zentralstelle für das ­Bildungswesen, die größte Arbeiter-Bildungsinstitution ihrer Zeit, die auch die Ausbildung der SP-Funktionäre wahrnahm (mehr zur sozialdemokratischen Bildungspolitik 3 S. 15).

Durch die Pilgramgasse gelangen Sie in das Zentrum der alten Vorstadt Margareten, die zusammen mit den anderen ringförmig um die Innenstadt gelegenen Vorstädten im Jahr 1850 eingemeindet wurde. Der dörfliche Ursprung Margaretens ist auf dem kleinen 3 Margaretenplatz gut nachvollziehbar. Die östliche Platzwand ist gekrümmt und besteht aus einer unregelmäßigen Reihe von Häusern, die aus dem späten 18. Jahrhundert stammen. Hier stand seit dem 14. Jahrhundert ein Gutshof, der Sitz der örtlichen Grundherrschaft war und ab 1555 zu einer Schlossanlage mit einem Meierhof ausgebaut wurde. In diesem 28 | route 1

Der Margaretenhof im 5. Bezirk, erbaut von Fellner & Helmer

Schloss gab es eine der heiligen Margarete geweihte Kapelle, die dem Ort seinen Namen gab. Reste des Schlosses haben vor allem im Haus 3 Margaretenplatz 3 überlebt. Über dem Tor ist eine Inschriftentafel aus dem Jahr 1651 angebracht, die aus dem Schloss stammt. Die Inschrift enthält ein Chronogramm: Alle Buchstaben, die gleichzeitig als römische Ziffern gelesen werden können, ergeben zusammengezählt die Jahreszahl.

Zwischen Schloßgasse und Zentagasse lag ein ausgedehnter Garten, in dem im 18. Jahrhundert eine Seidenraupenzucht bestand (der allerdings wenig Erfolg beschieden war). In mariatheresianischer Zeit – damals wurde die Gründung von Indus­ trien vom Staat gefördert – bestand auf Nr. 2 und im lang gestreckten Trakt entlang der Schloßgasse eine Drahtzugsfabrik.

1786 wurden Schloss und Garten parzelliert, versteigert und (teilweise unter Einbeziehung älterer Bausubstanz) neu bebaut.

Die Häuser Margaretenplatz 2 und 3 und Margaretenstraße 77 und 79 mit ihren Innenhöfen sind ganz typisch für diese Zeit.

Auf Margaretenplatz 3 befinden sich zwei nette Läden: 3 ­Design of 20th Century mit feinen Antiquitäten ab den 1950er-Jahren (Di–Fr 10–16, Sa 11–16 Uhr, Tel. 01/911 22 48, www.design20thcentury.com) und 3 Urban Tool (Mo–Fr 10– 19, Sa 10–16 Uhr, Tel. 0664/559 44 92, www.urbantool.com), wo Sie sich mit Taschen und Täschchen für Ihre Gadgets eindecken können. Falls Sie bereits einer Labung bedürfen, können Sie im 3 Cuadro (5., Margaretenstraße 77, Tel. 01/544 75 50, Mo–Sa 8–24, So, Fei 9–23 Uhr) einkehren. Die Café-Bar gehört zu einer Gruppe von Lokalen, die sich in den letzten Jahren im sogeroute 1 | 29

nannten Schloss­quadrat etabliert hat (www.schlossquadr.at).

Ein feiner Vorschlag für den Abend wäre ein Besuch im nahe gelegenen 3 Filmcasino (5., Margaretenstraße 78, Tel. 01/ 587 90 62, www.filmcasino.at), einem Kino aus den 1950er-Jahren mit einem wunderbaren Foyer aus der Zeit (Entwurf: Albrecht F. Hrzan, 1954, Restaurierung 1989; Haus von 1913/14) und anspruchsvollem Programm, kombiniert mit einem Abendessen in einem der schönen Gastgärten.

Wieder zurück zum 3 Margaretenplatz. Auf Nr. 7 erinnerte bis vor kurzem eine Aufschrift in tschechischer Sprache an die Tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei Österreichs, die hier von 1902 bis 1972 ihren Hauptsitz hatte. Heute ist neben dem Haustor eine 3 Gedenktafel angebracht, die an die Redaktion der Zeitung Dělnické listy und an die Organisationen Maj und DTJ erinnert. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren viele Tschechen und Slowaken nach Wien eingewandert. Um 1900 gaben 103.000 der 1,7 Millionen Einwohner Wiens als Muttersprache Tschechisch oder Slowakisch an, und 1923 waren es immerhin Filmcasino: Treffpunkt für Cineasten noch 81.345 Personen.

Die Zuwanderer der Jahrhundertwende waren vor allem Arbeiter, die auf bessere Lebensbedingungen in der Hauptstadt der Monarchie hofften, aber auch unter anderen Gewerbetreibende, Künstler, Ärzte, Schneider. Die Frauen stellten einen großen Teil des Wiener Hauspersonals und waren für ihre Kochkünste berühmt (wodurch sie sich in der Wiener Küche verewigten).

Viele Zuwanderer arbeiteten in den Ziegeleien am Wienerberg und wurden „Ziegelbehm“ (-böhmen) genannt – ein Synonym für schlecht bezahlte Arbeit unter üblen Verhältnissen. Die unvorstellbar schlechten Arbeitsbedingungen in diesen Betrieben beschrieb Victor Adler, der dort verdeckt ermittelt hatte, 1888 30 | route 1

Gedenktafel an tschechische sozialdemokratische Organisationen

in seiner berühmten Sozialreportage „Die Lage der Ziegelarbeiter“ (In: Die Gleichheit, 1.12.1888). Mehr dazu erfahren Sie auf 3 Seite 66 f.

Im tschechischsprachigen Proletariat hatte die Sozialdemokratie eine zahlreiche und verlässliche Anhängerschaft. Die Tschechoslowakische Sozialistische Partei wurde 1878 in Prag gegründet und verlegte ihr Hauptquartier 1881 nach Wien, wo bereits zahlreiche tschechische Arbeiter- und Kulturvereine bestanden, unter anderen der Schulverein Komensky, der noch heute in Wien eine tschechische Schule betreibt. Das Organ der tschechischen Sozialisten waren die Arbeiter-Blätter (Dělnické listy), die bis 1934 im Haus Margaretenplatz 7 hergestellt wurden.

1919 erhielten die Wiener tschechischen Sozialisten ein Mandat in der verfassunggebenden österreichischen Nationalversammlung, im Wiener Gemeinderat besetzten sie acht Mandate. 1921 wurde eine von der Prager Partei unabhängige Tschechoslowakische Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs gegründet. Als besonders engagierte Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand wurden die Wiener Tschechen und Slowaken von den Nazis besonders brutal verfolgt bzw. gezwungen, in das Protektorat Böhmen und die Slowakei rückzusiedeln. Dennoch besteht die Tschechische Sozialdemokratische Partei Österreichs (Česká socialňe demokratická strana rakousky) bis heute.

Die Nachkommen der Wiener tschechischen und slowakischen Familien sind in Wien nach wie vor präsent, wie ein Blick ins Telefonbuch beweist; fast alle Einwohner ostösterreichischer Herkunft, auch die Schreiberin dieser Zeilen, haben Verwandte in Böhmen, Mähren oder in der Slowakei. Die wenigen von ihnen, route 1 | 31

die noch Tschechisch bzw. Slowakisch sprechen, sind zum Teil in Kultur- und Sportvereinen organisiert (der vielleicht bekannteste ist der Sportverein Sokol mit Sitz in Favoriten, dem seinerzeit bevorzugten Wohnbezirk der Wiener Tschechen).

Im Nebenhaus, auf Margaretenplatz 6, gab es eine 3 Arbeiter-Bücherei und eine 3 Sozialdemokratische Kunststelle. Beide gehörten zu einem Netz von sozialdemokratischen InstitutioMargaretenhof nen, die dem Proletariat den Zugang zu Lektüre, Wissen und bürgerlichen Kulturinhalten erleichtern sollten (3 S. 15). Das hohe Gebäude mit den beiden Türmen, das den Margaretenplatz dominiert, ist der 3 Margaretenhof.

Diese Wohnhausanlage, 1884/85 von den bekannten Theaterarchitekten Fellner & Helmer errichtet, gruppiert auf sehr interessante Weise Mietshäuser mit Erkern, Balkons und Loggien an einer gekrümmt geführten Privatstraße mit Gärten und schafft so eine Illusion von Wohnen im Grünen inmitten einer dicht bebauten städtischen Gegend. Der 3 Brunnen auf dem Platz nimmt mit der Figur der heiligen Die hl. Margarete Margarete Bezug auf den Namen des besiegt den Drachen Bezirks; die Bleifigur wurde 1835 von Johann Nepomuk Schaller geschaffen.

Der Spaziergang führt jetzt weiter durch die Schloßgasse, die die Mittelachse des großen Schlossgartens war, bevor dieser Ende des 18. Jahrhunderts parzelliert und verbaut wurde. Auf Nr. 21 gibt es das Restaurant 3 Gergely’s (Tel. 01/544 07 67, Di–Sa 18–1, So, Mo, Fei geschlossen), aber ganz besonders empfehlenswert ist der 3 Silberwirt an derselben Adresse (Tel. 01/544 49 07, tägl.

12–24 Uhr, Garten). Das schöne Wiener Gasthaus ist in einem typischen Wiener Wohnhaus des Spätbarocks untergebracht und 32 | route 1

hat einen wunderbaren Gastgarten mit altem Baubestand. Vom Garten aus sieht man, dass die Wohnungen des Hauses von offenen Holzgängen aus erschlossen werden, den sogenannten Pawlatschen (pavlač = tschechisch für Söller, Balkon). Von der Pawlatschen gelangte man direkt in die Küche der Wohnung, dahinter lag das straßenseitige Zimmer. Toiletten und Wasserstellen (die sogenannten Bassenas, die als Treffpunkte der Bewohner fungierten) wurden gemeinschaftlich benutzt.

Auf 3 Schloßgasse 15 liegt ein weiteres gut erhaltenes Haus aus dieser Zeit. Nr. 14 ist das Geschäftshaus der Firma 3 Bothe und Ehrmann, einer alteingesessenen Möbelfirma, die vor allem um 1900 zahlreiche Entwürfe von Wiener Künstlern realisierte.

Entworfen wurde das prächtige Gebäude 1912/13 von Ernst Epstein, der eng mit Adolf Loos zusammenarbeitete.

Unweit von hier wurde im (vor kurzem abgerissenen) 4 Haus Castelligasse 1, wo sich damals das Gasthaus Hamberger befand, im Jahr 1894 der Verein jugendlicher Arbeiter gegründet (zur Jugendarbeit der Sozialdemokratie 3 S. 12).

Die nächste Gasse auf der rechten Seite trägt den Namen von Viktor Christ, einem Arbeiter der Wiener E-Werke, der bereits im Ständestaat wegen seines politischen Engagements verfolgt und von den Nazis 1941 ermordet wurde.

Die Einmündung der Schloßgasse in die Siebenbrunnengasse markiert das Ende des ehemaligen Margaretner Schlossgartens. Auf 3 Siebenbrunnengasse 1a stand bis zur Zerstörung durch die Nazis 1938 eine Synagoge. 3 Siebenbrunnengasse 10 ist ein Rest der Erstbebauung des Gebiets; das einfache zweigeschoßige Haus wurde um 1800 erbaut. Die niedrigen Häuser, die in den Wiener Vorstädten manchmal so markant aus der Baulinie vortreten, stammen aus der Zeit vor 1859, als mit der ersten Wiener Bauordnung die Straßenbreiten neu fixiert wurden.

Das Haus 3 Siebenbrunnengasse 21 wurde ab 1914 erbaut und beherbergte lange Zeit die traditionsreiche Strickwarenfabrik Altmann.

Die Figuren an der 1925 umgestalteten FassaFigur am Altmann-Haus, Siebenbrunnengasse route 1 | 33