Anzeiger 11/17

11 2017

anzeiger

Das Magazin für die österreichische Buchbranche

Der Erfolg der BUCH WIEN 17

Wir reden mit Siegerinnen

Die Krim gehört mir!

Ein runder Geburtstag, ein Publikumsrekord und viele literarische Highlights: Die Buchmesse entwickelt sich prächtig

Die Österreichische Buchpreisträgerin Eva Menasse und die Debütpreisträgerin Nava Ebrahimi im Gespräch

Sagt Ljudmila Ulitzkaja. Sie gilt als „Gewissen Russlands“ und erklärt im Interview, warum die Krim ihr gehört

EVA MENASSE

© juergen-bauer.com

Ö ST E R R E I C H I S C H E P O ST AG F I R M E N Z E I T U N G / G Z 02Z030877 M / 152. JA H RGA N G

ÖSTERREICHISCHER BUCHPREIS 2017

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Eva Menasse Tiere für Fortgeschrittene € 20,60 (A) ISBN 978-3-462-04791-2

www.kiwi-verlag.de

20.11.2017 8:51:21 Uhr

– Inhalt –

Persönlich

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Julius Peter Breitschopf Sein Kinder- und Jugendbuchverlag besteht seit 70 Jahren

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Paula Bolyos

Preisgekrönt: die Autorinnen Eva Menasse und Nava Ebrahimi

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RÜCKBLICK

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Das war die BUCH WIEN 17 Ein Nachbericht der fulminanten Wiener Buchmesse

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Kurz gesagt Vier Besucherinnen und Aussteller sagen uns ihre Meinung zur diesjährigen BUCH WIEN

Sie betreibt die feministische Buchhandlung ChickLit in Wien

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Susanne Sandler Der Buchhändlerin, Lehrerin und Antiquarin wird schnell langweilig

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Lily Wilmes & Peter Maria Schuster Das Verlegerpaar widmet sich der Physikgeschichte

Thema

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Selbstredend

8 Bei der BUCH WIEN 17 gab es einen neuen Rekord an Besucherzahlen

Essenziell Der Österreichische Buchpreis 2017 wurde verliehen. Was zeichnet Literaturpreise aus? Und was sagen die beiden Gewinnerinnen?

wissenswert Gutenberg-Galaxie Franz Kafka, Daniel Kehlmann und Bridget Jones schweben dieses Mal durch die Galaxie

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Kurzmeldungen Personalia Buchpreise Thomas Brezina bei Kuppitsch Die BESTEN SEITEN

14

Basteln, Nähen und Geschenke Neues aus dem Bereich Natur, Hobby und Kalender

28 Ljudmila Ulitzkaja spricht über

ihren Roman „Jakobsleiter“

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Kramers Kinderstube

Das Mysterium aus dem Automaten

klassiker

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Die gnädige Frau „Der Teufel nebenan“ von Gina Kaus

Standards marktdaten monatsbestseller Titelschutz Impressum

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F o t o s : c h r i o s t p h e r m a v r i c ( 3 ) , L CM F o t o R i c h a r d S c h u s t e r

Susanne Sandler lobt SchülerInnen, wenn sie im Unterricht heimlich lesen

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20.11.2017 9:24:19 Uhr

– Wissenswert –

PIONIER

POLARSTERN

Franz’ Fragmente. Seine Bücher sind ein Psychogramm ihrer Zeit und ihres Autors.

Der Name Kafka steht nicht nur als pars pro toto für surreale Erzählungen, sondern als Adjektiv auch im Duden („kafkaesk“). Wer schon einmal mit der österreichischen Bürokratie zu tun hatte, der weiß dieses Wort auch zu verwenden.

Aus der

PIN-UP

In 480 Seiten um die Welt. Alles andere als schelmenhaft. Daniel Kehlmann versetzt den mittelalterlichen Narren ins 17. Jahrhundert und erzählt vom Dreißigjährigen Krieg. Historisch nicht ganz korrekt, zeigt „Tyll“ (Rowohlt), wie viel sinnloses Gaukelspiel im Glaubenskrieg steckt und dass jedes Buch eine kleine Vermessung der Welt ist.

Gutenberg-

Tagebuch-Traummänner. Bridget Jones ist Mitte 30 und kann sich nicht entscheiden. Soll sie nun mit Marc Darcy eine Beziehung eingehen? Dabei flirtet sie doch so gern mit ihrem Chef Daniel Cleaver! Und dann spielen in der Verfilmung auch noch Colin Firth und Hugh Grant die beiden Lover. Die Qual der Wahl ist unbeschreiblich. Am besten die Bücher lesen und sich dann selbst einen Favoriten ausdenken!

PROSPEKT

Galaxie

Money makes the books go round. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ein Herz für die Buchwelt und an Geld nicht zu wenig. Mit der „Sharjah Publishing City“ eröffnete Ende Oktober in der Nähe von Dubai die größte Buch-Freihandelszone der Welt. Das 19.000 Quadratmeter große Areal soll künftig Standort für internationale Verlage und zollfreie Buchtransaktionen sein. Der Scheich verspricht „Buchmessen-Flair an 365 Tagen im Jahr“.

Lukas Schöppl

POWIDL

Literarischer Gefrierpunkt. Reinhold Messner wärmt in seinem neuesten Buch „Wild“ (S. Fischer) die Geschichte von Ernest Shackletons AntarktisExpedition auf. Der Stoff sollte für Gänsehaut sorgen, frösteln tut es einen tatsächlich nur wegen der gespreizten Dialoge. Die Luft am Gipfel der Literatur ist für Messner einfach zu dünn.

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20.11.2017 8:53:11 Uhr

– Essenziell – Österreichischer Buchpreis

Lesen, rühren, schütteln und

verleihen

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20.11.2017 9:03:42 Uhr

Der Österreichische Buchpreis 2017 ging an Eva Menasse.

Den Debütpreis erhielt Nava Ebrahimi.

Bei den Auszeichnungen geht’s ums Geschäft – aber nicht nur. Das zeigen auch die beiden Gewinnerinnen

S

Foto: andy wenzel/bka

chon wieder muss ich einen Schmäh von meinem Bruder klauen.“ Die sichtlich verblüffte Eva Menasse wählte in Wien die gleichen Worte, die Robert Menasse bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises in Frankfurt gesagt hatte: „Ich habe keine Dankesrede vorbereitet, denn ich schreibe schon lange nicht mehr für die Schublade.“ Für ihren Erzählband „Tiere für Fortgeschrittene“ (KiWi) erhielt sie an diesem Abend den mit 20.000 Euro dotierten Österreichischen Buchpreis (ÖBP). Während die Fotografen im Kasino am Schwarzenbergplatz ein Blitzlichtgewitter veranstalteten, lobte sie in ihren wenigen Dankesworten die Offenheit des Preises: „In Deutschland oder der Schweiz wären weder mein Buch noch Brigitta Falkners Buch nominiert gewesen.“ Und: „Ich bin stolz, gerade für einen Erzählband diese Auszeichnung erhalten zu haben.“ Immer noch verblüfft, ließ sich die frisch gekürte Preisträgerin von Halbbruder Robert – er war ebenfalls nominiert – umarmen und küssen, während die Band Mischwerk eine weitere Klezmer-Nummer anstimmte. ein junger preis Eva Menasse war an diesem Abend nicht die einzige Gewinnerin. „Ja!“, tönte es laut und schrill aus dem dunklen Zuschauerbereich im Palais, als Kulturminister Thomas Drozda den Namen „Nava Ebrahimi“ vorlas.

Nicht die Autorin selbst, ein Fan im Publikum hatte geschrien. Doch auch bei ihr war die Freude augenscheinlich groß, als sie die Urkunde und den Blumenstrauß unter Applaus entgegennahm und das Cover ihres Romans „Sechzehn Wörter“ (btb) an die Wand des Saals geworfen wurde.

Text: Elisabeth Schepe

Der Applaus bei der Verleihung galt den beiden Gewinnerinnen, aber auch allen anderen Nominierten. Am Foto: Brigitta Falkner, Preisträgerin Eva Menasse, ­Robert Menasse, Paulus Hochgatterer, Irene Diwiak, Kulturminister Thomas Drozda, Mascha Dabić, Debütpreisträgerin Nava Ebrahimi, HVB-Präsident Benedikt Föger und AK-Wien-Direktor Christoph Klein

Der ÖBP ist noch sehr jung. Er wurde 2016 unter Kulturminister a. D. Josef Ostermayer eingeführt. Bei der Premiere wurde mit Friederike Mayröcker eine Grande Dame der heimischen Literatur ausgezeichnet. Große Fußstapfen für künftige PreisträgerInnen. Neben ihr erhielt Friederike Gösweiner den Debütpreis. Wie auch vergangenes Jahr überreichte Ostermayers Nachfolger ­Thomas Drozda die Auszeichnungen. „Mit dem Buchpreis“, so Drozda, „prämieren wir das intellektuelle und literarische Leben in unserem Land und würdigen die österreichische Gegenwartsliteratur und all ihre Autorinnen und Autoren.“ Welchen Stellenwert haben der junge ÖBP und der Debütpreis wirklich in der Branche?

Literaturkritikerin Daniela Strigl meint: „Die Preise stecken noch in den Kinderschuhen, in Österreich haben sie bereits eine beachtliche Wirkung, jenseits der Landesgrenzen ist diese noch ausbaufähig.“ wer darf sich bewerben?

Anders als der Deutsche Buchpreis, der explizit den „besten deutschsprachigen Roman des Jahres“ auszeichnen will, ist der Österreichische genremäßig offen. Während Eva Menasse dieses Unikum bei der Verleihung lobte, erklärt der Literaturkritiker und Juror beim ÖBP Klaus Nüchtern die Öffnung zur Dramatik für problematisch: „Der Roman hat in der öffentlichen Wahrnehmung ein viel stärkeres Gewicht. Literaturkritiker sind keine Theaterkritiker. Ich halte es also für nahezu ausgeschlossen, dass ein Stück ausgezeichnet wird oder auch nur auf die Shortlist gelangt.“ Die Long- und Shortlist dominieren tatsächlich vor allem belletristische Werke. »

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20.11.2017 9:03:49 Uhr

– Essenziell – Österreichischer Buchpreis

„So ein Buch möchte ich einmal schreiben“ Die Trägerin des Österreichischen Buchpreises 2017, Eva Menasse, im Gespräch Fall missverstanden werden. Das ist am einfachsten, wenn man viele Floskeln benutzt. Der Österreicher ist da nicht so. Der schreit und flucht auch mehr.

Das war am Anfang in Deutschland relativ peinlich, weil ich sehr gern fluche.

Sie leben schon lange in Berlin. Was bedeutet denn der Österreichische Buchpreis für Sie? Menasse — Sehr viel, weil er meine österreichische Identität miteinbezieht.

Ich weiß manchmal gar nicht, ob man mich hier noch als österreichische Autorin wahrnimmt. Ich bin Österreicherin und weder kann noch will ich das aus meiner Sprache tilgen.

Sie bekommen viele Urteile aus dem Feuilleton – über Ihr Werk, wahrscheinlich auch über diese Auszeichnung. Lesen Sie die Kritiken?

Menasse — Ja, und ich merke: Man wird tendenziell eher empfindlicher.

Angenehm ist es nie, weil ein Buch oder überhaupt ein Kunstwerk immer ein Teil von einem selbst ist. Ich glaube trotzdem, dass ich relativ hart im Nehmen bin. Übrigens habe ich da auch biografisch Glück, weil ich so lange Journalistin war, Redakteure in meinen Texten herumgeschmiert und mir gesagt haben: So geht das nicht.

Sie haben einmal gesagt, dass die österreichische Stilistik ganz spezifisch ist …

Menasse — Die Österreicher sprechen kreativer. Das fällt mir jedes Mal auf, wenn ich hier bin und mit meinen Freunden im Kaffeehaus oder im Beisl sitze: die Art, wie formuliert wird, wie Schmäh geführt wird, wie man versucht, aus den Worten, aus den Sätzen, aus den Phrasen noch etwas anderes zu machen. Es gibt in Österreich eine gehobene Sprachkultur, die auch dazu führt, dass es vergleichsweise viele österreichische Autoren gibt.

Findet sich diese Sprachkultur auch in „Tiere für Fortgeschrittene“ wieder?

Menasse — In meiner Sprache ist das automatisch drin. Ich dreh’ viel mehr hin und her, ich schau’ genauer, was etwas eigentlich bedeutet. Ich bekomme immer wieder das Kompliment, dass ich besonders präzise schreibe – und das kommt genau daher. Mir fällt dieses floskelhafte Sprechen in Deutschland auf. Der Deutsche will nicht, dass man ihm zu nahe tritt, und auf keinen

Arbeiten Sie schon am nächsten Buch?

Menasse — Noch nicht. Ich möchte wieder einmal ein paar Monate lang lesen. Und zwar alles, was mich bisher umgehauen hat. Ein paar Lieblingsbücher kann man immer wieder lesen, weil man dann immer besser versteht, wie sie gemacht sind. Das ist sozusagen das Interesse des Mechanikers, der das Auto immer wieder neu auseinandernehmen will. Es gibt Bücher, bei denen man sich denkt: So ein Buch möchte ich einmal schreiben. Das ist mein Projekt.

Genaueres kann ich noch nicht sagen, aber es wird wieder ein Roman.

In dem Band „Tiere für Fortgeschrittene“ (KiWi) verbindet Menasse kuriose Tiermeldungen mit Erzählungen über Untiefen alltäglicher Beziehungen

F o t o s : c h r i s t o p h e r m av r i c

Eva Menasse und Nava Ebrahimi freuten sich sichtlich über die Auszeichnung. Der anzeiger traf beide auf der BUCH WIEN zum Interview

Das war eine sehr schöne Verleihung am Dienstag …

Eva Menasse — Wirklich? Ich habe nichts davon mitbekommen. Das ist wie bei einem runden Geburtstag, bei dem viel zu viele Gäste sind!

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„Ich fühle mich hier gleich ein bisschen heimischer“ Die Debütpreisträgerin Nava Ebrahimi über ihr Zuhause und ihren nächsten Roman Sie sind erst vor ein paar Jahren von Deutschland nach Graz gezogen. Was bedeutet Ihnen der Österreichische ­Debütpreis?

Nava Ebrahimi — Ich bin noch mal dankbarer für diesen Preis. Österreich ist ja meine neue Wahlheimat. Ich finde, dass das für die Offenheit der ­Branche, aber auch der Literatur insgesamt spricht. Ich hatte mir ehrlich gesagt nicht sehr große Chancen ausgerechnet. Ich freue mich besonders und fühle mich hier gleich ein bisschen heimischer.

Sie sind im Iran geboren, in Deutschland aufgewachsen, jetzt leben Sie in Österreich. Wo fühlen Sie sich zuhause?

Ebrahimi — Das habe ich ein bisschen aufgegeben, das Zuhausefühlen. Ich glaube, dass man Heimat sowieso nur rückblickend aus der Ferne erkennt.

Seit ich in Österreich lebe, wird mir klar, wie deutsch ich auf gewisse Weise bin.

Ich werde ja häufig damit konfrontiert, allein schon durch meine Aussprache.

In Deutschland wird man oft gefragt: Wo kommst du denn eigentlich her?

Wo kommen deine Eltern her? Aber in Österreich nicht. Der deutsche Akzent steht so im Vordergrund. Das ist ein markanter Unterschied.

Sie arbeiten schon an Ihrem nächsten Roman. Dieses Mal beschreiben Sie eine Männerbeziehung. Wird es wieder um beide Länder, Deutschland und Iran, gehen?

Nava Ebrahimi erzählt in „Sechzehn Wörter“ (btb) klischeefrei von einer Frau, die zwischen zwei Ländern, dem Iran und Deutschland, hin- und hergerissen ist

Ebrahimi — Ja. Die beiden werden aber nur mehr in die Nähe, nicht mehr in den Iran einreisen. Der Sehnsuchtsort und die Frage nach der Identität – diese Themen habe ich noch nicht abgefrühstückt.

Sie kommen aus dem Journalismus. War Literatur immer Ihr Ziel?

Ebrahimi — Ja. Ich wollte eigentlich immer schreiben. Aber ich habe mich am Anfang davor gescheut, auf dieses Pferd und keinen „echten“ Job, mit dem man zur Not auch Geld verdienen kann, zu setzen. Deswegen zuerst Journalismus. Ich habe unterschätzt, dass das Wichtigere im Journalismus eigentlich die Recherche ist. Das fand ich eigentlich immer eher lästig. „Sechzehn Wörter“ ist Ihr erster Roman.

Es gibt bereits einige Rezensionen. Lassen Sie die kalt?

Ebrahimi — Bis jetzt war ich in der glücklichen Lage, nur positive Rezensionen für meinen Roman bekommen zu haben. Das ist der Vorteil beim Debüt: Entweder man bespricht es gut, oder man lässt es eher unter den Tisch fallen. Es sei denn, jemand wurde ausgezeichnet. (lacht) Dann kann es schon sein, dass sich jemand provoziert fühlt, das zu verreißen.

Aber interessieren Sie die Rezensionen?

Ebrahimi — Ja, das war vielleicht etwas, worauf ich mich mit am meisten gefreut habe: zu lesen, wie andere dieses Buch lesen – ihre Interpretationen und Deutungen. Ich habe gedacht, vielleicht erfahre ich dann noch etwas über mich und über mein Schreiben. Eine Rezension hat mir zum Beispiel bewusster gemacht, welch große Rolle das Thema Scham in meinem Buch spielt.

Weniger offen ist der ÖBP in Richtung der deutschsprachigen Nachbarn: Er wird nur an österreichische oder seit mindestens drei Jahren in Österreich lebende AutorInnen vergeben. Wurden die beim Deutschen Buchpreis zu wenig berücksichtigt? „Im Gegenteil“, sagt HVB-Präsident Benedikt Föger. „Die österreichischen AutorInnen sind international überproportional erfolgreich.“ Das stimmt: 2005 erhielt Arno Geiger den DBP, heuer Robert Menasse, Franzobel war mit seinem Roman auf der Shortlist. Warum dann ein eigener Preis für Österreich? Föger: „Gerade deshalb wollte man auch in Österreich eine Würdigung schaffen, die das Augenmerk auf die Vielfalt und Besonderheit der österreichischen Literatur lenkt. Deshalb ist der ÖBP auch für alle literarischen Sparten offen.“ Noch ein österreichisches Unikum: der Debütpreis. Mit 10.000 Euro dotiert, wird er von der AK Wien gestiftet und zeichnet ausschließlich Erstlingswerke aus. Christoph Klein, studierter Germanist und AK-WienDirektor, schlug bei der Verleihung den Bogen zur Arbeiterkammer: „Zum gesetzlichen Auftrag der Arbeiterkammer gehört auch, unseren Mitgliedern Kunst und Kultur zugänglich zu machen. Dazu passt die Förderung angehender Schriftstellerinnen und Schriftsteller, damit sie leichter einen Fuß in den heimischen Büchermarkt setzen können und diesen bereichern, sehr gut.“ Heuer haben sich 25 Verlage mit 28 Erstlingstiteln beworben. Auf den ersten Blick klingt das nach nicht sehr viel. Sollte man mehr Verlage dazu motivieren, Debütwerke zu nominieren? Juror Klaus Nüchtern meint: „Ich kann versichern, dass in Österreich im Jahr keine dreißig Debüts erscheinen, die man wirklich lesen möchte. Man erwartet aber von Verlagen, dass sie junge Talente entdecken. Da sind natürlich auch viele Versuchsballone dabei.“ Die Jury hatte auch hier die Möglichkeit, selbst Bücher zu nominieren. „Das haben wir auch gemacht“, sagt Klaus Nüchtern. „Dass das eher ,bekannte Namen‘ betrifft als Debüts, ist freilich nicht zu leugnen.“ die entscheidung der jury In diesem Jahr musste sich die Jury aus Wiebke Porombka, Klaus Kastberger, Pe­tra Hartlieb, Klaus Nüchtern und Kristina Pfoser auf zwei Gewinnertitel einigen. Unter den Nominierten waren auch Brigitta Falkner mit „Strategien der Wirtsfindung“ (Matthes & Seitz), Olga Flor mit „Klartraum“ (Jung und Jung), Paulus Hochgatterer »

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– Essenziell – Xxxxxx xxxxxx xxxxxxxx

Preise des HVB Österreichischer Buchpreis Vergabe mit BKA und AK Dotierung: € 30.000,– Die AK stiftet dazu den Debütpreis; Dotierung: € 15.000,– Preisträgerinnen 2017: Eva Menasse für „Tiere für Fortgeschrittene“ (Kiepenheuer & Witsch) ; Debütpreis: Nava Ebrahimi für „Sechzehn Wörter“ (btb)

Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln Der Preis geht an einen Autor oder eine Autorin, deren oder dessen literarisches oder publizistisches Werk sich durch das Engagement für Toleranz einsetzt.

Dotierung: € 10.000,– Vergabe gemeinsam mit Fachverband Buch- und Medienwirtschaft der WKO Preisträgerin 2017: Elif Shafak Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur Der Preis zeichnet innovative Krimis mit Wien-Bezug aus, deren Qualität und literarischer Anspruch an Leo Perutz erinnern.

Vergabe gemeinsam mit der ­Kulturabteilung der Stadt Wien Dotierung: € 5.000,– Preisträgerin 2017: Alex Beer

Die Verleihung fand vor 300 geladenen Gästen im Kasino am Schwarzenbergplatz statt

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Dorothee Hartinger und Philipp Hauß führten als Moderatorenduo durch den Abend

Die Band Mischwerk begeisterte das Publikum mit ihren Einlagen

Die schönsten Bücher Österreichs Prämiert werden Bücher mit besonderer gestalterischer und herstellerischer Qualität.

Vergabe gemeinsam mit BKA Nächste Ausschreibung: Januar 2018

mit „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“ (Deuticke) und Robert ­Menasse mit „Die Hauptstadt“ (Suhrkamp).

In der Jury-Begründung für Eva Menasses „Tiere für Fortgeschrittene“ heißt es: „Mit dem Österreichischen Buchpreis 2017 wird ein Erzählband ausgezeichnet, der auf pointierte und stilistisch ausgefeilte Weise zeigt, dass auch in der kleinen Form die großen zwischenmenschlichen und gesellschaftspolitischen Themen verhandelt werden können.“ Die Autorin wird für ihre Präzision und ihre Fähigkeit, ihre Charaktere zu „sezieren“, gelobt. Über Nava Ebrahimis Romandebüt, das sich gegen Irene Diwiaks „Liebwies“ (Deuticke) und Mascha Dabić’ „Reibungsverluste“ (Edition Atelier) durchsetzte, ist zu lesen: „Ebendieser Tonfall und ihre Beobachtungsgabe sind es, die erhoffen lassen, dass Nava ­Ebrahimi mit ihren folgenden Büchern auch in Zukunft neue Horizonte erschließen wird.“ gesprächsstoff Die ausführlichen Begründungen sollen nicht zuletzt die Entscheidung der Jury transparent machen. Sie ist naturgemäß subjektiv und wird trotzdem gern diskutiert. Über kaum etwas lässt sich in den Feuilletons trefflicher streiten als über die Longlist, die Shortlist und den Gewinnertitel eines Buchpreises. Welcher Favorit fehlt? Wovon gibt es zu viel, wovon zu wenig unter den Nominierungen? Wiegt die politische Botschaft, das Thema oder die Stilistik schwerer? Sollen „sperrige“ Werke gegenüber denen, die ohnehin ihren fixen Platz auf den »

F o t o s : c h r i s t o p h e r m av r i c

Österreichischer Buchhandlungspreis Fünf heimische Buchhandlungen mit besonders überzeugenden Konzepten werden ausgezeichnet.

Vergabe mit BKA Dotierung insgesamt: € 50.000,– PreisträgerInnen 2017: Buchhandlung Alex, Linz; Hartliebs Bücher, Wien; Buchhandlung Leporello, Wien; Buchhandlung Plautz, Gleisdorf; Liber Wiederin, Innsbruck

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Bestsellerlisten haben, bevorzugt werden? Als Robert Menasse den Deutschen Buchpreis für „Die Hauptstadt“ verliehen bekam, schrieb Die Zeit „Durchaus zu Recht“ und streute dem Europa-Roman Rosen. Die FAZ hingegen urteilte harsch „Ihn hat es gerührt, uns geschüttelt“. Kritik geht aber auch differenzierter: Die österreichische Literaturkritikerin Daniela Strigl meint, angesprochen auf die Gewinnertitel des ÖBP: „Die Jury war wohl nach dem allerersten Buchpreis für Friederike Mayröcker nicht gewillt, einmal mehr ein ,schwieriges‘ Buch auszuzeichnen.

Immerhin: Die Shortlist war stark besetzt.

Und die Entscheidung für Eva Menasse ist eine für die angeblich allseits ungeliebte Gattung Erzählband. Und für eine kluge, unterhaltsame, wort- und weltgewandte Literatur.

Bei den Debüts bin ich von der herausragenden Qualität des gewiss lesenswerten Buches nicht so ganz überzeugt.“

Im Anschluss an die Verleihung ließen die Gäste den Abend im Kasino ausklingen

signal der branche Die Grundidee von Buchpreisen ist ökonomisch. Sie sollen dem Buchhandel, den

Verlagen und letztlich auch den AutorInnen dabei helfen, mehr Bücher zu verkaufen. Für Klaus Nüchtern ist hier auch „ein Schuss Skepsis“ angebracht: „Einerseits wegen der oft bekrittelten Fokussierung auf wenige Titel und dem, was in der Soziologie der ,Matthäus-Effekt‘ genannt wird: Wer schon hat, dem wird gegeben. Andererseits nimmt auch der Stress zu: Je mehr Literaturpreise es gibt, umso mehr steigt der Druck, auch irgendeinen davon zu kriegen, will man in der aufmerksamkeitsökonomischen Konkurrenz bestehen.“ Die Aufmerksamkeit, die Buchpreise erzeugen, ist ihre große Stärke: Sie sorgt nicht nur für klingelnde Kassen. So ist eine Auszeichnung wie der Österreichische Buchpreis ein Signal einer Branche, die sich großen Herausforderungen zu stellen hat. Andererseits gibt er der Literatur mit all ihrer künstlerischen und gesellschaftlichen Bedeutung den öffentlichen Raum, der ihr gebührt. Nicht zuletzt freut er die Preisträgerinnen – vier Frauen bislang. «

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Herzlichen Dank für Ihre Gunst in diesem Jahr.

Wir freuen uns auf eine gemeinsame Fahrt im neuen Jahr 2018.

Wir wünschen allen Buchreportlesern besinnliche und erholsame Weihnachtstage.

FINIDR, s. r. o. | Lípová 1965 | 737 01 Český Těšín | Tschechische Republic Tel.: +420 558 772 264 oder +420 777 795 117 | E-mail: druckerei@finidr.de

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judmila Ulitzkaja wurde 1943 in Baschkirien (am Ural) geboren, wohin ihre Eltern vor der einmarschierenden Deutschen Wehrmacht evakuiert worden waren. Nach der Rückkehr in die Hauptstadt folgten Schulbesuch und Studium der Biologie an der Moskauer Staatsuniversität.

Ihren Job als Biogenetikerin in einem Institut der Akademie der Wissenschaften verlor sie wegen Lektüre und Verbreitung verbotener Samisdat-Literatur. „Danach habe ich dem Staat nie mehr gedient“, sagt die ­Grande Dame der russischen Literatur, die bis in die späten 1980er-Jahre als Rezensentin, Radioredakteurin und Mitarbeiterin eines jüdischen Musiktheaters arbeitete. Seit ihrem Debüt „Sonetschka“ (1992) erschienen mehr als zwanzig Bücher, die in viele Sprachen übersetzt und mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet wurden. Ljudmila Ulitzkaja gilt heute als Russlands Schriftstellerin Nr. eins.

Sie haben spät zu schreiben begonnen. Was war der Grund dafür? Sowjetische Zensur oder dergleichen?

Ljudmila Ulitzkaja — Nein, das hatte nichts damit zu tun. Ich war schon fünfzig, als ich zum ersten Mal publizierte. Mein erster Erzählband erschien erstaunlicherweise in Frankreich bei Gallimard und erst ein Jahr später, 1994, in Russland. Ich konnte mich einfach nicht entschließen, etwas zu veröffentlichen, obwohl ich mit Literatur im weiteren Sinn seit den 1980er-Jahren zu tun hatte. Damals schrieb ich Stücke und Drehbücher für Zeichentrickfilme. Meine einzige literarische Ausbildung war ein Schreibseminar für Zeichentrickfilmer, bei dem ich etwas Wichtiges lernte: mit seinen Mitteln sparsam umzugehen, kein Wort zu viel schreiben.

Sie haben mehrere Romane verfasst, sagten aber einmal, Ihre literarische Idealform sei die kurze Erzählung. War das Koketterie?

Ulitzkaja — Das war keine Koketterie! Mein Genre ist die Sprintdistanz. Ich gehe aus jeder großen Arbeit zwar glücklich, aber auch unendlich erschöpft heraus und sage mir jedes Mal „Nie wieder!“. Trotzdem habe ich fünf Romane geschrieben. Nach „Jakobs­ leiter“ versuchte ich, eine Kurzgeschichte zu ­schreiben, aber es gelang mir nicht. Die kurze Form hat mich wohl verlassen.

Wie arbeiten Sie konkret? Vom frühen Morgen an oder nachts? Manche Autoren entwickeln dabei die sonderbarsten Ticks …

Ulitzkaja — Wie Agatha Christie in der Badewanne liegen und Äpfel dabeihaben? Bei mir ist das anders. Ich bin absolut ­unorganisiert,

„Die Krim gehört mir!“ Sagt Ljudmila Ulitzkaja. „Denn das ist meine Kindheit.“ Dennoch hält das „Gewissen Russlands“ die Annexion für gesetzeswidrig.

Wir sprachen mit ihr über die Recherche zu ihrem Roman „Jakobsleiter“, über die Krim, die Ukraine und das Leben in Russland Interview: Erich Klein

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„Ich wusste, ein ganzer Kasten voller Skelette würde auf mich fallen. Und genau das ist ja auch passiert“ Ljudmila Ulitzkaja

Was waren die wichtigsten Erfahrungen dieser Familienerkundung für Sie? Ulitzkaja — Dass ich meinen Großvater kennenlernte, den ich ein einziges Mal gesehen hatte – als er aus dem Lager freikam und in die Verbannung fuhr. Das war 1954/55, ich war zehn oder elf. Ich habe bemerkt, welch großartiger, mutiger Mann mein Großvater war. Nachdem sich meine Großmutter, während er im Gefängnis saß, von ihm scheiden hatte lassen, wurde von ihm nicht mehr gesprochen. Ich habe auch erfahren, dass sich mein Vater damals ziemlich mies verhielt.

Der Vater distanziert sich von seinem Vater, dem „Volksfeind“, aus Opportunismus und ­Linientreue …

Ulitzkaja — Ja, das stimmt. Ich las das in den Vernehmungsprotokollen des KGB. Ich gestehe, ich konnte mir das bei meinem Vater leicht vorstellen: Er war gebildet, sehr lebensfroh und jemand, auf den man sich nicht ganz verlassen konnte. Es war keine große, aber eine sehr traurige Überraschung.

FOTO: Lukas Ilgner

mir ist jegliches Arbeitsregime fremd. Sobald ich einen Roman beginne, bin ich damit ununterbrochen beschäftigt. Ich träume davon, stehe nachts auf und schreibe weiter. Das ist keine Arbeit zwischen neun Uhr morgens und vier Uhr am Nachmittag, auch wenn es vielleicht schön wäre. Sie lässt dich keine Minute mehr los, du lebst mit ihr.

Für „Jakobsleiter“ unternahmen Sie auch ­Recherchearbeit im KGB-Archiv. Was war der eigentliche Auslöser für das Buch?

Ulitzkaja — Am Anfang stand der Briefwechsel meiner Großeltern, der 1911 einsetzte. Ich dachte, es sind hundert Jahre vergangen, ich muss das jetzt endlich lesen. Früher hatte ich immer Angst davor, weil die Beziehungen in meiner Familie sehr schwierig waren und ich wusste, ein ganzer Kasten voller Skelette würde auf mich fallen. Und genau das ist ja auch passiert.

Der klassische Goethe-Spruch „Was du ererbt von den Eltern, erwirb es, um es zu besitzen“ ist nach dem 20. Jahrhundert der Diktaturen nicht einfach anzuwenden …

Ulitzkaja — Als ich das Buch schrieb, haben mich derartige Überlegungen beschäftigt.

Außerdem bin ich der Ausbildung nach Genetikerin. So war mir immer klar, dass wir bestimmte Wesenszüge und Charaktereigenschaften von unseren Vorfahren übernehmen. Üblicherweise haben wir nicht mehr als drei Generationen in unserem Gedächtnis. Erst seit der Entdeckung der DNS wissen wir, dass eine riesige Menge von Menschen und deren Qualitäten in uns weiterwirken.

Ich fand also einerseits heraus, wie viel ich mit meinem Großvater gemeinsam habe, andererseits interessieren mich die Fragen aus meinem früheren Beruf noch immer.

Schließlich hat das Ganze auch für die Geschichte des Judentums, dem ich angehöre, einige Bedeutung.

Ihr sowjetisches Judentum nahm sehr viel früher eine ungewöhnliche Wendung. Sie ließen sich in den 1960er-Jahren in der Orthodoxen Kirche taufen.

Ulitzkaja — Das ist eine sehr persönliche Frage, über die ich nicht viel sagen möchte, außer: Es war für mich damals sehr wichtig.

Die Kirche wurde in diesen Jahren extrem verfolgt und stellte eine Art Widerstand dar.

Was daraus später wurde, darüber bin ich einigermaßen enttäuscht.

Die Hauptfigur in „Jakobsleiter“, der genannte Großvater, ist von Beruf Mathematiker mit einer großen Leidenschaft für Musik. Wie wichtig sind Ihnen Wissenschaftler – es kommen ja viele in Ihren Büchern vor?

Ulitzkaja — In der heutigen Welt, in der sich unser Wissen jedes Jahr um das Zehnfache vermehrt, ist Bildung außerordentlich wichtig. Der Großteil unserer Probleme – und das gilt nicht nur für Russland! – hängt mit dem traurigen Umstand zusammen, dass diejenigen, die unsere Staaten regieren, meist über äußerst geringe Bildung verfügen. Als ­Platon seinen idealen Staat konzipierte, wollte er Weise und Philosophen in der Regierung sehen. Das ist ein schreckliches Schema, das zum Glück nicht verwirklicht wurde – bis auf eine Ausnahme. Platons sogenannte „Wächter“ bekamen bei uns den Namen „Geheimpolizei“. Diese Art von Staatssicherheit gibt es überall: Leute, die den Staat vor Andersdenkenden bewachen, die wollen, dass alle so denken, wie sie glauben, dass es richtig sei. Sobald ein Staat auf solche Weise Denkverbote verhängt, kommt es zum Stillstand und zu rückläufigen Entwicklungen. Deshalb ist Bildung heute wichtiger als je zuvor.

Platon sah die Dichter in seinem Staat als Feinde an – haben Sie eigentlich nie Gedichte geschrieben?

Ulitzkaja — Viele – und ich tue es nach wie vor! Aber ich veröffentliche sie nur selten. Es gibt so viele gute Dichter, dass ich mit ihnen nicht konkurrieren kann. Ich würde mich ein wenig schämen. Gedichte sind meine private Angelegenheit. Außerdem lese ich in letzter Zeit fast nur Lyrik.

Vor Jahren sagten Sie in einem Interview, dass Sie keinerlei Interesse an Politik hätten.

Ulitzkaja — Ach, das stimmt so nicht. Ich habe unter sehr aktiven Dissidenten der ­Sowjetzeit gelebt und war mit diesen eng befreundet. Sie waren meist ein wenig älter als ich. Ich war das Mädchen, das in der Küche das Geschirr abgewaschen hat, im Zimmer saß der berühmte Julij Daniel. Ich war nicht aktiv, stand aber auch nicht abseits.

Mit dem Ende der Sowjetunion sah es aus, als würde in Russland Wirklichkeit, wofür die ­Dissidenten jahrelang gekämpft und gelitten hatten: Freiheit und Demokratie. Heute hat man den Eindruck nicht mehr.

Ulitzkaja — Die Dissidentenbewegung war sehr heterogen. Es gab zum Beispiel auch religiöse Dissidenten. Für mich als Genetikerin war es sehr schwierig, ein Buch über klassische Genetik zu bekommen. »

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– Selbstredend –

Historiker konnten über bestimmte Epochen nicht lesen, was sie lesen wollten; Literaturwissenschaftler durften Dostojewskis „Dämonen“ nicht lesen. Jeder wissenschaftliche Bereich hatte seine Verbotszone.

Die Leute, die sich wirklich mit Politik befassten, waren sehr wenige.

„Das Hauptproblem der Krim ist nicht, wer sie regiert, sondern das weniger werdende Wasser“

Sie waren eng mit der Dichterin Natalja Gorbanjewskaja befreundet, die 1968 als eine von acht Personen öffentlich auf dem Roten Platz gegen die Sowjetpanzer in Prag demonstrierte und dafür verhaftet wurde.

Ulitzkaja — Natascha ging mit Kind und Kinderwagen auf den Roten Platz. Ich hätte nicht einmal gewagt, mir so etwas auch nur vorzustellen. Als aber bei Sitzungen unseres Instituts verlangt wurde, diesen oder jenen zu „verurteilen“, machte ich nicht mehr mit.

Jeder hat auf diese Weise die Grenzen dessen, was ihm möglich oder unmöglich war, kennengelernt. Es ist wichtig zu wissen, wo die Angst aufhört und wo sie beginnt. Die Deutschen haben das im 20. Jahrhundert genauso erfahren wie die Russen. Die Frage ist: Wo liegen diese Grenzen heute?

Ljudmila Ulitzkaja

Sie haben sich in den letzten Jahren bei vielen öffentlichen Protestaktionen und sozialen ­Projekten engagiert; bisweilen werden Sie als „Gewissen der Nation“ bezeichnet …

Ulitzkaja — Wir haben in Russland eine sehr interessante Situation. Weil der Staat in Bereichen wie Medizin oder Bildung sehr schlecht arbeitet, gibt es eine Menge an ­zivilgesellschaftlichem Engagement. Ich unterstütze das. In Sowjetzeiten bestand zwischen Staat und Gesellschaft geradezu eine Chinesische Mauer. Wenn man im heutigen Russland etwas Gutes finden will, dann sind es diese Initiativen von Privaten. Hier ist in unserem Land etwas in Bewegung geraten.

Kürzlich fand der einhundertste Jahrestag der Oktoberrevolution statt. Das offizielle Russland und der Kreml hatten dazu kurioserweise nichts zu sagen.

Ulitzkaja — Sie haben ein großes Problem.

Als es zu Beginn der 1990er-Jahre möglich war, das Land grundlegend zu verändern, wurde diese Chance nicht wahrgenommen.

Politisch Belastete wurden aus ihren Ämtern nicht entfernt. Heute erfolgt eine Restauration der Sowjetmacht, ohne dass das so genannt würde. Es geht dabei um einen starken Staat, ein autoritäres Regime, den militärindustriellen Komplex, um das Spiel „Wir sind stärker, ihr seid schwächer“ oder „Wir sind eine Großmacht, ihr seid keine“.

Man folgt dabei antiquierten, geradezu

a­ rchaischen Vorstellungen, statt den Staat in die Weltgemeinschaft zu integrieren und zu reformieren. Dabei verlaufen gänzlich widersprüchliche Prozesse: Alle wissen, die Sowjetmacht ist untergegangen und es war kein Resultat irgendeiner Verschwörung von außen. Die heutige Staatsmacht ist absolut orientierungslos, was die Revolution vor hundert Jahren betrifft. Sollen sie den Oktober, wie es ein halbes Jahrhundert lang gemacht wurde, am 7. November feiern, oder soll man schwarze Fahnen als Zeichen der Trauer über das Ende der Sowjetmacht aushängen?

Die Idee des Stalinismus wird genauso wiedergeboren wie die der russischen Zarenherrschaft. Das Ganze hat zu unglaublicher Schizophrenie geführt: Neben dem heiligen Zaren Nikolaj findet sich der gute Genosse Stalin und was mit Lenin geschehen soll, der noch immer im Mausoleum liegt, weiß man auch nicht.

Es geht nicht nur um symbolische Geschichtspolitik. Vor drei Jahren wurde die Krim annektiert. Die Krim spielt in mehreren Ihrer Bücher eine wichtige Rolle, auch in der „Jakobsleiter“.

Ein Schlagwort im heutigen Russland lautet: Die Krim gehört uns. Wem gehört sie also?

Ulitzkaja — Das ist eine persönliche Frage.

Die Krim gehört mir! Das ist meine Kindheit, dort haben meine Großmütter gelebt. Mein Roman „Medea und ihre Kinder“ ist meine Liebeserklärung an die Krim. Ich kannte die Krim, als sie sowjetisch und als sie ukrainisch war. Seit der Annexion war ich nicht

mehr dort. Aber ich weiß, was die wichtigsten Probleme dort sind. Das Hauptproblem der Krim ist nicht, wer sie regiert, sondern das weniger werdende Wasser. Wird mit der Krim weiterhin so umgegangen wie unter den letzten und den vorletzten Machthabern, wird sie bald zur Wüste, in der es weder Obst noch Gemüse gibt. Dann stehen dort nur noch Hotels an der Küste. Es wird ausschauen wie in Scharm El-Scheich. Ich werde jene Regierung begrüßen, die sich tatsächlich um die Krim kümmert.

Was ist mit den Krimtataren, die von Stalin vertrieben wurden und in den 1990er-Jahren dorthin zurückkehrten?

Ulitzkaja — Mich haben auch die Krimtataren fürchterlich aufgeregt. Ich war die Erste, die seinerzeit vor Freude geweint hatte, als ich an einer Busstation erstmals wieder das Krimtatarische hörte, nachdem sie wieder in ihr Land zurückgekehrt waren. Ich dachte, das Land gehört ihnen. Sie wissen es zu schätzen und bringen alles – die Bewässerung und die Weinstöcke – wieder in Ordnung. Das letzte Mal war ich dort unmittelbar vor dem Krieg 2014 bei Freunden, die dort ein Haus am Meer haben. Nebenan gab es einen mittelalterlichen Brunnen.

Den hatten sie lange instandgehalten. Die Krimtataren jedoch füllten ihn einfach mit Steinen auf, betonierten darüber und bauten ein Haus darauf. Da habe ich das zweite Mal geweint. Aber ich möchte nicht missverstanden werden: Ich halte die Annexion der Krim für eine Gesetzwidrigkeit.

Im neuen Roman nicht weniger wichtig ist Kiew, aus dem ein Teil Ihrer Vorfahren stammt.

Wie ist Ihr Verhältnis zur Ukraine?

Ulitzkaja — Ich wurde in diesem Jahr erstmals ins Ukrainische übersetzt, was mich sehr freut, obwohl ein Großteil der Ukrainer Russisch liest. Aber ich möchte etwas anderes sagen: Mithilfe privater Sponsoren habe ich kürzlich einen russisch-ukrainischen Sprachführer herausgegeben. Dort finden sich einzelne Beiträge von Historikern beider Länder über Figuren der russischen und der ukrainischen Geschichte – von Wladimir dem Heiligen bis Stepan Bandera. Es stellte sich heraus, dass es unter den Historikern kaum Abweichungen in der Sicht der Dinge gibt. Die Streitigkeiten beginnen immer erst auf der Ebene der politischen Mythologie. Mir ging es dabei um die Einsicht, dass Kultur höher zu veranschlagen ist als Politik – auch wenn es eine Menge von Politikern gibt, die glauben, die Kultur gehöre ihnen.

Was ganz sicher nicht der Fall ist!

FOTO: Lukas Ilgner

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Kramers Kinderstube Irmgard Kramer Das beschränkt sich aber nicht nur auf russische Politiker …

Ulitzkaja — Politik ist in Wirklichkeit nur ein Teil der Kultur und nicht ihre höchste Ausformung. Man kann Kultur weder kontrollieren noch wirklich steuern. Es gibt in der Geschichte Phasen von unglaublichem musikalischem Reichtum: Plötzlich tauchen da zehn exzellente Komponisten auf, die vom Geheimnis der Welt erzählen. Oder es gibt eine ganze Plejade von Künstlern und Schriftstellern wie im Russland des 19. Jahrhunderts. Heute haben wir in Russland ein sehr interessantes Theater.

Derzeit sitzt allerdings der erfolgreiche Regisseur Kirill Serebrennikow aus zweifelhaften Gründen in Moskau in Untersuchungshaft.

Ulitzkaja — Ja, leider. Aber die Leute, die das heute organisieren, werden vergessen werden, die Künstler bleiben. Kultur ist das einzige Produkt, das die Menschheit hervorbringt, Technologie und Wissenschaft gehören auch dazu, alles andere, na ja …

Ist das jetzt optimistisch zu verstehen?

Ulitzkaja — Es ist ein wichtiges Thema, über das ich seit Langem nachdenke. Die Welt ist heute planetarisch verfasst – zugleich haben wir verschiedene Formen von Nationalismus. Zu welchen Konflikten es zwischen diesen beiden Tendenzen kommen wird, ist noch nicht ganz absehbar. Wissenschaft und Medizin jedenfalls haben heute planetarischen Charakter und stellen die Zukunft dar.

Bücher von Ljudmila Ulitzkaja „Medea und ihre Kinder“ (1996) – Familienpanorama der taurischen Griechin Medea Mendes und ihrer Geschwister; im Zentrum die Sommerfrische-Utopie Krim. „Ein glücklicher Zufall und andere Kindergeschichten“ (2005) – Moskauer Kindheit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg „Das Grüne Zelt“ (2011) – Roman dreier „dissidenter“ Freunde in der „vegetarischen“ Phase des Kommunismus, der mit Verrat und Emigration endet. sechs Generationen der russischen Familie Ossetzki, die vom Beginn des 20. Jahr­ hunderts bis in die Gegenwart reicht.

Alle erschienen im Carl Hanser Verlag

Es ist vermutlich kein Zufall, dass es eine Romanfigur der „Jakobsleiter“ in die USA verschlägt. Unter jungen russischen Intellektuellen ist Emigration ein Dauerthema.

Ulitzkaja — Die russische Wissenschaft war einmal groß: Biologen und Genetiker wie Nikolei Vavilov oder Nikolai Kolzow waren weltweit führend und wurden wie viele andere unter Stalin vernichtet. Wir hatten auch später großartige Personen – heute sind sie fast gänzlich in den Westen verschwunden.

Ich kann die jungen Menschen gut verstehen. Dort haben sie bessere Möglichkeiten, in ihren Gebieten zu arbeiten. Trotzdem tut es mir leid, dass so viele talentierte Menschen unser Land verlassen.

Sie selbst haben nie an Emigration gedacht?

Ulitzkaja — Das ist eine fast biologische Frage. Jedes Tier ist an den Ort gebunden, an dem es das Licht der Welt erblickt hat.

Ich bestehe gänzlich aus russischen Atomen und Molekülen. Das Wasser, das ich trinke, und die Nahrung, die ich mein ganzes Leben aufnehme, kommen von dort. Man sagt, der physische Bestand eines Menschen ändere sich alle sieben Jahre – ich habe aber keine sieben Jahre woanders gelebt. Das Russische ist meine einzige Sprache. Es gefällt mir nicht, was in Russland vor sich geht, und ich sehe auch keine Perspektiven.

Einige meiner Enkelkinder leben im Ausland – aber das betrifft nicht mich selbst.

Ich habe nur diese Kultur. Wohin sollte ich gehen? Eigentlich möchte ich mein Leben in Russland zu Ende leben. Das wird sich noch herausstellen – sollte das Schicksal anders entscheiden, dann fahre ich eben. Es wäre auch keine große Tragödie, ich kann auch in anderen Ländern leben, ich habe das schon ausprobiert.

Bleibt eine pathetische Frage zum Abschluss: Wofür kann man denn Russland lieben?

Ulitzkaja — Das ist eine Frage nach Qualität und Natur der Liebe. Wir lieben Menschen nicht nur, weil sie gut sind: Wir lieben sie, weil sie so sind, wie sie sind. Das Gesetz der Liebe bestimmen nicht wir selbst. Du hast dich verliebt, liebst und spürst eine unzertrennbare Verbindung. Auch wenn dein geliebter Mensch Alkoholiker ist, hörst du trotzdem nicht auf, ihn zu lieben; leidet er an Krebs, hilfst du ihm, weiterzuleben. Ich würde also sagen – das ist die falsche Frage. «

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Foto: darko tod orovic

„Jakobsleiter“ (2017) – Die Geschichte von

Wenn sich ein Land wie Russland allein auf seinen militärindustriellen Komplex verlässt, kommt mir das höchst rückständig, geradezu archaisch vor. Es ist eigentlich verrückt!

Jugendbuchautorin

#6854 Das Mysterium aus dem Automaten Ein Hashtag und eine Ziffernfolge auf einem kleinen, in Packpapier verschnürtem Paket. 6854 könnte eine Postleitzahl sein. Die von Hohenems zum Beispiel. In Hohenems leben Michael Köhlmeier und Monika Helfer in einem netten Häuschen und schreiben.

Nur ein Dorf weiter (PLZ 6840) verfasste Robert Schneider einen Bestseller, der in 36 Sprachen übersetzt wurde. „Brother of Sleep“ landete in Singapur in der Buchhandlung BooksActually.

Frisch, still und andächtig stehen sie hier, die Kafkas und Brontës, die Orwells, Rushdies und Murakamis. Eine Spezialausgabe zum 80.

Geburtstag von Mary Poppins. Vor dem Laden nebenan baumelt das Modell eines Doppeldeckers über einer türkis gestrichenen Tür. Über das Gemäuer watscheln Enten mit Hut – wohl die einzigen Graffiti in Singapur. Woods in the books.

Der Kinderbuchladen. Sorgfältig ausgewählte Bücher für Expats und ihren bildungsnahen Nachwuchs.

Und als wären diese beiden Läden nicht Freude genug, steht davor ein Buchautomat, gefüllt mit von Hand verpackten Mystery Books, die von Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus Singapur geschrieben wurden. Ich stecke meine Kreditkarte in den Automaten, wähle das Paket mit der Nummer #6845, weil mir die Illustration eines Sushi gefällt, und ziehe mir ein Buch. „For Assistance, or if a goblin comes out of the machine, please call +65 6222 9195.“ Ich werde es nie auspacken.

So bleibt das Mysterium erhalten.

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