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Trotz allem Europa

Ein Kommentar zum kurzen griechischen Sommer

Die widersprüchlichen Gefühle, die Aufstieg und Fall der Syriza-Regierung zwischen Januar und August diesen Jahres in der europäischen Linken erregten, hat vielleicht am besten der junge kroatische Philosoph Srećko Horvat beschrieben. Bei einer Podiumsdiskussion mit Yanis Varoufakis und Franco Berardi am 6. Oktober in der Berliner Volksbühne sagt er: „Als es begann, hat die internationale Linke masturbiert. Beim Referendum hätte sie fast einen Orgasmus gehabt. Als der Orgasmus ausblieb, haben sie Tsipras und Varoufakis beschuldigt. Ein typischer Fall davon, sich seiner eigenen Impotenz nicht zu stellen.“ Horvat bezieht sich damit auf jene Linken vornehmlich außerhalb Griechenlands, die bei Syrizas Amtsantritt Hoffnung und Euphorie verspürten und nun von Verrat und Betrug sprechen. Wie konnten die Gefühle eine so drastische Wendung nehmen? Seit der Nacht vom 12./13. Juli ist der griechische Sommer vorbei. Nach monatelangen Verhandlungen traf der Europäische Rat eine Vereinbarung 1 , die nicht bloß eine Fortsetzung der bisherigen Austeritätspolitik und eine Rückkehr der Troika vorsieht, mit der die SyrizaRegierung im Januar die Zusammenarbeit aufgekündigt hatte. Durch die Übertragung öffentlichen Eigentums an einen unabhängigen Privatisierungsfonds und die faktische Teilabschaffung der parlamentarischen Demokratie in Griechenland – „sämtliche Gesetzesentwürfe in relevanten Bereichen“ sind nun vor einer Debatte in Öffentlichkeit oder Parlament mit den Geldgeberinstitutionen abzustimmen – wurde der Kurs noch verschärft.

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1 „Erklärung des Euro-Gipfels“, 12. Juli 2015, http://www.consilium.europa.eu/de/ press/press-releases/2015/07/pdf/20150712-eurosummit-statement-greece/ (letzter Abruf 19.10.2015).

Obwohl von der Ablehnung neuer Sparauflagen durch die Bürger_innen Griechenlands im Referendum eine Woche zuvor bestärkt, hat die griechische Seite nur vernachlässigbare Teilerfolge erreicht. So wird etwa eine eventuelle Verlängerung von Rückzahlungsfristen für Kredite beim Europäischen Stabilitätsmechanismus erwähnt, was einem Schuldenschnitt im Kleinen entspräche.

Mit dieser Vereinbarung war das Scheitern der Syriza-Regierung besiegelt. Sie hat nicht vermocht, ein Ende oder eine Milderung der Austeritätspolitik herbeizuführen, die in Griechenland seit 2010 zu einem beispiellosen Schrumpfen der Wirtschaft, einer stetig wachsenden Schuldenlast relativ zur Wirtschaftsleistung und schweren sozialen Verwerfungen führte. Um ein Ausscheiden des Landes aus der Eurozone zu verhindern, akzeptierte Tsipras eine Vereinbarung, die von vielen Kommentatoren als „Diktat“ und auf Twitter als „Staatsstreich“ (#ThisIsACoup) bezeichnet wurde. Die beiden großen Ziele der Syriza-Regierung erwiesen sich damit als zusammen undurchführbar und also als widersprüchlich: Griechenland im Euro zu halten und eine Politik zu beenden, die ökonomisch unvernünftig und sozial ungerecht ist.

Dieser Widerspruch wird seit dem 12./13. Juli mit besonderer Deutlichkeit empfunden. Linke Parteien und Bewegungen wenden sich vom Euro und der Europäischen Union ab, entschiedener und einhelliger als je zuvor. Zunehmend buchstabieren sie Demokratie und sozialen Ausgleich wieder mit nationaler Souveränität. Dafür steht nicht nur die Syriza-Abspaltung Laiki Enotita (Volkseinheit), die wider aller Umfragen und trotz ihres Misserfolgs bei der griechischen Parlamentswahl im September das Referendum als Mandat für einen Grexit interpretiert. Dafür steht auch der linke britische Publizist Owen Jones, der im Vorfeld des dortigen Referendums über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union für einen „Lexit“ („left exit“) Großbritanniens plädiert 2 – wohlgemerkt in einem Land, in dem die EU-Mitgliedschaft als Mittel galt, um die marktradikale Agenda heimischer Politiker zu mildern. Würde er sich zwischen der Euro-Mitgliedschaft und nationaler Souveränität entscheiden müssen, würde er die nationale Souveränität wählen, sagt Jean-Luc Mélenchon von der französischen Linkspartei. 3 Und aus der deutschen Linkspartei heißt es von Sahra Wagenknecht, die Eurozone und

2 „The left must put Britain‘s EU withdrawal on the agenda“, The Guardian, 14. Juli 2015, http://www.theguardian.com/commentisfree/2015/jul/14/left-reject-eugreece-eurosceptic (letzter Abruf 19.10.2015).

3 „L’Europe allemande, ce n’est pas possible“, Journal du Dimanche, 23. August 2015, http://www.lejdd.fr/Politique/Melenchon-L-Europe-allemande-ce-n-estpas-possible-747811 (letzter Abruf 19.10.2015). die Europäische Union seien in ihrer gegenwärtigen Form das Ende jeder Demokratie 4 , und ihre Genossinnen Janine Wissler und Nicole Gohlke befürchten, dass linke Politik nur noch gegen die EU-Institutionen möglich ist. 5

Wenn die Syriza-Regierung überhaupt einen Erfolg hatte, so lässt sich der resignierte Tenor vieler dieser Reaktionen zusammenfassen, so Europa zur Kenntlichkeit entstellt zu haben. Ihr Scheitern habe gezeigt, dass demokratische und soziale Politik im Euro und in der Europäischen Union kaum noch möglich sind. Oft wird dabei auf eine Weise argumentiert, die in elaborierter und pointierter Form auch der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck 6 vorträgt: Ohne gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik führe die Wirtschafts- und Währungsunion in einen Unterbietungswettlauf, in dem sich ihre Mitglieder den jeweils schwächsten Standards anpassen müssen. Ohne die Möglichkeit, eine eigene Währung abzuwerten, könne man nur noch durch „interne Abwertung“ zu wettbewerbsfähigeren Ökonomien aufschließen, was auf das Senken von Löhnen und andere soziale Härten hinauslaufe. Um diese Wirtschaftsverfassung demokratischer Kontrolle zu entziehen, sei sie mit der Europäischen Union als Mehrebenenkonstrukt oberhalb der Mitgliedsstaaten konstituiert. Bei der Europäischen Föderation handle es sich darum um eine „Liberalisierungsmaschine“ im Dienste der „Freisetzung der kapitalistischen Ökonomie von demokratischer Marktverzerrung.“ 7 In dieser Perspektive scheint der Widerspruch, dem sich die Syriza-Regierung gegenübersah, an der gemeinsamen Währung und der in der Europäischen Union geteilten Souveränität festzumachen. Laiki Enotita und anderen wäre dann Recht zu geben: Syrizas Rede von sozialer Gerechtigkeit ist bloße Rhetorik, solange sie nicht dazu bereit ist, nötigenfalls aus dem Euro und der Europäischen Union auszutreten. 8

Obwohl ich Streeck in einigen Hinsichten zustimme, denke ich, dass andere Schlussfolgerungen zu ziehen

4 „Die Eurozone ist das Ende der Demokratie“, Tagesanzeiger, 11. September 2015, http://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/die-eurozone-ist-das-ende-der-demokratie/story/30508818 (letzter Abruf 19.10.2015).

5 „Die Grexit-Frage(n) stellen“, Neues Deutschland, 23. Juli 2015, http://www. neues-deutschland.de/artikel/978846.die-grexit-frage-n-stellen.html (letzter Abruf 19.10.2015).

6 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit: Die vertage Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 141ff.

7 Ebd., S. 151.

8 „The Programmatic Manifesto of Popular Unity“, September 2015, http://laikienotita.gr/component/k2/item/247-the-programmatic-manifesto-of-popular-unity (letzter Abruf 19.10.2015).

sind, wenn man das Scheitern der Syriza-Regierung als Episode im größeren Drama der europäischen Krisenpolitik verortet. In der Eurokrise seit 2010 haben die nationalen Regierungen das Heft des Handelns an sich gerissen und „Europa“ auf den Europäischen Rat und die Eurogruppe verkürzt. Instrumente zur Krisenbewältigung wie Fiskalpakt und Europäischer Stabilitätsmechanismus beruhen auf intergouvernementalen Vereinbarungen. Die supranationalen Institutionen der Europäischen Union wurden demgegenüber entweder zu Zaungästen degradiert, wie im Falle des Europäischen Parlaments, oder zu bloßen Vollzugsgehilfen der zwischenstaatlichen Vereinbarungen, wie im Falle von Kommission und Zentralbank, die man mit dem Internationalen Währungsfonds zur Troika formierte. Sie ist in keinem europäischen Vertrag vorgesehen und schuldet nur den Finanzminister_innen in der Eurogruppe Rechenschaft. Richtungsweisende Initiativen aus dem Europäischen Parlament ebenso wie Konzepte der Kommission zur Vergemeinschaftung von Schulden und Haftungen durch Eurobonds oder zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer wurden vom Europäischen Rat nachhaltig blockiert.

Die „Rettung“ des Euro ist also bisher weitgehend an der Europäischen Union vorbei von den Staats- und Regierungschefs und ihren Finanzministern besorgt worden. Die harten Bedingungen für Programmländer wie Griechenland gehen auf ihren Willen zurück. Sie sind mit der Mitgliedschaft im Euro und der Europäischen Union nur so lange verbunden, wie es die nationalen Regierungen mit jedem Programm neuerlich beschließen. Mit den Programmen wurden die Haftungen für Risiken nationalisiert, die in einem längst transnationalen Wirtschaften entstanden. Erst dadurch setzte die europäische Föderation den letzten, entscheidenden Schritt hin zu einem kompetitiven Föderalismus, wie ihn Streeck beschreibt. „Europa“ wird zu einem Wettbewerb exportorientierter Niedriglohnökonomien um Weltmarktanteile.

Dieser Wettbewerb ist nicht per se mit der Mitgliedschaft im Wirtschafts- und Währungsraum oder der Europäischen Union verbunden – wohl aber mit dem Regime intergouvernementaler Gremien. Dass sie sich gegen jede Form des gemeinsamen Haftens für gemeinsam erzeugte Risiken sperren, ist in ihrer Struktur geradezu angelegt. Weil in ihnen nicht die europäischen Bürger_innen, sondern die einzelnen Staaten vertreten sind, kommt es zu Beschlüssen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, zur eifersüchtigen Verteidigung der Fassaden von Souveränität, die nach der Globalisierung noch übrig sind, zu unsolidarischen Lösungen am Interesse der Gemeinschaft vorbei. Statt gemeinsam einer über Landesgrenzen hinweg integrierten und dadurch dem Zugriff nationaler Gesetzgebung zunehmend entzogenen Wirtschaft zu begegnen, werden im Europäischen Rat und in der Eurogruppe die Interessen einer Nation gegen die andere ausgespielt und damit einem Standortwettbewerb zum Nutzen von Konzernen und Investoren ausgeliefert, der mit den Programmen für Krisenstaaten nur in seiner sichtbarsten dramatischsten Form vollzogen wird. Das Tagen hinter verschlossenen Türen tut sein Übriges dazu, weil es dazu führt, dass sich keine einzelne Regierung für ihr Handeln verantworten muss. Der Intergouvernementalismus ist dasjenige Element der europäischen Architektur, das die Europäische Union zu einer Agentur des Marktradikalismus gemacht hat.

Die Syriza-Regierung ist insoweit nicht am Euro oder an der Europäischen Union gescheitert, sondern am Regime intergouvernementaler, klandestiner Absprachen. Ihr Scheitern zeigte, dass eine einzelne Regierung, noch dazu eines kleinen Landes, Europa nicht verändern kann. Im Besserwissen der Rückschau zeigt sich insoweit, dass die in Syriza investierten Hoffnungen frustriert werden mussten. Spricht man nun also von Verrat und Betrug, so kommt dies in der Tat einem Geständnis der eigenen Impotenz gleich. Solche Vorwürfe verkennen den paradoxen Charakter, den die europäische Integration mittlerweile angenommen hat: Weder kann ein Land seinen Interessen innerhalb der Europäischen Union Ausdruck verleihen, noch kann es das nach der Globalisierung außerhalb der Europäischen Union. Tsipras konnte sich nur für das Schlechtere entscheiden.

Langfristig wird demokratische und soziale Politik in Europa nur möglich sein, wenn die intergouvernementalen Elemente der Europäischen Union ausbalanciert werden durch Stärkung der supranationalen Ebene. Nur eine Stärkung der Vertretung der europäischen Bürger_innen über Landesgrenzen hinweg könnte einer kooperativeren, solidarischeren europäischen Integration den Weg bereiten. Nötig ist also nicht einfachhin mehr, sondern vor allem: ein anderes Europa. So wie die Vertiefung der Wirtschaftsund Währungsunion jüngst von der deutschen und französischen Regierung und im Fünf-Präsidenten-Bericht diskutiert wird, ist mehr desselben zu erwarten. Nötig wäre stattdessen eine Stärkung des Europäischen Parlaments, das die Grundlagen einer gemeinsamen Wirtschafts-, Steuerund Sozialpolitik nicht zwischen Staaten, sondern zwischen von Bürger_innen gewählten Parteien aushandelt. Von der Linken würde das statt einer Rückwendung zur Nation, ein erneuertes Bekenntnis zur Arbeit an einer transnationalen Demokratie erfordern.

| Miguel de la Riva

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